Prof. Dr. med. Andreas Reif, Frankfurt am Main
Psychische Erkrankungen, das wissen alle Leser der PPT, sind in der Altersgruppe von circa 20 bis 45 Jahre die prävalenteste Erkrankungsgruppe. Gerade in diesem Alter, in dem man Karriere macht, eine Familie gründet, wirken sich psychische Erkrankungen besonders stark auf langfristige Lebensqualität, Produktivität und Funktionsniveau aus; dennoch wird in so gut wie allen Volkswirtschaften dieser Welt im Verhältnis viel mehr für somatische Erkrankungen ausgegeben, sowohl im Hinblick auf Prävention als auch Therapie. Das Thema „psychische Gesundheit“ auf die Agenda politischer Akteure zu setzen, ist daher wichtig. Im Grundsatz ist es daher sehr erfreulich, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine umfangreiche Handreichung („Guidance“) veröffentlicht hat, die sich damit auseinandersetzt, wie Staaten ein umfassendes Programm etablieren können, um die psychische Gesundheit im Land zu verbessern. Das Kernmodul der Guidance, Modul 2, ist nachlesbar unter www.who.int/publications/i/item/9789240106819. Es lohnt sich, das auch zu tun, da das Dokument mutmaßlich widerspiegelt, wie sich die WHO die Vorbeugung und Behandlung psychischer Erkrankungen vorstellt.
Das Schlüsselmantra der Guidance ist bereits am Ende des Executive Summary genannt: “[The Guidance] also advocates a rights-based, person-centred, and recovery-oriented approach while addressing the social and structural determinants of mental health.” Zu Deutsch also ungefähr: „Die Handlungsempfehlung spricht sich für einen rechtebasierten, personenzentrierten und Recovery-orientierten Ansatz aus, der die sozialen und strukturellen Determinanten psychischer Gesundheit adressiert.“ (Übersetzung d. V.). Dem ersten Halbsatz ist zunächst nichts Schlechtes abzugewinnen – zumindest hierzulande sind Rechtebasierung, Personenzentrierung und Recovery-Orientierung Grundzüge jeglicher modernen Therapie, denen man auch sicher gern zustimmen wird. Das Problem liegt im zweiten Halbsatz und den daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen.
Die gesamte Handreichung ist nämlich von der Annahme getragen, dass psychische Erkrankungen in ihrer ganzen Breite überwiegend durch soziale und strukturelle Dinge verursacht werden. Bereits auf Seite 5 wird festgehalten, dass Forschung zu psychischen Erkrankungen zu sehr auf Neurowissenschaft, Genetik und Psychopharmakologie fokussiert ist bzw. war, und dass nur unzureichend Aufmerksamkeit auf nichtpharmakologischen, gemeindebasierten und Recovery-orientierten Interventionen, die auch soziale und strukturelle Determinanten adressieren, gelegen habe. Als Beleg hierfür werden angegeben: Curtis D. Analysis of 50,000 exome-sequenced UK Biobank subjects fails to identify genes influencing probability of developing a mood disorder resulting in psychiatric referral (J Affect Disord. 2021;281:216–9); Martin CL, et al. Identification of neuropsychiatric copy number variants in a health care system population (JAMA Psychiatry. 2020;77:1276–85); sowie ein Preprint auf arXiv, der thematisch nichts beiträgt, und ein Presseartikel aus WIRED, übertitelt: „Star neuroscientist Tom Insel leaves the Google-spawned verily for … a startup?“. Keines der Zitate belegt auch nur irgendwie die o. g. Aussage, und spätestens hier sollte man hellhörig werden und genauer hinschauen.
Wenn man das tut, wird man feststellen, dass die Guidance durchzogen ist von einer antipsychiatrischen Haltung, die zumindest ich schon lange für überkommen gehalten habe. Ohne auch nur ansatzweise balancierte wissenschaftliche Begründungen wird immer wieder darauf verwiesen, dass aktuelle Herangehensweisen „nur“ symptom- und diagnosebezogen seien (z. B. S. 87), und deshalb „rechtebasierte, personenzentrierte und Recovery-orientierte Ansätze“ zu kurz kämen; welche das genau sein sollen und auf welcher Evidenz diese erfolgen sollen, bleibt jedoch unklar. Es muss aber auch unklar bleiben, da sich die Autoren selbst gegen Kritik immunisieren: Indem aktuelle Studien der evidenzbasierten Medizin in toto als symptom- und diagnoseorientiert abgelehnt werden, können diese auch nicht dazu dienen, den Wert einer Intervention (nach Maßgabe der Autoren) zu beurteilen. Die Autoren machen ihre Haltung zur Verursachung psychischer Erkrankungen ganz klar: Das bio-psycho-soziale Modell wird abgelehnt (u. a. S. 31 der Guidance; unter Referenz auf einen narrativen Review eines einzelnen Autors aus dem Jahr 2013). Niemand wird abstreiten, dass psychosoziale Faktoren eine hohe Wichtigkeit in der Pathogenese psychischer Erkrankungen haben. Man wird jedoch der Komplexität psychischer Erkrankungen nicht gerecht, wenn man die biologischenKomponenten radikal ausblendet und ignoriert, wie es die Autoren tun. Selbst in der besten, gerechtesten aller Welten wird es psychische Erkrankungen geben; wir alle, die wir Patienten behandeln, wissen, dass es Menschen gibt, die auch in perfekten Verhältnissen krank geworden sind.
