Psychopharmaka-Verordnungen: Daten und Kritik zum Arzneiverordnungsreport 2014*


Jürgen Fritze, Pulheim

Psychopharmakotherapie 2015;22: 250–2.

Es ist schade. Selbstverständlich enthält auch der Arzneiverordnungsreport (AVR) 2014 hochinteressante, sogar feinsinnige – beispielsweise zu den „ökonomischen Aspekten des deutschen Arzneimittelmarktes 2013“ – Beiträge. Das gilt aber leider nicht für die Beiträge zu den Neuro-Psychopharmaka. Hier werden seit Jahren weitgehend gleichlautende pharmakritische Positionen vorgetragen, die immer wieder neu zu kommentieren nicht lohnt (weshalb auf frühere „Ausgaben“ dieses Kommentars [1] verwiesen wird). Bedeutsam geblieben waren aber die pharmakoepidemiologischen Daten über die Verordnungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Zentrales Motiv dieses jährlichen Beitrags war, dem einzelnen Arzt zu ermöglichen, die Rationalität seines Verordnungsverhaltens gegenüber der Gesamtheit zu „benchmarken“. Das ist ein – bescheidener – Beitrag zur ansonsten bisher weitgehend fehlenden systematischen Qualitätssicherung der Pharmakotherapie in diesen Indikationsgebieten.

Jedoch: Wie zum AVR 2013 kommentiert, stoßen Auswertungen des AVR bezüglich der Neuro-Psychopharmaka auf methodische Probleme insbesondere auf Ebene der einzelnen Wirkstoffe und der Kostenanalysen. Mit dem AVR 2012 wurde auf Nettokosten (Bruttokosten abzüglich der gesetzlichen Hersteller- und Apothekenabschläge) umgestellt, was sich in Zeitreihen nicht ohne unzumutbaren Aufwand nachvollziehen lässt. Die durch Rabattverträge nach §130a Abs. 8 SGB V erzielten Einsparungen der GKV (2011: 1,6 Mrd. Euro, 2012: 2,4 Mrd. Euro, 2013: 2,9 Mrd. Euro) kann der AVR nicht wirkstoffbezogen berücksichtigen, da es sich um Betriebsgeheimnisse der einzelnen GKV handelt. Indem der AVR nur die 3000 verordnungsstärksten Fertigarzneimittel einbezieht, tauchen einzelne Wirkstoffe (hier interessierend z.B. Naltrexon, Fluvoxamin) im AVR überhaupt nicht auf. Die Beschränkung führt im Generikamarkt, der die Neuro-Psychopharmaka inzwischen dominiert, dazu, dass erhebliche und leider auch variable Anteile des Verordnungsvolumens eines Wirkstoffs in Daten des AVR nicht einbezogen werden. Bei den Antidementiva führt dies zu der unsinnigen Botschaft, die Verordnung des Cholinesterasehemmers Donepezil, gemessen in definierten Tagesdosen (DDD), sei um dramatische 519,5% gestiegen, während die Verordnung von Galantamin um 16,3% und von Rivastigmin um 10,1% gegenüber 2012 gesunken wären, obwohl die Verordnung (DDD) der Cholinesterasehemmer insgesamt um 5,6% gestiegen ist. Das ist offensichtlich Unsinn, was bereits vor einem Jahr [1] in der PPT angemerkt wurde. Nicht nur sollten derartige Artefakte explizit erklärt werden, sondern es stellt sich die Frage, warum der AVR, dem ja seit Jahren eine Vollerfassung aller Verordnungen von Fertigarzneimitteln zulasten der GKV zugrunde liegt, an der Beschränkung auf 3000 Fertigarzneimittel festhält, wenn dies zu sinnlosen Informationen führt. Von den etwa 35 Anbietern von Donepezil berücksichtigt der AVR nur vier, von den etwa 20 Anbietern von Galantamin bzw. Rivastigmin nur vier bzw. drei, sodass nur 74% der Verordnungen erfasst werden. Dabei dürften die von Jahr zu Jahr wechselnden Anbieter – abgesehen von diesen selbst – kaum jemanden interessieren; ihr Wechsel dürfte schlicht wechselnden Rabattverträgen zu verdanken sein.

Vor diesem Hintergrund wird jedenfalls in diesem Jahr darauf verzichtet, die Verordnungsepidemiologie der Neuro-Psychopharmaka hier detailliert zu rekapitulieren. In Kürze wird der AVR 2015 publiziert werden – es bleibt abzuwarten, wie sinnhaft seine Informationen für die Neuro-Psychopharmaka sein werden.

