Verordnung von Neuro-Psychopharmaka


Anmerkungen zum Arzneiverordnungsreport 2016

Jürgen Fritze, Pulheim

Wegen methodischer Probleme auch des AVR 2016 als Quelle pharmakoepidemiologischer Daten rechtfertigen sich Analysen auf Wirkstoffebene jedenfalls bei den Antidementiva nicht mehr. Seit Jahren imponiert das Wachstum der Antidepressiva und Antikonvulsiva. Die Gründe für die über die Jahre recht stabile und erhebliche Variabilität insbesondere der Verordnung von Psychopharmaka zwischen den Bundesländern bleiben unklar und warten auf Detailanalysen der – öffentlich nicht zugänglichen – Rohdaten.
Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Antidementiva, Antiepileptika, Parkinsonmittel, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2017;24:119–21.

Vor Kurzem hat der federführende Herausgeber, Professor Laux, in diesem Journal bereits den Arzneiverordnungsreport (AVR) 2016 [4] rezensiert. Gegenstand dieses ergänzenden Beitrags soll in Fortsetzung langjähriger Tradition sein, auf Basis der dem AVR zugrunde liegenden Daten dem einzelnen Arzt zu ermöglichen, die Rationalität seines Verordnungsverhaltens gegenüber der Gesamtheit zu „benchmarken“. Wie zum AVR 2013 und AVR 2014 detailliert beschrieben [1, 2], verhindern seit 2013 bestehende methodische Probleme des AVR insbesondere auf Ebene der einzelnen Wirkstoffe und der Kosten sinnvolle weiterführende pharmakoepidemiologische Auswertungen der Daten zu den Neuro-Psychopharmaka. Wie seit 2008 werden zusätzlich die regionalen Daten der GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (www.gkv-gamsi.de) bezogen auf die regionale Zahl der GKV-Versicherten (KM6-Statistik; www.bmg.bund.de/themen/krankenversicherung/zahlen-und-fakten-zur-krankenversicherung/mitglieder-und-versicherte.html) als Benchmarking der Bundesländer herangezogen.

Verordnungsspektren

Die verordneten Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva haben erneut – um etwa 3% – zugenommen (Abb. 1) und sind damit seit 1990 mehr als 8fach gestiegen, wobei sich eine Sättigung allenfalls andeutet. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – angeführt von Citalopram – dominieren mit 44,4%, gefolgt von Trizyklika (18,5%), Venlafaxin (13,2%) und Mirtazapin (12,8%). Die Verordnungen von Lithium (Abb. 2) mit 21,5 Mio. DDD im Jahr 2015 steigen seit Jahren kaum und erreichen damit kaum 10% des Volumens, das entsprechend den Krankheitsprävalenzen nominal möglich wäre. Die Verordnung von Antipsychotika (Abb. 1) steigt seit etwa 2005 jährlich um zwischen 2% und 5%, vermutlich infolge von Indikationserweiterungen moderner Antipsychotika auf bipolare Störungen und Off-Label-Use. Die sogenannten atypischen Antipsychotika der 2. Generation machen 58% (und 81% der Umsätze) aus, darin führend Quetiapin mit über 17%. Die verordneten DDD der Antidementiva waren 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel (Ginkgo biloba) durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) eingebrochen und sind seither auf niedrigem Niveau wieder gestiegen – im Jahr 2015 um 1,8%.

Abb. 1. Verordnungen (DDD) von Psychopharmaka zulasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2016]

Abb. 2. Verordnungen (DDD) von Neuropsychopharmaka zulasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2016]

