Herzinfarkt als Nebenwirkung einer Levothyroxin-Hochdosis-Augmentation?


Ursula Köberle, Sebastian Erbe und Tom Bschor, Berlin

Die hoch dosierte Levothyroxin-Augmentation ist ein experimentelles Verfahren zur Behandlung therapieresistenter affektiver Erkrankungen. Wir berichten hier den Fall einer 74-jährigen Patientin, die an einer schweren, hochgradig therapieresistenten Depression litt. Während des stationären Aufenthalts wurde bei ihr eine Therapie mit dem irreversiblen Monoaminoxidasehemmer Tranylcypromin begonnen, da dieser Wirkstoff bei therapieresistenten Depressionen stärker wirksam zu sein scheint als andere Antidepressiva. Nachdem die Patientin auf eine Tranylcypromin-Dosis von 60 mg/Tag nicht ausreichend angesprochen hatte, wurde eine supraphysiologische Augmentation mit Levothyroxin begonnen. 18 Tage nach Erreichen der Levothyroxin-Zieldosis von 300 mg/Tag erlitt die Patientin einen Herzinfarkt. Als mögliche Ursache des Infarkts werden eine bestehende koronare Herzkrankheit (bei Vorliegen einer arteriellen Hypertonie, einer Fettstoffwechselstörung sowie einer zerebralen Mikroangiopathie) und eine wechselseitige Verstärkung kardiovaskulärer Nebenwirkungen durch die beiden Psychopharmaka diskutiert.
Schlüsselwörter: Therapieresistente Depression, Tranylcypromin, Levothyroxin, Myokardinfarkt
Psychopharmakotherapie 2011;18:179–81.

Trotz moderner psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlungsverfahren leiden immer noch bis zu 30% der Patienten mit einer Depression unter einer therapieresistenten Erkrankung [3]. Hierunter versteht man im klinischen Alltag eine Depression, die auf zwei Antidepressiva in adäquater Dosierung über eine ausreichend lange Zeit nicht anspricht [3]. Die therapieresistente Depression ist noch immer eine therapeutische Herausforderung. Für die Behandlung von Patienten mit therapieresistenter Depression müssen gegebenenfalls auch experimentelle Behandlungsverfahren eingesetzt werden.

Wir möchten den Fall einer 74-jährigen Patientin vorstellen, die an einer therapieresistenten Depression litt. Der Fall wurde im Rahmen des AMSP-Projekts (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie) [6] diskutiert.

Fallbericht

Die Patientin war seit den 90er-Jahren an einer rezidivierenden unipolaren Depression erkrankt. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu schweren, auch wahnhaften depressiven Episoden. Im Verlauf der Erkrankung unternahm die Patientin bereits zwei ernstzunehmende Suizidversuche.

An vaskulären Risikofaktoren bestanden eine arterielle Hypertonie und eine Fettstoffwechselstörung. Im Rahmen der organischen Diagnostik der therapieresistenten Depression wurde eine Magnetresonanztomographie des Kopfes durchgeführt. Dabei zeigte sich eine vaskuläre Enzephalopathie als Ausdruck einer zerebralen Mikroangiopathie. Die internistische Medikation mit Ramipril (5 mg/Tag) und Simvastatin (20 mg/Tag) wurde während des fraglichen Zeitraums konstant gehalten.

Während zahlreicher stationär-psychiatrischer Aufenthalte erfolgten medikamentöse Behandlungsversuche mit den Antidepressiva Amitriptylin, Venlafaxin, Nortriptylin und Escitalopram, mit Lithium-Augmentation, mit den Neuroleptika Perphenazin, Haloperidol, Perazin, Aripiprazol, Risperidon, Olanzapin und Melperon sowie mit Lorazepam. Diese führten alle nicht zu einer dauerhaften Stabilisierung. Darüber hinaus hatte die Patientin erfolglos mehrere Schlafentzüge absolviert.

