Depressionen

Lebensfreude in therapeutische Überlegungen einbeziehen


Reimund Freye, Baden-Baden

Auf einem von Servier unterstützten Symposium auf dem DGPPN-Kongress 2014 in Berlin wurde die Bedeutung der Hedonie bei depressiven Menschen diskutiert. Mangelnde Lebensfreude, die Anhedonie, ist oftmals ein Residualsymptom bei gut behandelter Depression, welche nicht nur die Lebensqualität mindert, sondern auch negativer Prädiktor für eine vollständige Remission ist. In einem anderen Beitrag wurde dem Vorwurf der Wirkungslosigkeit von Psychopharmaka begegnet. Unter Einbeziehung zahlreicher Metaanalysen haben diese Substanzen vielmehr vergleichbare Effektstärken wie viele internistisch verwendete Arzneistoffe.

Neben der statistischen Signifikanz wird die Effektstärke als wichtig hinsichtlich der Wirksamkeit von therapeutischen Maßnahmen angesehen. Auf dieser Basis wird insbesondere den Psychopharmaka in internationalen Diskussionen gegenwärtig eine eklatante Wirkschwäche nachgesagt. Dies geht soweit, dass Peter Gotzsche, Mitbegründer der Cochrane Collaboration meinte: Die Patienten wären wohl besser dran, wenn alle Psychopharmaka vom Markt genommen würden; seiner Meinung nach generieren sie – auch aufgrund ihres unprofessionellen Einsatzes (durch die Ärzte) – mehr Schlechtes als Gutes.

Mittlere Effektstärken für Psychopharmaka

Basis dieser Einschätzungen sind die vermeintlich geringen Effektstärken der Psychopharmaka. Dokumentiert die Signifikanz eine statistisch nicht zufällige generelle Überlegenheit von Verum gegen Placebo (oder einen Komparator), so misst die Effektstärke die Größe dieser Differenz und sagt aus, wieviel mehr der Patient von der Einnahme der aktiven Substanz versus Placebo profitiert. Dabei ist die Effektstärke von 0,2 als gering anzusehen, von 0,5 als mittelstark und ab 0,8 als groß.

Immerhin konnte für Antipsychotika der zweiten Generation in der Akutbehandlung der Schizophrenie eine Effektstärke von 0,51 in einer Metaanalyse ermittelt werden [8]. Bei einer bipolaren Störung hatte Lithium hinsichtlich einer akuten manischen Episode einen Effekt von 0,4 [14]. Bei der schweren depressiven Episode (Major Depressive Disorder, MDD) errechnete sich in der akuten Phase für Paroxetin eine Überlegenheit von 0,31 auf der Grundlage der Symptombemessung auf der Hamilton-Skala (HAM-D) [2]. Bei den Zwangsstörungen ermittelte man für selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eine Effektstärke von 0,44 [13].

Vergleicht man dies mit Arzneimitteln aus anderen Facharztrichtungen, so bietet sich kein völlig anderes Bild. Antihypertensiva – deren sinnvollen Einsatz niemand infrage stellen würde – weisen für die Senkung des Blutdrucks eine Effektstärke von 0,55 auf [7]. Die Einnahme von HMG-CoA-Reductasehemmern, allgemein als probate Medikation zur Vermeidung von harten Endpunkten wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Tod angesehen, konnte – über fünf Jahre gegeben – die Anzahl der großen Gefäßereignisse um rund 4 Prozentpunkte senken (Placebo: 17,8, Verum 14,1%), die diesbezügliche Sterblichkeit jedoch nur um 1,2 Prozentpunkte; das entspricht einer standardisierten Mittelwertdifferenz von 0,15 bzw. 0,08 [1].

Psychopharmaka ähnlich wirksam wie Arzneistoffe gegen somatische Erkrankungen

Im direkten Vergleich zwischen Psychopharmaka und Arzneimitteln aus der Allgemeinmedizin, hier wurden insgesamt 139 Metaanalysen einbezogen, lagen beide Arzneimittelgruppen bezüglich der Effektstärke gleich auf [9]. Die Medikationen haben also auf zahlreichen Gebieten ihre Berechtigung. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch der natürliche Heilungsverlauf, der in differenten Erkrankungen verschieden hoch ausfällt. Dementsprechend darf bei einem hohen Placebo-Effekt mit einer geringeren Effektstärke der Arzneimittel gerechnet werden, weil dann die Differenz naturgemäß geringer ausfällt. Außerdem muss bei dem sorgfältigen Setting moderner Studien mit größeren Placebo-Effekten gerechnet werden, was zur Folge hat, dass für die gleichen Präparate die Effektstärken sinken, je aktueller die einbezogenen Studien sind.

Agomelatin ordnet sich bezüglich der Effektstärke in die Reihe der SSRI und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) nahtlos ein, sowohl was die Reduktion depressiver Symptome, die Response- und Remissionsraten als auch die Vermeidung von Rückfällen betrifft [15]. Es hatte aber im Vergleich zu den anderen Antidepressiva ein besseres Nebenwirkungsprofil.