Wenn man nun annimmt, dass psychische Erkrankungen ganz überwiegend „sozial und strukturell“ (was immer Letzteres heißen mag) determiniert sind (siehe Seite 44 oder 86 des Dokuments), dann kommt man leicht zu der Überzeugung, dass soziale Maßnahmen das Mittel der Wahl sind und biologische Therapieverfahren wenig helfen. Diese Sichtweise dominiert denn auch die Handreichung; Patienten sollen natürlich „holistisch“ behandelt werden – das Wort kommt 21-mal in der Guidance vor, ohne dass klar wird, was das nun meinen mag. Empfohlen als Interventionen werden jedenfalls unter anderem Yoga, „positive affect therapy“, Leselerntrainings, und zu guter Letzt „cash transfer“ – Geldüberweisungen (S. 91). Dies mag alles als hilfreich empfunden werden, aber man möchte schon gern belastbare Studien dazu sehen.
Im Gegenzug, und aus der oben genannten Begründungslogik nachvollziehbar, werden biologisch orientierte Therapieverfahren allenfalls hinsichtlich ihrer Risiken, nicht aber bezüglich ihres erwiesenen Nutzens genannt. Besonders die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) geriet in den Fokus der Autoren; hierzu erschien bereits ein Schreiben von Cooper et al. in Lancet Psychiatry, auf das an dieser Stelle verwiesen sei und in dem sich diesbezüglich mit der Guidance auseinandergesetzt wird (/doi.org/10.1016/S2215-0366(25)00125-7). Aber nicht nur die EKT, auch die Pharmakotherapie steht auf der Abschussliste. Psychopharmakologie kommt in der Handreichung wenn, dann als potenziell gefährlich und schädlich vor, beginnend damit, dass Polypharmazie (ohne es näher zu definieren) als unvereinbar mit rechtebasierten, evidenzbasierten Ansätzen genannt wird (S. 12 der Guidance). Übereinstimmend damit kommt im Dokument in Bezug auf Psychopharmaka im Wesentlichen vor, wie man mit Absetzphänomenen umgehen soll und wie „Deprescribing“ gehandhabt werden soll; in Textblöcken wie beispielsweise auf Seite 86 oder im Kapitel 4.3, S. 93 ff. wird ganz überwiegend auf negative Folgen der Medikation eingegangen, positive Aussagen zur Wirksamkeit sucht man vergebens. Es wird so getan, als habe es die psychopharmakologische Revolution der 60er-Jahre nie gegeben – die ja ganz wesentlich zu der von den Autoren mehrfach gewünschten Deinstitutionalisierung beigetragen hat. Die Schlüsselaussage zitiere ich unübersetzt: “Psychotropic drugs are often believed to correct so-called brain abnormalities or biochemical imbalances, and their benefits are assumed to outweigh the risks. However, there is growing evidence they can cause long-term harm.” (S. 94). Vor allem der letzte Satz leitet alle Aussagen zur Psychopharmakotherapie der Handreichung.
Die zitierte Referenz für die obige Behauptung? Ein Artikel von J. Read mit dem Titel “The experiences of 585 people when they tried to withdraw from antipsychotic drugs” (Addictive Behaviors Reports. 2022;15). Wenn es sich unserer Leserschaft erschließt, wie das eine zum anderen passe, man möge es mich wissen lassen. Aber diese Referenz führt tief in das Literaturverzeichnis: Man hätte sich ja nun gewünscht, dass eine so hochrangige Veröffentlichung sich auf den besten Stand des Wissens bezieht – Metaanalysen der Kollegen Leucht oder Cipriani, beispielsweise, oder aktuelle hochrangige Leitlinien von APA, NICE oder AWMF. Aber Fehlanzeige. Was man stattdessen findet, ist eine vollkommen selektive und gebiaste Auswahl der Literatur, u. a. von J. Moncrieff und Apologeten. Die ganze Guidance blüht also auf dem Boden der Antipsychiatrie.
Man muss also leider festhalten, dass die gesamte Handreichung bestenfalls selektiv, schlimmstenfalls un- bis antiwissenschaftlich ist und die Evidenzbasis zur Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen in weiten Teilen ignoriert – und damit zumindest indirekt unseren Patienten schadet. Warum die WHO ein dermaßen unfundiertes und schlecht gemachtes Machwerk vorlegt, auch wenn es im Schafspelz der Personenzentrierung und Recovery-Orientierung daherkommt, vermag ich nicht zu sagen. Ob die Gesundheit der Welt einer Organisation anvertraut werden sollte, die sich so weit von wissenschaftlichen Grundlagen wegbewegt hat, allerdings auch nicht.
Psychopharmakotherapie 2025; 32(04):123-124