Neue Therapieoptionen bei bislang nicht behandelbaren neurologischen Erkrankungen


Prof. Dr. med. Heinz Reichmann, Dresden

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Eine hohe Anzahl neurologischer Erkrankungen beruht auf Störungen des Genoms. Daher war es Jahrhunderte nicht möglich, diesen Patienten zu helfen, weil Geninterventionen bis vor Kurzem zu gefährlich und nicht möglich waren. Nun hat sich bei einigen Erkrankungen durch die Fortschritte der Gentherapie ein neues Fenster zur Therapie aufgetan. Vorreiterrollen nehmen dabei schwere neurologische Erkrankungen wie die spinale Muskelatrophie und die Huntington-Krankheit ein. Beide Erkrankungen waren bisher lediglich mit geringem Erfolg symptomatisch therapierbar und das eigentliche Problem, nämlich der Gendefekt, konnte nicht behandelt werden. Vor 20 Jahren gab es bereits erste Ansätze zur Gentherapie, die allesamt kläglich gescheitert sind, sodass es geradezu faszinierend ist, dass immer mehr der grundliegenden Probleme der Gentherapie lösbar erscheinen. Dazu zählt, dass Vektoren ihr Ziel, nämlich das defekte Genom, erreichen müssen, dass die Vektoren nicht infektiös sind, und dass keine Nebenwirkungen wie die Entstehung von Tumorerkrankungen auftreten.

In einer bemerkenswerten Arbeit aus dem Team um Albert Ludolph aus Ulm wird eindrucksvoll und gut nachvollziehbar der Stand der Gentherapie der autosomal dominant vererbten neurodegenerativen Erkrankung Morbus Huntington aufgezeigt. Die Ursache dieser Erkrankung ist eine pathologische CAG-Basentriplett-Wiederholung im Huntingtin-Gen. Eine Vielzahl von Therapieansätzen wird für die Huntington-Krankheit von Ludolph et al. diskutiert und einprägsam vorgestellt. Es handelt sich dabei um die Antisense-Oligonukleotid-Therapie, den Einsatz von RNA-basierten Therapeutika (miRNA, siRNA, shRNA) sowie sogenannte Spleißmodulatoren. Die Grundidee dieser Therapieansätze ist, fehlerhafte Messenger-RNA-Transkripte zu zerstören oder die Transkription bereits auf DNA-Ebene zu hemmen, sodass ein fehlerhaftes Protein gar nicht erst entsteht. Ein solcher Therapieansatz ist immer dann erfolgreich, wenn mutierte Genome zu pathologischen Proteinen und einem loss of function führen. Neben dem Einblick in diese Therapieansätze beschreiben Ludolph et al. auch Genscheren, deren Ziel es ist, die fehlerhaften CAG-Tripletts aus dem Exon 1 herauszuschneiden, und sie berichten über erste klinische Studien am Menschen. Eine Vorreiterrolle auf diesem Sektor kommt dabei der englischen Arbeitsgruppe um Frau Professor Tabrizi zu. Ohne hier auf Details einzugehen, ist eine besondere Leistung dieses Überblicks darin zu sehen, dass man danach versteht, welche modernen gentherapeutischen Ansätze auch für viele andere neurologische Erkrankungen in Reichweite erscheinen.

Eine zweite schwere neurologische Erkrankung, die häufig schon im Kindesalter zum Tod führt, ist die spinale Muskelatrophie. Auch hier handelt es sich um eine vererbbare Erkrankung, die zu schwerer Muskelschwäche und Degeneration der Motoproteine aufgrund eines Mangels an funktionalem SMN-Protein führt. Bereits 2017 wurde der Wirkstoff Nusinersen zur Behandlung der SMA zugelassen, wobei hier ebenfalls der Ansatz der Antisense-Therapie umgesetzt werden konnte. Nusinersen wirkt als Spleißmodifikator der SMN2-Prä-mRNA und erlaubt damit eine Zunahme der Menge an intaktem SMN2-Protein. Diese Substanz muss intrathekal verabreicht werden, das heißt, die Kinder und Erwachsenen müssen sich einem doch invasiven Eingriff unterziehen lassen. Erstmals ist nun mit Risdiplam ein orales Therapeutikum gegen die Entstehung der spinalen Muskelatrophie vorhanden. Der neue Wirkstoff wird in der vorliegenden PPT-Ausgabe in zwei Arbeiten, nämlich von Frau Tetsch und von Muñoz Rosales et al. diskutiert. Risdiplam bindet an zwei kritischen Stellen der SMN2-prä-mRNA sowie am Exonic Splicing Enhancer 2. Die hier vorgestellten Zulassungsstudien zeigten eine Wirksamkeit von Risdiplam bei Patienten mit spinaler Muskelatrophie in einem Alter zwischen zwei Monaten und 25 Jahren. Risdiplam scheint insbesondere für Kinder relevant zu sein, weil es den Krankheitsverlauf merklich abbremst, wohingegen es im Erwachsenenalter zu keinen nennenswerten Verbesserungen, aber doch zu einer verlangsamten Minderung der Muskelkraft führt. Eine Head-to-Head-Studie zu dem bislang verwendeten Nusinersen gibt es nicht und man muss betonen, dass die Studien zu Risdiplam an deutlich schwerer Erkrankten durchgeführt wurden. Somit ist es auch noch schwer, für erwachsene Patienten eine klare Vorgabe zu machen, ob weiterhin die intrathekale Gabe von Nusinersen, was einen logistischen Aufwand und Invasivität bedingt, oder doch die orale Therapie mit Risdiplam empfohlen werden sollte.