Sie wurde mehrfach mit Elektrokrampftherapie (EKT) behandelt. Diese Behandlungsform hatte ihr früher gut geholfen, so dass die Behandlung zeitweilig auch im Sinne von Erhaltungs-EKT erfolgte. Leider verlor auch diese Behandlungsform im Verlauf ihre Wirkung.

Verlauf

Bei Aufnahme in unserer Abteilung bestand ein schweres depressives Syndrom mit Anhedonie, verminderter affektiver Modulationsfähigkeit, Antriebsminderung, Interessenverlust, überwertigen Schuldgefühlen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Grübelneigung. Eine klar wahnhafte Symptomatik bestand aktuell nicht, wurde aber bei früheren Aufenthalten beschrieben. Bei Aufnahme bestand eine Medikation mit Venlafaxin in einer Dosis von 150 mg/Tag.

Wegen Wirkungslosigkeit beendeten wir zunächst die Medikation mit Venlafaxin. Unter entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen erfolgte dann eine Aufdosierung von Tranylcypromin bis 60 mg/Tag (Infokasten 1). Parallel dazu nahm die Patientin während der gesamten Behandlung an verschiedenen Gruppentherapien teil. Die Medikation mit Tranylcypromin besserte die Stimmung unserer Patientin nur geringfügig.

Infokasten 1: Tranylcypromin

Tranylcypromin ist ein irreversibler, unselektiver Hemmer der Monoaminoxidase, eines Enzyms, das biogene Amine abbaut. Zu diesen gehören die Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, die in der Pathogenese depressiver Erkrankungen eine Rolle spielen. Durch die Hemmung des abbauenden Enzyms steigt die Konzentration dieser Neurotransmitter im synaptischen Spalt. Auf diese Weise wird die noradrenerge und serotonerge Neurotransmission verstärkt, was zu einer Besserung der depressiven Symptomatik führen kann [8].

Während der Einnahme von Tranylcypromin ist allerdings eine spezielle Diät (tyraminarme Diät) notwendig, da der Konsum großer Mengen von Tyramin mit der Gefahr einer potenziell lebensbedrohlichen Bluthochdruckkrise verbunden ist. Ferner besteht bei Kombination von Tranylcypromin mit serotonergen Substanzen die Gefahr eines Serotonin-Syndroms, weshalb die Kombination mit verschiedenen zentral wirksamen Arzneimitteln, insbesondere auch den meisten Antidepressiva, kontraindiziert ist [8].

Diesen Hindernissen in der Anwendung steht allerdings eine besondere Wirksamkeit gegenüber: während andere Antidepressiva in ihrer Wirksamkeit alle ungefähr vergleichbar sind und bei etwa zwei Dritteln der depressiven Patienten eine positive Wirkung zeigen, scheint Tranylcypromin gerade bei therapieresistenten Depressionen stärker wirksam zu sein als andere Antidepressiva [4, 8].

Eine erneute Lithium-Augmentation musste wegen anhaltender Diarrhö beendet werden.

Aufgrund der vielfältigen, überwiegend erfolglosen medikamentösen Vorbehandlungen entschieden wir uns in diesem Fall nun zur experimentellen Augmentation mit hoch dosiertem Levothyroxin (Infokasten 2).

Infokasten 2: Hoch dosierte Levothyroxin-Augmentation

Die hoch dosierte Levothyroxin-Augmentation ist ein experimentelles Verfahren zur Behandlung therapieresistenter affektiver Erkrankungen. Hintergrund ist der enge Zusammenhang des Schilddrüsenstoffwechsels mit affektiven Erkrankungen. Derzeit liegen verschiedene offene Studien bei Rapid-Cycling, bei therapieresistenter Depression sowie bei prophylaxeresistenten affektiven Erkrankungen vor, die eine positive Wirkung der Behandlung zeigen [7]. Die einzige doppelblinde, Plazebo-kontrollierte Studie zur hoch dosierten Levothyroxin-Augmentation ergab bei Patienten mit bipolarer Depression insgesamt eine numerische, aber nicht signifikante Überlegenheit der aktiven Behandlung gegenüber Plazebo. Interessanterweise fand sich eine signifikante Überlegenheit der Levothyroxin-Hochdosis-Therapie gegenüber Plazebo bei Frauen [2].

