Wernicke-Enzephalopathie

Nutzen von hochdosiertem Thiamin ist fraglich


Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

Mit einem Kommentar des Autors
Die Ergebnisse einer zweiteiligen randomisierten Studie zeigten keinen eindeutigen Vorteil von hochdosiertem Thiamin gegenüber mittleren oder niedrigeren Thiamin-Dosen für die Behandlung und Vorbeugung von kognitiven und neurologischen Störungen im Rahmen einer Wernicke-Enzephalopathie.

Die Ursache des Wernicke-Korsakow-Syndroms (WKS) ist ein Thiamin-(Vitamin-B1-)Mangel. Mehr als 90 % der Fälle finden sich bei alkoholabhängigen Patienten. Beobachtungsstudien zeigten, dass die parenterale Verabreichung von Thiamin das WKS-bedingte Sterblichkeitsrate senkt. Es wurden allerdings nie randomisierte Studien durchgeführt, um die optimale Thiamin-Dosis in der Therapie des WKS zu ermitteln.

Studiendesign

Die Arbeitsgruppe führte zwei doppelblinde, randomisierte kontrollierte Studien durch, um die optimale Thiamin-Dosis zu ermitteln. Die erste Studie zur Prävention der Wernicke-Enzephalopathie (WE) wurde bei asymptomatischen, aber „gefährdeten“ Patienten mit Alkoholmissbrauch durchgeführt. Die zweite Studie erfolgte zur Behandlung der WE bei symptomatischen Patienten mit Alkoholmissbrauch. In den Studien wurden je drei parenterale Thiamin-Dosen verwendet, die im Verhältnis 1 : 1 : 1 zugeteilt wurden. Asymptomatische Risikopatienten (Studie 1; n = 393) erhielten entweder 100 mg Thiamin täglich, 100 mg dreimal täglich oder 300 mg dreimal täglich, jeweils für drei Tage. Symptomatische Patienten (Studie 2; n = 127) erhielten entweder 100 mg dreimal täglich, 300 mg dreimal täglich oder 500 mg dreimal täglich für fünf Tage.

Der primäre Endpunkt war die kognitive Funktion, die mithilfe mehrerer Skalen gemessen wurde:

  • Rowland Universal Dementia Assessment Scale
  • Zwei Cogstate-Subtests
  • Ein adaptierter Story Memory Recall Test.

In sekundären Analysen wurden Unterschiede im neurologischen Befund (z. B. Ataxie, okulomotorische Störungen und Verwirrtheit) bei der Nachuntersuchung erfasst.

Ergebnisse

Die Studie wurde zwischen 2014 und 2019 durchgeführt. Die Patienten waren im Mittel 44 Jahre alt und 60 % waren Männer. In der ersten Population hatten 18 % eine Ataxie und 9 % eine Augenmotilitätsstörung. In der symptomatischen Gruppe hatten 60 % eine Ataxie und 32 % Augenmotilitätsstörungen.

In beiden Studien wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den drei Dosisschemata gefunden. Dies betraf sowohl die Kognition wie die neurologischen Ausfälle.

Kommentar

Das Ergebnis der hier vorgestellten Studie ist erstaunlich, da die meisten Leitlinien hohe Dosierungen von Thiamin zur Prävention und Behandlung der Wernicke-Enzephalopathie empfehlen. Mögliche Erklärungen für einen fehlenden Einfluss der Dosis von Thiamin sind die relativ geringen Patientenzahlen in der symptomatischen Gruppe und die Tatsache, dass in der Studie nicht systematisch die übrigen B-Vitamine und Magnesium substituiert wurden. Ein weiteres Problem ist die relativ kurze Behandlungsdauer, die damit begründet wurde, dass es schwierig ist, Patienten mit Alkoholmissbrauch über einen längeren Zeitraum in einer Studie zu behalten. Die Leitlinien empfehlen, bei Patienten mit Wernicke-Enzephalopathie die Therapie mit Thiamin so lange fortzusetzen, bis die Symptome abgeklungen sind.

Quelle

Dingwall KM, et al. What is the optimum thiamine dose to treat or prevent Wernicke‘s encephalopathy or Wernicke-Korsakoff syndrome? Results of a randomized controlled trial. Alcohol Clin Exp Res 2022;46:1133–47.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(06):230-239