Die Entwöhnungsmittel Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen werden weiterhin kaum verordnet (Abb. 2); kaum 5% der geeigneten Zielgruppe dürften erreicht werden. Naltrexon und Nalmefen werden vom AVR nicht berichtet, weil sie nicht zu den 3000 meistverordneten Wirkstoffen gehören. Bei den Psychostimulanzien – hier mit 85% Methylphenidat dominant – ist seit 2008 ein Sättigungseffekt zu verzeichnen (Abb. 2). Das Wachstum der Antikonvulsiva (hier auch als Mood-Stabilizer) hat sich 2015 fortgesetzt; angeführt von Pregabalin (22%), Levetiracetam (19,5%), Valproinsäure (14,3%), Gabapentin (11,6%) und Carbamazepin (9,6%). Bei den Parkinsonmitteln (Abb. 2) führt Levodopa (mit Decarboxylasehemmer; 46,2%) gefolgt von Pramipexol (16%), Anticholinergika (9,7%), Ropinirol (7%), Entacapon (8,1%), Rasagilin (6,3%), Amantadin (6,2%) und Rotigotin (4,9%). Der Rückgang der Verordnung (DDD) von Tranquillanzien (Lorazepam führend mit 38%, gefolgt von Diazepam mit 23%) und Hypnotika (76% Zopiclon und Zolpidem) setzt sich fort (Abb. 1).

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Das Benchmarking der Bundesländer gibt Hinweise, inwieweit der gesetzliche Anspruch der gesetzlich Versicherten auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§70 SGB V) eingelöst wird. Obwohl die Datenbasis übereinstimmt, erlauben nur die Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) und nicht der AVR Vergleiche der Bundesländer. Diese berichten aber nur über die jeweils 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel, ansonsten nur aggregiert auf Ebene von Indikationsgruppen. Dabei wurde von 2014 auf 2015 von den Indikationsgruppen der „Roten Liste“ auf die amtliche ATC-Klassifikation umgestellt, wodurch ab 2015 nicht ohne weiteres mit den Vorjahren verglichen werden kann.

Das GAmSi berichtet nun unter anderem über Psychoanaleptika (N06: Antidepressiva, Psychostimulanzien, Nootropika, Antidementiva) und Psycholeptika (N05: Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika, Sedativa), hier zusammengefasst als Psychopharmaka. Danach gab es wie in den Vorjahren und trotz der Umstellung auch im Jahr 2015 ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern) mit den höchsten Verordnungsraten im Saarland (Abb. 3). Die Variabilität zwischen den Bundesländern (Variationskoeffizient [VK] 8,3% für die Tagesdosen je GKV-Versicherten) liegt seit Jahren in ähnlicher Größenordnung. Dahinter scheint keine generelle Affinität zur Arzneimittelverordnung zu stehen, denn die Verordnung aller Arzneimittel je Versicherten (VK=13,3%) zeigt eher ein Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle (Abb. 4), das mit dem Anteil der über 64-Jährigen zusammenzuhängen scheint. Dies gilt ähnlich für die Parkinsonmittel (Abb. 5; VK=17,6%). Auch die Variabilität der Antiepileptika (Abb. 6; VK =14,2%) ähnelt der Altersverteilung, wobei sich hier ein kausaler Zusammenhang nicht ohne weiteres aufdrängt.

Abb. 3. Verordnungen von Psychopharmaka (DDD je GKV-Versicherten) 2015 [GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystem, GAmSi]

Abb. 4. Verordnungen aller Pharmaka (DDD je GKV-Versicherten) 2015 [GAmSi]

Abb. 5. Verordnungen von Antiparkinsonmitteln (DDD je GKV-Versicherten) 2015 [GAmSi]

Abb.6. Verordnungen von Antiepileptika (DDD je GKV-Versicherten) 2015 [GAmSi]

Interessenkonflikterklärung

J. Fritze erhielt in den letzten zwei Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Lundbeck, Nestlé, Roche, St. Jude Medical, Sanvartis, Verband der privaten Krankenversicherung.

Literatur

1. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Daten und Kritik zum Arzneiverordnungsreport 2014. Psychopharmakotherapie 2015;22:250–2.

2. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2013. Psychopharmakotherapie 2014;21:153–66.

3. Laux G. Arzneiverordnungs-Report 2015. Psychopharmakotherapie 2016;23:7.

4. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2016. Berlin-Heidelberg: Springer-Verlag, 2016.


Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Prescribing patterns of psychotropic and neurotropic drugs in Germany

Methodological concerns question the justification to base pharmacoepidemiological analyses on the Drug Prescription Report 2016 at least for antidementia drugs. The medical rationale of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany is unclear and requires in-depth analyses of the raw data which are not available to the public.

Key words: psychotropic drugs, antidementia drugs, antiepileptics, Parkinson drugs, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2017; 24(03)