Bei der Levothyroxin-Hochdosis-Therapie werden schrittweise aufdosierend supraphysiologische Dosierungen von Levothyroxin (Dosiserhöhung um 100 µg/Woche, Zieldosis etwa 300 µg/Tag) zusätzlich zur bestehenden antidepressiven oder rezidivprophylaktischen Medikation gegeben. In der Regel treten nur wenige und leichte Nebenwirkungen wie vermehrtes Schwitzen, Zunahme von Tremor, vorübergehende Knöchelödeme sowie ein mäßiger Anstieg der Herzfrequenz auf. Bemerkenswerterweise vertragen depressive Patienten die hoch dosierte Levothyroxin-Gabe besser und wiesen niedrigere periphere Hormonspiegel auf als gesunde Kontrollpersonen [7].

Vor Beginn der Levothyroxin-Augmentation wurde der aktuelle Schilddrüsenstatus der Patientin bestimmt. Die Serumkonzentrationen von freiem Thyroxin (fT4), freiem Triiodthyronin (fT3) und Thyreotropin (Thyreoidea-stimulierendes Hormon, TSH) lagen alle im Normbereich, es bestand somit laborchemisch eine Euthyreose. Auch der Test auf Schilddrüsen-Autoantikörper war negativ.

Wir begannen die Aufdosierung von Levothyroxin mit 50 µg/Tag und steigerten die Dosis etwa alle drei Tage um 50 µg, bis nach rund drei Wochen eine Levothyroxin-Dosierung von 350 µg/Tag zusätzlich zu Tranylcypromin erreicht war.

Unter dieser Dosierung kam es zu leichten hyperthyreoten Nebenwirkungen (Schwitzen, Nervosität und innere Unruhe), so dass die Dosis auf 300 µg/Tag reduziert wurde. Diese Medikation vertrug die Patienten zunächst gut.

Der Schilddrüsenstatus veränderte sich erwartungsgemäß: das TSH war erniedrigt (supprimiert), das freie Thyroxin im Serum erreichte supraphysiologische Werte (zuletzt 29,3 pmol/l, Referenzbereich 10,3–24,5 pmol/l) und das freie Triiodthyronin stieg innerhalb des Referenzbereichs.

18 Tage nach Erreichen der Zieldosis beklagte die Patientin ein thorakales Druckgefühl und Atemnot. Im Elektrokardiogramm war ein transmuraler Vorderwandinfarkt sichtbar. Der Troponinwert war mit 2,51 ng/ml erhöht (Referenzbereich: <0,10 ng/ml).

Es erfolgte eine Herzkatheteruntersuchung, bei der eine zuvor nicht bekannte koronare Herzkrankheit (Eingefäß-KHK) diagnostiziert und ein Stent implantiert wurde. Aufgrund des Herzinfarkts wurde die Patientin nun mit Thrombozytenfunktionshemmern behandelt.

Die Medikation mit Levothyroxin wurde beendet und die Dosis von Tranylcypromin aus Sicherheitsgründen auf 40 mg/Tag reduziert. Die Patientin wurde einige Tage später in teilremittiertem Zustand entlassen.

Diskussion

Die Patientin litt unter einer schweren therapieresistenten Depression. Trotz ihres Alters wurden daher unter Abwägung der Vor- und Nachteile die beschriebenen Therapieverfahren gewählt. Aufgrund der (bislang unbekannten) koronaren Herzerkrankung könnte der Myokardinfarkt auch unabhängig von der Medikation aufgetreten sein.

