Cannabis – ein Sonderfall mit vielen Fragezeichen


Prof. Dr. Walter E. Müller, Worms/Frankfurt a. M.

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Der Zugang zum Arzneimittelmarkt wird in Deutschland durch die europäischen und die deutschen Zulassungsbehörden auf der Basis wissenschaftlicher Daten im Hinblick auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit streng evidenzbasiert reguliert, ein Prozess der zwar oft langwierig ist, aber ein Höchstmaß an Sicherheit garantiert.

Um eine Zulassung zur Erstattungsfähigkeit durch die gesetzlichen Krankenkassen zu erhalten, wird im zweiten Schritt überprüft, ob das neue Medikament einen Zusatznutzen im Vergleich zu vorhandenen Substanzen aufweist. Diese durch den G-BA (Gemeinsamen Bundesausschuss) getroffenen Entscheidungen sind im Bereich neuer Psychopharmaka häufig nicht unumstritten aufgrund der oft rein biostatistisch ausgerichteten Bewertung durch das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) und dem politischen Druck nach möglichst billigen Arzneimitteln in der Psychiatrie. Als Folge stehen viele innovative Psychopharmaka der letzten Jahre, die zum Teil weltweit zugelassen sind, für unsere Kassenpatienten nicht zur Verfügung, da die Hersteller sie nicht für den Preis der Billigstgenerika einführen konnten.

Es geht aber auch anders! Seit 2017 können nach einer Änderung des Betäubungsmittelgesetzes Cannabisblüten, Cannabisextrakte bzw. synthetische Cannabinoide vom Arzt unabhängig von der Grunderkrankung jedem Patienten individuell verordnet werden, ohne dass eine den obigen Kriterien entsprechende Arzneimittelzulassung vorliegt. Die Voraussetzung besteht laut Gesetz darin, dass eine schwere Erkrankung vorliegt und keine geeigneten Therapien zur Verfügung stehen oder solche „unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes ... nicht zur Anwendung kommen können“. Als Einschränkung wurde formuliert, dass „eine nicht ganz entfernte Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf schwerwiegende Symptome“ bestehen soll. Der Arzt muss somit in eigener Abwägung aller Pros und Contras über jede Verordnung individuell entscheiden. Es ist unerklärlich, dass die sonst in der Arzneimittelzulassung üblichen Verfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit und Verträglichkeit nicht angewendet wurden und man dem gesellschaftspolitischen und medialen Druck nachgegeben hat.

Ist diese Kritik wirklich berechtigt, steht es wirklich so schlecht um die Datenlage zur therapeutischen Anwendung von Cannabis? Da die meisten in der Presse und den Online-Portalen kolportierten möglichen Anwendungsbereiche im Bereich neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen liegen, haben wir Herausgeber der PPT uns entschlossen, das vorliegende Schwerpunktheft der PPT zu initiieren, in dem in diesen Bereichen spezialisierte Kolleginnen und Kollegen einen Überblick geben, welche Datenlage tatsächlich vorliegt. Das Heft konzentriert sich damit bewusst auf die mögliche Anwendung von Cannabis bzw. verschiedenen Cannabis-Zubereitungen als Arzneimittel, während der große und wichtige Bereich Cannabis als Suchtmittel in diesem Zusammenhang nicht abgehandelt wird.

Durch die Gesetzesänderung 2017 steht heute für den Arzt eine Vielzahl von möglichen Optionen für Cannabis-Verordnungen zur Verfügung. Einen Überblick gibt der Beitrag von Wurglics und Ude (Frankfurt, Darmstadt).

Dass Cannabis und die Cannabis-Inhaltsstoffe im Organismus und besonders im ZNS über einen Eingriff in das sogenannte „Endocannabinoid-System“ wirken, zeigt der Beitrag von Rohleder und Müller (Sydney, Frankfurt/M.). Da dieses System als Teil der Neurotransmission weite Bereiche unseres Organismus beeinflusst, wird erkennbar, warum Cannabis und Cannabinoide in so großer Breite therapeutisch interessante, aber auch ungewünschte Arzneimittelwirkungen haben können.

Der sicher schon am längsten für Cannabis etablierte Therapiebereich „chronische Schmerzen“ wird von Häuser und Petzke (Saarbrücken und Göttingen) referiert und im Hinblick auf die trotzdem weiterhin geringe Datenlage diskutiert. Im Bereich der Anwendung von Cannabis bei neurologischen Erkrankungen finden sich die beiden einzigen regelgerecht zugelassenen Cannabis-Arzneimittel: Sativex® zur Behandlung mittelschwerer bis schwerer Spastik bei multipler Sklerose (MS) und Epidyolex® zur Behandlung zweier seltener, häufig Pharmakotherapie-resistenter Epilepsieformen. Auch in einigen anderen Bereichen (z. B. Parkinson-Krankheit) gibt es interessante Hinweise auf eine therapeutische Wirksamkeit, aber keine kontrollierten Daten (Mainka und Buhmann, Berlin, Hamburg).

Die Datenlage zur Anwendung von Cannabis bzw. Cannabinoiden bei psychiatrischen Patienten wird ausführlich von Müller und Rohleder (Frankfurt/M., Sydney) referiert und zeigt auch für diesen Indikationsbereich viele interessante Ansätze, aber praktisch keine klaren Evidenzen, um eine Empfehlung bei bestimmten Erkrankungen oder Symptomen aussprechen zu können.

Was bleibt ist der Eindruck, dass die nicht auszuschließende therapeutische Wirkung im verantwortungsvoll ausgesuchten Einzelfall nicht ausreicht, die Tatsache einer Umgehung aller etablierten und bewährten Zulassungskriterien zu rechtfertigen. Darüber hinaus wird auch der jetzt relativ leichte Zugang zu Substanzen mit Abhängigkeits- und Suchtproblemen kritisiert, besonders auch im Hinblick auf möglichen Missbrauch durch Jugendliche als gut belegte Risikogruppe. Unverständlich bleibt auch, dass hier erhebliche Tagestherapiekosten von den gesetzlichen Kassen getragen werden.

Das Leitthema dieses Schwerpunkthefts bietet also zusammen mit der Weiterbildungsserie und den Rubriken in Zeiten des Home-Office stimulierenden Lesestoff!

Psychopharmakotherapie 2020; 27(03)