Kommentar zum Artikel „Sexuelle Funktionsstörungen unter antidepressiver Pharmakotherapie“ von Katharina Wenzel-Seifert et al., Psychopharmakotherapie 2015;22:205–10.


Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Sven Ulrich, Med.-wiss. Abt., Aristo Pharma GmbH, Wallenroder Straße 8–10, 13435 Berlin, E-Mail: sven.ulrich@aristo-pharma.de, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Ekkehard Haen, Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums, Universitätsstr. 84, 93053 Regensburg, E-Mail: Ekkehard.Haen@ klinik.uni-regensburg.de

Die Autoren haben nach umfangreicher Literaturrecherche und Diskussion möglicher mechanistischer Zusammenhänge eine Zusammenstellung der Inzidenz sexueller Funktionsstörungen unter Antidepressiva-Therapie erarbeitet. Aufgrund methodischer Schwierigkeiten wie beispielsweise sexueller Funktionsstörungen infolge anderer Ursachen (krankheitsbedingt, andere Medikamente) und einem großen Reporting-Bias bei Studien mit Spontanerfassung werden nur kontrollierte Studien berücksichtigt, die sexuelle Funktionsstörungen in Fragebögen systematisch abgefragt haben. Die Antidepressiva werden weiterhin drei Risikopotenzialen zugeordnet: kein erhöhtes Risiko gegenüber Placebo oder unbehandelten Patienten (kodifiziert mit „0“), signifikant erhöhtes Risiko (kodifiziert mit „2“) und ein mittleres Risikopotenzial (kodifiziert mit „1“), welches als „niedriger im Vergleich zu 2“ definiert ist. Für den in Deutschland vermarkteten, und damit für die PPT relevanten, irreversiblen Monoaminoxidase-(MAO-)A/B-Hemmer Tranylcypromin wird in Tabelle 3 eine Inzidenz von 20 bis 40% sexueller Funktionsstörungen angegeben und das Risikopotenzial mit „2“ kodifiziert. Dem ist zu widersprechen, da die zitierte Literatur nicht Tranylcypromin, sondern das pharmakologisch ähnliche Phenelzin betrifft. Auch andere Übersichten zur Thematik beziehen sich immer wieder auf die nur eine kontrollierte Vergleichsstudie von Phenelzin, Imipramin und Placebo [1]. Für Tranylcypromin existiert entsprechend den Kriterien der Autoren keine Studie zu sexuellen Funktionsstörungen. Abgesehen davon, dass die Übertragung der Ergebnisse von Phenelzin auf Tranylcypromin in Tabelle 3 kenntlich zu machen wäre, erscheint dies nicht möglich, obwohl auch Phenelzin ein irreversibler MAO-A/B-Hemmer ist. Schon die Diskussion zu Unterschieden der Körpergewichtszunahme durch Phenelzin und Tranylcypromin hat die großen Probleme der Verallgemeinerung von Studienergebnissen zu speziellen Fragestellungen innerhalb einer Arzneistoffgruppe gezeigt [2]. Im Unterschied zum Hydrazin-MAO-Hemmer Phenelzin hat das Amphetaminderivat Tranylcypromin beispielsweise aufgrund einer Noradrenalin-Rückaufnahmehemmung zusätzliche noradrenerge Effekte. Für Tranylcypromin hätten die Autoren also gemäß den eigenen Kriterien eine Inzidenz von „nb“ (nicht bestimmt) angeben müssen. Nicht nachvollziehbar ist, wie die Autoren für andere Wirkstoffe bei nicht bestimmter Inzidenz dann aber doch auf verschiedene Risikopotenziale kommen, sogar im gesamten Spektrum von „0“ bis „2“. Es sind also weitere Studien geringeren Evidenzgrades verwendet worden.

