Spinale Muskelatrophie

Erfahrungen zum Einsatz von Nusinersen bei Kindern und Erwachsenen


Susanne Pickl, Berlin

Die Therapie der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (5q-SMA) ist seit Mai 2017 mit dem Antisense-Oligonukleotid Nusinersen möglich. Aktuelle Daten und Erfahrungen aus der klinischen Praxis untermauern den hohen Stellenwert der Behandlung für alle Altersgruppen – vom Säugling bis zum Erwachsenen, berichteten Experten bei einer virtuellen Pressekonferenz. Die frühzeitige Gabe bei Kindern bietet die Chance für den bestmöglichen Therapieerfolg. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat Nusinersen daher kürzlich für präsymptomatische Patienten mit zwei SMN2-Genkopien einen „erheblichen“ Zusatznutzen bescheinigt.

Die spinale Muskelatrophie Typ 1, die schwerste Form der SMA, führt unbehandelt bei Kindern bis zum Alter von zwei Jahren häufig zum Tod oder die kleinen Patienten benötigen eine dauerhafte Beatmung. Typische klinische Zeichen bei Säuglingen können eine Muskelhypotonie, fehlende Kopfkontrolle oder bulbäre Dysfunktionen wie Schwierigkeiten beim Schlucken sein. Ursache der autosomal rezessiv vererbten Multisystemerkrankung ist eine Mutation im Survival-Motor-Neuron-1(SMN1)-Gen auf Chromosom 5q, durch die es zu einem Mangel an funktionsfähigem SMN-Protein kommt. Dies führt zum Absterben der Nervenzellen im Rückenmark, sodass fortschreitender Muskelschwund, Schwäche und Lähmungen die Folge sind. Ziel der Behandlung ist es, die Menge des SMN-Proteins zu erhöhen, um dem natürlichen Krankheitsverlauf entgegenzuwirken. Das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen (Spinraza®) ist ein spezifischer Spleißmodulator, der die natürliche Funktion des SMN2-Proteins verstärkt. Er wird intrathekal direkt in das Zentralnervensystem appliziert und kann dort seine Wirkung zielgerichtet entfalten. „Durch die intrathekale Verabreichung gelangt Nusinersen dorthin, wo es gebraucht wird – nämlich ins ZNS“, verdeutlichte Prof. Andreas Hahn, Neuropädiater am Universitätsklinikum Gießen. Das Medikament könne im Gegensatz zu anderen verfügbaren Therapien bei allen SMA-Typen eingesetzt werden – es bestehe keine Limitierung hinsichtlich der SMN2-Kopienzahl und auch keine Altersgrenze. Nach der Aufdosierung sind drei Injektionen pro Jahr erforderlich. Mittlerweile liegen Sicherheitsdaten zur Behandlungsdauer von 7,6 Jahren vor.

NURTURE-Studie: präsymptomatische Behandlung zeigt Erfolge

Für den optimalen Therapieerfolg sollte eine Nusinersen-Behandlung insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern so früh wie möglich begonnen werden, wie auch aktuelle Daten der NURTURE-Studie unterstreichen [2]. In der Studie wurden 25 Neugeborene mit genetisch gesicherter 5q-assoziierter SMA-Diagnose noch vor dem Auftreten erster Symptome mit Nusinersen therapiert.

Von den 25 Studienteilnehmern konnten zum Zeitpunkt der Auswertung nach median 3,8 Jahren alle frei sitzen und alle waren ohne permanente Beatmung, 88 % konnten sogar frei gehen [2].

Darüber hinaus wurden die bulbären Funktionen durch den präsymptomatischen Therapiebeginn langfristig aufrechterhalten: 92 % der Kinder waren weiterhin in der Lage zu schlucken und 84 % benötigten keine Ernährungssonde [3]. „Die NURTURE-Studie zeigt, wie wichtig die frühe Behandlung ist und wie gut die Erfolge sein können“, kommentierte Hahn die Daten. Eine frühzeitige Therapie könne eine altersgerechte Entwicklung ermöglichen. Die Ergebnisse hätten maßgeblich zur Aufnahme der SMA ins Neugeborenen-Screening beigetragen. Selbst bei Patienten mit vier SMN2-Kopien werde eine Behandlung empfohlen, da auch hier schwerere SMA-Formen auftreten können.

Erwachsene: Zufriedenheit steigt mit Behandlungsdauer

Auch erwachsene Patienten profitierten von der Therapie mit Nusinersen. So konnten in einer deutschlandweiten Beobachtungsstudie mit 151 5q-SMA-Patienten Verbesserungen in der Kopfkontrolle, der Armfunktion sowie der bulbären Funktion festgestellt werden [1]. Insgesamt verringerte sich der Schweregrad der Symptome bei einer medianen Behandlungsdauer von 6,1 Monaten um durchschnittlich 10 %. Ein Großteil der mittels TSQM-9 (Treatment satisfaction questionnaire for medication) befragten Patienten (89 %) war zufrieden mit der Symptomlinderung unter der Nusinersen-Therapie. Auch wenn fast zwei Drittel der Patienten die Anwendung als schwierig ansahen, überwogen für 93 % die Vorteile des Arzneimittels [1]. Dies zeigte sich auch in der Weiterempfehlungsrate: Der NPS (Net Promoter Score) stieg mit zunehmender Behandlungsdauer und erreichte nach zwei Jahren einen Wert bis +65. Dies sei ein bemerkenswert hoher Score, so Prof. Thomas Meyer, Neurologe an der Charité Berlin, da ein Wert oberhalb von 50 als „exzellent“ angesehen werde.

Quelle

Prof. Dr. Andreas Hahn, Gießen; Prof. Dr. Thomas Meyer, Berlin; Online-Pressegespräch „Zentral für das, was im Leben zählt: Nusinersen (Spinraza®) bei 5q-assoziierter spinaler Muskelatrophie“, 14. Juli 2021, veranstaltet von Biogen GmbH.

Literatur

1. Meyer T, et al. Treatment expectations and perception of therapy in adult patients with spinal muscular atrophy receiving nusinersen. Eur J Neurol 2021;28:2582–95. https://doi.org/10.1111/ene.14902.

2. Swoboda KJ, et al. Nusinersen effect in infants who initiate treatment in a presymptomatic stage of SMA: NURTURE results. Cure SMA Annual Conference 2020, 12.06.2020.

3. Swoboda KJ, et al. Preserved swallowing function in infants who initiated nusinersen treatment in the presymptomatic stage of SMA: results from the NURTURE study. Muscular Dystrophy Association Clinical and Scientific Conference 2021, 16.03.2021.

Psychopharmakotherapie 2021; 28(05):216-226