Natalizumab jetzt auch als subkutane Applikationsform

Hochaktive RRMS individualisierter behandeln


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Mit der Möglichkeit, Natalizumab auch als subkutane (s. c.) Injektion alle vier Wochen zu verabreichen, wird jetzt die Antikörpertherapie der hochaktiven schubförmig-remittierenden multiplen Sklerose (RRMS) um eine patientenfreundliche Option erweitert. Damit kann man die Therapie auf die individuellen Patientenbedürfnisse besser anpassen, ohne die Kontrolle der inflammatorischen Krankheitsaktivität als übergeordnetes klinisches Ziel aus den Augen zu verlieren. Es entfällt auch die Notwendigkeit, einen Infusionsplatz für die Therapie mit dem Alpha-4-Integrin-Antikörper vorzuhalten.

In der Vergangenheit wurde nach Ansicht von Prof. Sven Meuth, Düsseldorf, in der MS-Therapie der Begriff der individualisierten Therapie oft benutzt, ohne dass man wirklich die entsprechenden Therapieoptionen anbieten konnte. Die Marktzulassung der Infusionstherapie von Natalizumab (Tysabri®) sieht er als eine wichtige Weiterentwicklung der MS-Therapie. Aufgrund der hohen Wirksamkeit des Antikörpers konnten neue Therapieziele definiert werden, die heute auch in den Therapieempfehlungen von den Fachgesellschaften verankert sind. Dazu gehört die bestmögliche Freiheit von klinisch relevanter und messbarer Krankheitsaktivität (NEDA) als übergeordnetes Therapieziel bei MS. Darüber hinaus wurde für die Behandlung mit Natalizumab erstmals eine Verbesserung der neurologischen Behinderung, ermittelt mit dem EDSS (Expanded disability status score), bei einem relevanten Anteil der Behandelten gemessen und als Therapieziel definiert.

Die subkutane Darreichungsform wurde am 26. März 2021 durch die Europäische Kommission zur Therapie für erwachsene Patienten mit (hoch-)aktiver RRMS zugelassen. Die Option, den Alpha-4-Integrin-Antikörper auch zur subkutanen Applikation anbieten zu können, sieht der Neurologie als eine sinnvolle Weiterentwicklung.

Grundlage für die Zulassung waren die Ergebnisse der Vergleichsstudien DELIVER und REFINE. In der prospektiven, randomisierten verblindeten Phase-II-Studie REFINE wurde Natalizumab in verschiedenen Dosierungen, Intervallen und Verabreichungswegen (s. c. und i. v.) bei stabil auf Natalizumab eingestellten Patienten untersucht. Primärer Endpunkt war die kumulative Anzahl aktiver Läsionen, berechnet aus der Summe neuer Gadolinium-aufnehmender (Gd+) und neuer oder neuer sich vergrößernder T2-hypointenser Läsionen, zu Woche 60. Weitere Endpunkte waren u. a. die jährliche Schubrate zu Woche 60, Pharmakokinetik sowie Pharmakodynamik [3, 4]. Primärer Endpunkt der offenen, randomisierten Phase-I-Studie DELIVER war der Vergleich der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von 300 mg Natalizumab über acht Wochen nach der s. c.-, i. m.- oder i. v.-Verabreichung einer Einzeldosis. Sekundäre Endpunkte waren u. a. Sicherheit, Immunogenität und Wirksamkeit. Eingeschlossen waren Patienten ohne Natalizumab-Vorbehandlung [2].

Beide Studien zeigten unter Natalizumab 300 mg s. c. und i. v. alle vier Wochen eine vergleichbare Alpha-4-Integrin-Sättigung und eine vergleichbare Pharmakokinetik. Die jährliche Schubrate und die MRT-Parameter waren in beiden Studien vergleichbar, ebenso das Sicherheitsprofil. Es traten keine unerwarteten unerwünschten Ereignisse auf [2, 3].

300 mg subkutan alle vier Wochen

Die subkutane Gabe in der Dosierung von 300 mg (d. h. zwei Fertigspritzen auf zwei Injektionsstellen verteilt) erfolgt alle vier Wochen. Nach der ersten bis zur sechsten s. c.-Gabe wird eine Nachbeobachtung wegen möglicher allergischer Reaktionen von einer Stunde laut Fachinformation empfohlen, ab der siebten Injektion nach Ermessen des Arztes [1]. Der Wechsel von Natalizumab i. v. auf s. c. – und zurück, falls erwünscht – ist jederzeit möglich.

Die bisherigen praktischen Erfahrungen in einem Therapiezentrum verdeutlichen die Vorteile für den Arzt insbesondere in der Zeitersparnis gegenüber der Infusion. Die subkutane Gabe bedarf keiner besonderen Vorbereitungen. Auch kleinere Praxen können jetzt diese hochwirksame Therapiemöglichkeit anbieten. Insbesondere berufstätige Patienten schätzen die geringere zeitliche Therapiebelastung, vor allem bei längeren Anfahrtswegen.

Quelle

Prof. Dr. med. Sven Meuth, Düsseldorf, Dr. med. Boris Kallmann, Bamberg, Virtuelle Fachpressekonferenz „Evolution in der MS-Therapie: Stellenwert von Natalizumab heute“, 13. April 2021, veranstaltet von Biogen Deutschland, München.

Literatur

1. Fachinformation Tysabri® s. c.; Stand März 2021.

2. Plavina T, et al. A randomized trial evaluating various administration routes of natalizumab in multiple sclerosis. J Clin Pharmacol 2016;56:1254–62.

3. Trojano M, et al. A randomized study of natalizumab dosing regimens for relapsing–remitting multiple sclerosis. Mult Scler 2021;13524585211003020. doi: 10.1177/13524585211003020. Online ahead of print.

4. Trojano M, et al. A randomized study of natalizumab dosing regimens for relapsing–remitting multiple sclerosis. Mult Scler J 2021; doi: 10.1177/13524585211003020.

Psychopharmakotherapie 2021; 28(04):172-183