Anhedonie: ein negativer Prognosefaktor

Bei Patienten mit MDD liegt auch nach Abklingen der maßgeblichen Symptome oft noch eine „emotionale Abstumpfung“ vor. Dabei scheinen sogar die positiven Gefühle wie (Lebens)Freude, Lust und Vergnügen durch die SSRI direkt in Mitleidenschaft gezogen zu werden, wie eine Studie nahelegt. Hierin wurden depressive Patienten, die mit SSRI behandelt wurden, mit jenen verglichen, die keine SSRI erhalten hatten. Gemäß LEIS(Laukes emotional intensity scale)-Score, der die Stärke von Emotionen misst, waren die mit SSRI behandelten Patienten deutlich defizienter in Bezug auf die Items „Sich kümmern um Gefühle anderer“, „Kreativität“, „Überraschung empfinden“ und „Ausdrücken von Gefühlen“ [12]. Ebenso konnte bei der Gabe von Antidepressiva, in diesem Fall Citalopram und Reboxetin, an gesunden Probanden gezeigt werden, dass ihre Interpretationsfähigkeit bestimmter Emotionen in Gesichtsausdrücken nachließ [6]. Ferner konnte in Bildgebungsstudien gezeigt werden, dass SSRI offenbar das „hedonistische“ Signal vermindern, und zwar im ventralen Striatum und im orbitofrontalen Kortex [11].

Dabei ist die frühe Wiederherstellung positiver Affekte in der Behandlung der MDD ein Prädiktor für eine Remission [4]. Somit ist die – möglichst kurzfristige – Steigerung positiver Affekte ein wünschenswerter Effekt von Antidepressiva. Agomelatin beeinflusst emotionale Wahrnehmungsprozesse bereits nach einer Woche Einnahme günstig. So konnten Gesichtsausdrücke, welche Glück, Ekel oder Überraschung darstellten, besser eingeordnet werden (versus Placebo). Bei Traurigkeit war dies nach einer Woche sogar schon signifikant [5]. Ferner normalisiert Agomelatin emotionale Funktionen besser als Escitalopram. Signifikant mehr Patienten (p=0,024) konnten sich während der Behandlung wieder für Dinge interessieren, die während der Akutphase nicht mehr wichtig waren [3].

Auf der Snaith-Hamilton Pleasure Scale (SHAPS), welche die Genussfähigkeit von Menschen misst, konnte Agomelatin versus Venlafaxin retard 75 bis 150 mg in einer kleinen Studie (n=60) nach acht Wochen signifikante Vorteile verzeichnen. Schließlich konnte gezeigt werden, dass unter Agomelatin die Anhedonie gemäß SHAPS früh im Krankheitsverlauf gebessert wird, was – wie gezeigt – einen Prädiktor für die Remission darstellt [10].

Eine kausale Erklärung bietet eventuell der 5-HT2C-Antagonismus von Agomelatin, welcher die Noradrenalin- und Dopamin-Freisetzung erhöht. Dies geschieht jedoch lediglich im frontalen Kortex, nicht im Nucleus accumbens, dem Belohnungssystem, was wichtig sein könnte, damit keine Suchteffekte mit entstehen können.

Quelle

Prof. Dr. Stefan Leucht, München, Prof. Dr. Göran Hajak, Bamberg; Satellitensymposium „Evidenzbasierte Therapie der Depression im Spannungsfeld zwischen Stratifizierung und Individualisierung“, veranstaltet von Servier Deutschland GmbH im Rahmen des DGPPN-Kongresses, Berlin, 27. November 2014.

Literatur

1. Baigent C, et al. Efficacy and safety of cholesterol-lowering treatment: prospective meta-analysis of data from 90,056 participants in 14 randomised trials of statins. Lancet 2005;366:1267–78.

2. Barbui C, et al. Effectiveness of paroxetine in the treatment of acute major depression in adults: a systematic re-examination of published and unpublished data from randomized trials. CMAJ 2008;178:296–305.

3. Corruble E, et al. Agomelatine versus escitalopram in major depressive disorders: a randomized double-blind, long term study focusing on sleep satisfaction and emotional blunting. Eur Psychiatry 2011;26 (Suppl 1):P02–24.

4. Geschwind N, et al. Early improvement in positive rather than negative emotion predicts remission from depression after pharmacotherapy. Eur Neuropharmacol 2011;21:241–7.

5. Harmer C, et al. Agomelatine facilitates positive versus negative affective processing in healthy volunteer models. J Psychopharmacol 2011;25:1159–67.

6. Harmer C, et al. Increased positive versus negative affective perception and memory in healthy volunteers following selective serotonin and norepinephrine reuptake inhibition. Am J Psychiatry 2004;161:1256–63.

7. Law M, et al. Headaches and the treatment of blood pressure: results from a meta-analysis of 94 randomized placebo-controlled trials with 24,000 participants. Circulation 2005;112:2301–6.

8. Leucht S, et al. How effective are second-generation antipsychotic drugs? A meta-analysis of placebo-controlled trials. Mol Psychiatry 2009;14:429–47.

9. Leucht S, et al. Putting the efficacy of psychiatric and general medicine medication into perspective: review of meta-analyses. Br J Psychiatry 2012;200:97–106.

10. Martinotti G, et al. Agomelatine versus venlafaxine XR in the treatment of anhedonia in major depressive disorder: a pilot study. J Clin Psychopharmacol 2012;32:487–91.

11. McCabe C, et al. Diminished neural processing of aversive and rewarding stimuli during selective serotonin reuptake inhibitor treatment. Biol Psychiatry 2010;67:439–45.

12. Opbroek A, et al. Emotional blunting associated with SSRI-induced sexual dysfunction. Do SSRIs inhibit emotional responses? Int J Neuropsychopharmacol 2002;5:147–51.

13. Soomro, et al. Cochrane Database Syst Rev 2008.

14. Storosum JG, et al. Magnitude of effect of lithium in short-term efficacy studies of moderate to severe manic episode. Bipolar Disord 2007;9:793–8.

15. Taylor D, et al. Antidepressant efficacy of agomelatine: meta-analysis of published and unpublished studies. BMJ 2014;348:g1888.

Psychopharmakotherapie 2015; 22(03)