Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

Erhöhtes Risiko für spontane intrakranielle Blutungen


Dr. Barbara Ecker-Schlipf, Holzgerlingen

Die Anwendung von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und allgemein von Antidepressiva mit einer starken Hemmung der Serotonin-Wiederaufnahme geht mit einem leicht erhöhten Risiko für intrakranielle Blutungen einher, so das Ergebnis einer großen Kohortenstudie. Dies gilt insbesondere für die ersten 30 Tage der Einnahme und bei gleichzeitiger Gabe von oralen Antikoagulanzien.

In den industrialisierten Ländern gehören Antidepressiva zu den am meisten verordneten Arzneimitteln. Unter den verschiedenen antidepressiven Wirkstoffen haben die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gegenüber den älteren Antidepressiva wie den trizyklischen Substanzen (TCA) aufgrund ihrer besseren Verträglichkeit und Sicherheit bei vergleichbarer Effektivität in der Behandlung von Depressionen ein interessantes Profil. Allerding erhöhen SSRI das Risiko für Blutungen, vor allem im Gastrointestinaltrakt. Ursache dafür ist vermutlich die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin in Thrombozyten, wodurch das Potenzial für eine Plättchenaggregation und damit für eine Thrombusbildung verringert wird.

Ob SSRI auch das Risiko für intrakranielle Blutungen erhöhen, war bislang strittig.

Studienziel und -design

Ziel der vorliegenden Studie war es, das Risiko für intrakranielle Blutungen bei Anwendung von SSRI im Vergleich zu TCA bei Neuanwendern von Antidepressiva zu untersuchen, auch im Hinblick auf die relative Affinität des Antidepressivums zum Serotonintransporter. Weiterhin wurde untersucht, ob die gleichzeitige Gabe eines Blutgerinnungshemmers das Risiko beeinflusst.

Die retrospektive bevölkerungsgestützte Kohorten-Studie basierte auf den Daten von erwachsenen Patienten, denen zwischen Januar 1995 und Juni 2014 ein Antidepressivum neu verordnet wurde. Die Studienpopulation wurde aus 650 Allgemeinpraxen in Großbritannien rekrutiert, die dem United Kingdomʼs Clinical Practice Research Datalink, einer der größten Datenbanken weltweit, angeschlossen waren. Jedem Fall mit einer identifizierten ersten intrakraniellen Blutung wurden bis zu 30 Kontrollen zugeordnet, die dem Indexfall in Bezug auf Alter, Geschlecht, Kalenderdatum und Beobachtungsdauer entsprachen.

Verglichen wurden SSRI und TCA sowie starke und schwache Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.

Als Studienendpunkt war die Inzidenzrate von intrakraniellen Blutungen definiert.

Studienergebnis

Insgesamt setzte sich die Studienkohorte aus 1363990 Neuanwendern von Antidepressiva zusammen, darunter 777364 (56,7%) Neuanwender von SSRI, 534587 (39,2%) Neuanwender von TCA und 56039 (4,1%) Neuanwender von anderen Antidepressiva. Das mittlere Alter (±SD) bei Studieneintritt lag bei 47,9 (±18,5) Jahren; 63% der Probanden waren weiblich.

Während einer mittleren Beobachtungszeit von 5,8 (±4,6) Jahren wurde bei 3036 Patienten eine intrakranielle Blutung diagnostiziert, das entsprach einer Gesamtinzidenzrate von 3,8 (95%-Konfidenzintervall [KI] 3,7–3,9) pro 10000 Personen pro Jahr. Diese Fälle wurden mit 89702 Kontrollen gematcht.

Die Anwendung von SSRI war im Vergleich mit TCA mit einem etwas höheren Risiko für eine intrakranielle Blutung verknüpft (relatives Risiko [RR] 1,17; 95%-KI 1,02–1,35). In absoluten Zahlen: Pro 100000 Personen und Jahr war die Ereignisrate um 6,7 (95%-KI 0,2–13,2) erhöht. Dabei war das Blutungsrisiko innerhalb der ersten 30 Tage der Anwendung am höchsten (RR 1,44; 95%-KI 1,04–1,99).

Bei einer Klassifizierung nach der Stärke der Serotonin-Wiederaufnahmehemmung fielen starke Inhibitoren durch ein um 25% erhöhtes Risiko gegenüber schwachen Inhibitoren auf (RR 1,25; 95%-KI 1,01–1,54). Hierbei betrug der Unterschied in der Ereignisrate 9,5 (95%-KI –0,5 bis 19,6) pro 100000 Personen pro Jahr; wiederum war das Blutungsrisiko in den ersten 30 Tagen der Anwendung am höchsten (RR 1,68; 95%-KI 0,90–3,12).

Das gleiche Muster eines erhöhten Risikos wurde generell für alle Typen an intrakraniellen Blutungen unter einer laufenden Therapie mit SSRI und starken Serotonin-Wiederaufnahmehemmern beobachtet.

Bei Probanden, die mit Antikoagulanzien behandelt wurden, erhöhte die gleichzeitige Gabe von SSRI das Risiko um das Dreifache gegenüber TCA, allerdings erreichten die Resultate keine statistische Signifikanz (RR 1,73; 95%-KI 0,89–3,39). Außerdem gibt es Hinweise, dass SSRI kombiniert mit Thrombozytenfunktionshemmern das Blutungsrisiko weniger stark erhöhen als in Verbindung mit anderen Blutgerinnungshemmern.

Fazit der Studienautoren

Die Ergebnisse der großen bevölkerungsgestützten Kohorten-Studie, durchgeführt an Neuanwendern von Antidepressiva, belegen ein erhöhtes Risiko für intrakranielle Blutungen unter Gabe von SSRI und starken Inhibitoren der Serotonin-Wiederaufnahmehemmung im Vergleich zu TCA. Besondere Vorsicht ist dabei in den ersten 30 Tagen der Therapie geboten. Auch scheint der gleichzeitige Einsatz von Antikoagulanzien und SSRI das Blutungsrisiko zu erhöhen, wobei es möglicherweise Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen gerinnungshemmender Wirkstoffe gibt.

Quelle

Renoux C, et al. Association of selective serotonin reuptake inhibitors with the risk for spontaneous intracranial hemorrhage. JAMA Neurol 2017;74:173–80.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(03)