Axel Steiger zeigt in einer sehr schönen Übersichtsarbeit die Vorteile des neuen Präparats Eszopiclon, das seit kurzem als Hypnotikum in Deutschland zugelassen ist, auf. Er weist darauf hin, dass Eszopiclon genauso wie Zopiclon zur Kurztherapie von Ein- und Durchschlafstörungen beim Erwachsenen geeignet und hoch effektiv ist. Der wesentliche Vorteil von Eszopiclon als Enantiomer von Zopiclon besteht aber darin, dass offensichtlich auch bei einer Behandlung von sechs Monaten keine Abhängigkeit oder Wirkverlust nachgewiesen werden konnte. Ähnliche Daten gibt es für keines der in Deutschland zugelassenen Hypnotika, sodass aus dieser Arbeit zu folgern ist, dass Eszopiclon für Patienten, die eine länger dauernde Hypnotika-Therapie benötigen, eine neue Option darstellen dürfte.

In einer interessanten Übersichtsarbeit von Rösche und Schade werden Erfahrungen aus Fallberichten und Beobachtungsstudien zu Brivaracetam beim Status epilepticus vorgestellt und kritisch gewürdigt. Im Schnitt berichten die Autoren über eine etwa 50%ige Durchbrechungsrate des Status epilepticus mittels Brivaracetam. Somit konnten sie keine Überlegenheit zu dem von vielen von uns verwendeten Levetiracetam herausarbeiten. Wichtig ist dabei, dass Rösche und Schade mit Recht darauf hinweisen, dass in den bisher vorliegenden Studien zu Brivaracetam eine im Vergleich zu Levetiracetam zu geringe Äquivalenzdosis eingesetzt wurde. Somit könnte es bei Verwendung höherer Dosen durchaus möglich sein, dass Brivaracetam doch dem Levetiracetam überlegen ist.

Abgerundet wird das Thema Epilepsie durch zwei Referate von Hans-Christoph Diener zum SANAD(Standard and new antiepileptic drug)-II-Studienprogramm. Es handelt sich dabei um Phase-IV-Studien zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität von Levetiracetam, Zonisamid oder Lamotrigin bei neu diagnostizierter fokaler Epilepsie sowie von Levetiracetam oder Valproinsäure bei neu diagnostizierter generalisierter oder nicht klassifizierbarer Epilepsie. Die von Diener kommentierten Arbeiten aus Großbritannien kommen zum Ergebnis, dass Lamotrigin als Erstlinientherapie für Patienten mit fokaler Epilepsie weiterhin beibehalten werden sollte und Valproinsäure als Erstlinientherapie bei generalisierter Epilepsie überlegen ist, mit der bekannten Einschränkung des Einsatzes bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter.

Abgeschlossen wird die aktuelle Ausgabe durch eine Übersicht von Schöttle et al., die nachweisen können, dass der Einsatz von Aripiprazol-Depot bei Patienten mit Schizophrenie Hospitalisierung reduziert und somit der oralen Anwendung von regulärem Aripiprazol überlegen ist.

Zusammenfassend liegt der besondere Reiz dieses Heftes darin, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, einen hervorragenden Einblick in neue gentherapeutische Ansätze bislang nichttherapierbarer neurologischer Erkrankungen gewinnen werden. Meine persönliche Hoffnung ist, dass dies als pars pro toto in Kürze zu werten sein wird und durch die erfolgreiche Anwendung dieser Therapieansätze bei der spinalen Muskelatrophie und der Huntington-Krankheit sich auch für andere neurologische Erkrankungen wie die Duchenne-Muskeldystrophie, die Ataxien, genetisch bedingten Parkinson- und Alzheimer-Erkrankungen und vielen weiteren neurologischen Erkrankungen neue Therapieoptionen eröffnen werden. Letzten Endes sollten dann auch hoffentlich Veränderungen des mitochondrialen Genoms therapierbar werden und somit seltene Erkrankungen wie das Kearn-Sayre-Syndrom und beispielsweise MELAS- und MERRF-Syndrom in den nächsten Jahren behandelbar werden.

Psychopharmakotherapie 2021; 28(05):185-186