Verordnungsspektren

Die verordneten Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva haben von 2012 auf 2013 erneut – um 2,5% – zugenommen (Abb. 1). Warum die Verordnungen von Lithium seit Jahren zwischen nur 20 und 21 Millionen DDD pendeln und damit kaum 10% des entsprechend den Krankheitsprävalenzen nominal möglichen Volumens erreichen, bleibt erklärungsbedürftig. Die Verordnung von Neuroleptika steigt seit etwa 2005 jährlich um zwischen 2 und 5%, vermutlich infolge von Indikationserweiterungen moderner Antipsychotika auf bipolare Störungen und Off-Label-Use. Die verordneten DDD der Antidementiva sind – nach dem Einbruch 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nichtverschreibungspflichtiger Arzneimittel (Ginkgo biloba) durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) – im Jahr 2013 erneut gestiegen, und zwar um 2,7%. Die Entwöhnungsmittel Acamprosat und Naltrexon werden weiterhin kaum verordnet; Nalmefen (Selincro®) kann nach Einführung im Jahr 2014 noch keine Rolle spielen. Bei den Psychostimulanzien – hier mit 95% Methylphenidat dominant – ist seit 2008 ein Sättigungseffekt zu verzeichnen (Abb. 1). Das Wachstum der Antikonvulsiva (hier auch als Mood-Stabilizer) hat sich 2013 nicht fortgesetzt, ähnlich die Entwicklung der Parkinsonmittel (Abb. 1). Der Rückgang der Verordnung (DDD) von Tranquillanzien und Hypnotika setzt sich fort.

Abb. 1. Verordnungen (DDD) von Neuro-Psychopharmaka zulasten der GKV (Arzneiverordnungsreport 1995–2014)

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Die föderale Struktur Deutschlands bietet die Möglichkeit des Benchmarkings der Versorgung – hier mit Arzneimitteln – als quasi ideales Instrument der Qualitätskontrolle. Solches Benchmarking ist auch geboten, um zu prüfen, inwieweit der gesetzliche Anspruch der gesetzlich Versicherten auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§70 SGB V) eingelöst wird. Die dem AVR zugrunde liegenden Daten enthalten den regionalen Bezug, werden aber bisher vom AVR nicht in diesem Sinne genutzt. Regionalen Bezug (auf jede Kassenärztliche Vereinigung) bieten nur die auf derselben Datenbasis erstellten Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Diese berichten aber nur über die jeweils 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel, ansonsten nur aggregiert auf Ebene von Indikationsgruppen.

Das GAmSi gibt aggregierte Informationen zu „Psychopharmaka“ und fasst unter diesem Begriff wie der AVR Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillanzien, Phasenprophylaktika (z.B. Lithium) und Psychostimulanzien zusammen. Danach gab es wie in den Vorjahren auch im Jahr 2013 (kumuliert bis 12/2013) ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern) mit den höchsten Verordnungsraten in Bayern, Rheinland-Pfalz und im Saarland (Abb. 2). Die Variabilität zwischen den Bundesländern (Variationskoeffizient 7,8% für die Tagesdosen je GKV-Versicherten) liegt seit Jahren in ähnlicher Größenordnung. Dies gilt vergleichbar auch für die Bruttoumsätze (Euro) je Versicherten und ähnliche Befunde bei den Umsätzen für Parkinsonmittel sowie die Tagesdosen (und Umsätze) von Antiepileptika.

Abb. 2. Verordnungen von Psychopharmaka (DDD/GKV-Versicherten) nach Bundesländern (Stand 12/2013) [GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystem, GAmSi]

Zusammenfassung

Wegen methodischer Mängel des AVR als Quelle pharmakoepidemiologischer Daten rechtfertigen sich Analysen auf Wirkstoffebene jedenfalls bei den Antidementiva nicht mehr. Seine pharmakokritischen Bewertungen bleiben gleich und bedürfen deshalb keiner neuen Kommentierung. Die Gründe für die erhebliche Variabilität insbesondere der Verordnung von Psychopharmaka zwischen den Bundesländern bleiben unklar.

Interessenkonflikterklärung

J. Fritze erhielt in den letzten zwei Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Janssen, Lundbeck, Lilly, Novartis, Pfizer, Roche, St. Jude Medical, 3M, Sanvartis, Verband der privaten Krankenversicherung.

Literatur

1. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2013. Psychopharmakotherapie 2014;21:153–66.

*Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2014. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2014.

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Prescribing patterns of psychotropic drugs in Germany: Data and methodological issues concerning the Drug Prescription Report 2014

Methodological concerns question the justification to base pharmacoepidemiological analyses on the Drug Prescription Report 2014 at least for anti-dementia drugs. The arguments questioning the effectiveness of psychopharmacotherapy and the adequacy of the prescription patterns are repeated every year and thus do not deserve new commentation. The medical rationale of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany is unclear and needs in depth clarification.

Key words: psychopharmacotherapy, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2015; 22(05)