Welche Daten liegen nun aber für Tranylcypromin und sexuelle Funktionsstörungen vor, wenn es dafür keine auf höchstem Evidenzniveau gibt? Mehrere Studien – es lassen sich rund 25 kontrollierte Studien finden (insgesamt etwa 1600 Patienten inklusive etwa 750 mit Tranylcypromin) – beinhalten explizit neben der systematischen Abfrage von Nebenwirkungen ohne sexuelle Funktionsstörungen auch eine Spontanerfassung von Nebenwirkungen. Es ist aber davon auszugehen, dass alle Studien zumindest eine Spontanerfassung von Nebenwirkungen durchführten. Nur in einer Studie wurde auf diesem Wege ein Fall von Impotenz unter 51 Patienten (2%) gefunden [3]. Ein retrospektives „chart review“ unter Einschluss von 41 Patienten mit Tranylcypromin erhob nur klinisch auffälligere Nebenwirkungen, also für sexuelle Dysfunktionen vollständige Anorgasmie oder vollständige Impotenz, und fand ebenfalls eine Inzidenz von 2%. Interessant ist das Ergebnis für 141 gleichzeitig untersuchte Patienten mit Phenelzin. Die Inzidenz war nämlich mit 22% gegenüber Tranylcypromin viel höher, was die Zweifel an einer Übertragbarkeit der Phenelzin-Daten als Gruppeneffekt bestärkt [4]. Andere Autoren bescheinigen Tranylcypromin aus therapeutischer Erfahrung ebenfalls eine gegenüber anderen MAO-Hemmern geringere Inzidenz sexueller Funktionsstörungen [5, 6]. Schließlich nimmt auch die WFSBP-Guideline Unipolare Depression eine Kodifizierung des Risikopotenzials von Nebenwirkungen für Antidepressiva vor, einschließlich sexueller Funktionsstörungen. Für Tranylcypromin erscheint der zweitniedrigste Score von „+“ (gering/mild) gegenüber „++“ (moderat) für Phenelzin und beispielsweise Citalopram und Venlafaxin. Für sexuelle Funktionsstörungen ordnet die Guideline keinem Antidepressivum das höchste Risikopotenzial von „+++“ (hoch/stark) zu [7].

Eine sorgfältige Bewertung von Tranylcypromin ist besonders wichtig, da es der einzige in Deutschland verfügbare irreversible MAO-A/B-Hemmer ist und dieser vor allem bei der schwer zu behandelnden therapieresistenten Depression verwendet wird. Sexuelle Funktionsstörungen kommen für Tranylcypromin vor, scheinen aber doch weniger häufig als für Phenelzin oder Citalopram aufzutreten. Gruppeneffekte können hilfreich zur Bewertung von Arzneimitteln sein, führen aber oft leider auch zu Fehlern, wenn klinisch-pharmakologische Detailfragen diskutiert werden.

Literatur

1. Harrison WM, Rabkin JG, Ehrhardt AA, Stewart JW, et al. Effects of antidepressant medication on sexual function: a controlled study. J Clin Psychopharmacol 1986;6:144–9.

2. Ulrich S. Kommentar zum Artikel „Psychopharmaka und Diabetes“ von Ress C, Tschoner A, Kaser S, Ebenbichler CF. MWW 2012;162:541–2.

3. Bartholomew AA. An evaluation of tranylcypromine (“Parnate”) in the treatment of depression. Med J Aust 1962;49:655–62.

4. Rabkin J, Quitkin F, McGrath P, Harrison W, et al. Adverse reactions to monoamine oxidase inhibitors. Part II. Treatment correlates and clinical management. J Clin Psychopharmacol 1985;5:2–9.

5. Cole JO, Bodkin JA. MAO inhibitors: An option worth trying in treatment-resistant cases. Curr Psychiat 2002;1:40–7.

6. Gillman PK. Advances pertaining to the pharmacology and interactions of irreversible nonselective monoamine oxidase inhibitors. J Clin Psychopharmacol 2011;31:66–74.

7. Bauer M, Pfennig A, Severus E, Whybrow PC, et al. World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) guidelines for biological treatment of unipolar depressive disorders, part 1: update 2013 on the acute and continuation treatment of unipolar depressive disorders. World J Biol Psychiat 2013;14:334–85.

Wir danken Herrn Dr. Ulrich für seine Stellungnahme. Seine Argumente sind sehr gut, widersprechen aber keineswegs unseren Argumenten in der sehr schönen und umfassenden Übersicht von Frau Dr. Wenzel-Seifert zu einem bislang praktisch nicht beachteten und auch nicht aufgearbeiteten und so detailliert zusammengestellten Arzneimittelrisiko einer sehr großen und wichtigen, weil häufig verordneten Arzneimittelgruppe. Ob man Gruppenphänomene innerhalb pharmakologisch ähnlicher Wirkstoffe übertragen darf oder nicht, ist immer wieder Gegenstand wichtiger Diskussionen, so auch hier zwischen Phenelzin und Tranylcypromin. Ob Tranylcypromin gedient ist, wenn das Risiko stattdessen mit „nb“ für „nicht bestimmt“ eingestuft wird, also offenbar wird, dass zu diesem Thema keine guten Studien durchgeführt wurden, ist ebenfalls zu diskutieren. Im Sinne der Patientensicherheit müssen wir immer vom größtmöglichen Risiko ausgehen, bis das Gegenteil bewiesen ist. Eine Einstufung als „nb“ bedeutet aber, dass ein geringeres Risiko, als aus dem Gruppenvergleich zwischen pharmakologisch ähnlichen Wirkstoffen abzuleiten ist, auch nicht bewiesen werden kann.

Psychopharmakotherapie 2015; 22(05)