Allerdings wurde in der Literatur immer wieder über Myokardinfarkte nach Aufdosierung von Levothyroxin bei hypothyreoten Patienten berichtet, weshalb insbesondere bei älteren Patienten und bei Patienten mit Herzerkrankungen eine langsame Aufdosierung von Levothyroxin empfohlen wird [5]. Unsere Patientin war schilddrüsengesund, gemäß den Empfehlungen zur Aufdosierung von Levothyroxin (Infokasten 2) wurde eher zügig eine supraphysiologische Dosierung dieses Hormons erreicht. Bei der bislang nur geringen Datenlage zur Levothyroxin-Hochdosis-Therapie kann ein Zusammenhang des Myokardinfarkts mit der Aufdosierung von Levothyroxin nicht ausgeschlossen werden.

Die Komedikation mit Tranylcypromin mag dabei synergistisch gewirkt haben: Levothyroxin erhöht die Empfindlichkeit der Adrenozeptoren gegenüber Catecholaminen, so dass deren Wirkung verstärkt wird. Die Hemmung der Monoaminoxidase durch Tranylcypromin verhindert zudem den Abbau der Catecholamine, was zu einem zusätzlichen sympathomimetischen Effekt am Herzen führen dürfte [9].

Als Ursache des Myokardinfarkts kann die mit großer Wahrscheinlichkeit bereits vorbestehende koronare Herzkrankheit angenommen werden. Zusätzlich könnten eventuelle vasospastische Wirkungen der Catecholamine zur Entstehung des Myokardinfarkts beigetragen haben [1]. Ferner könnte eine raschere Erschöpfung der koronaren Sauerstoffreserve unter erhöhtem catecholaminergen Einfluss und der positiv inotropen Wirkung von Levothyroxin gerade bei einer Patientin mit koronarer Herzkrankheit den Myokardinfarkt mitverursacht haben.

Fazit

Für die Behandlung therapieresistenter Depressionen muss immer wieder auf experimentelle Verfahren zurückgegriffen werden; entsprechende Risiken müssen dabei in Kauf genommen werden.

Die Schilderung des vorliegenden Falls soll nicht dazu verleiten, generell auf Tranylcypromin zu verzichten oder die hoch dosierte Levothyroxin-Augmentation grundsätzlich abzulehnen. Tranylcypromin hat seit Langem einen wichtigen Platz in der Behandlung der therapieresistenten Depression. Auch die experimentelle hoch dosierte Levothyroxin-Augmentation kann unter Abwägung der Vor- und Nachteile sinnvoll sein.

Die Indikation für eine Augmentation von Tranylcypromin mit hoch dosiertem Levothyroxin sollte jedoch wegen der möglichen additiven sympathomimetischen Effekte gerade bei älteren Patienten mit Risikofaktoren für kardiovaskuläre Nebenwirkungen besonders streng gestellt werden.

Literatur

1. Adameova A, Abdellatif Y, Dhalla NS. Role of excessive amounts of circulating catecholamines and glucocorticoids in stress-induced heart disease. Can J Physiol Pharmacol 2009;87:493–514.

2. Bauer M, Adli M, Köberle U, Pilhatsch M, et al. A randomized, placebo-controlled study of levothyroxine as add-on treatment in bipolar depression: higher efficacy in women than in men [Poster]. ACNP 49th Annual Meeting 2010, Miami Beach, Florida, USA.

3. Bschor T. Therapy resistant depression. Expert Rev Neurother 2010;10:77–86.

4. Bschor T. Behandlung mit Antidepressiva. Pharmakologie, Therapieabschnitte. In: Bschor T (Hrsg.). Behandlungsmanual therapieresistente Depression. Pharmakotherapie – somatische Therapieverfahren – Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2008:28–39.

5. Feldt-Rasmussen U. Treatment of hypothyroidism in elderly patients and in patients with cardiac disease. Thyroid 2007;17:619–24.

6. Grohmann R, Engel RR, Rüther E, Hippius H. The AMSP drug safety programme: methods and global results. Pharmacopsychiatry 2004;37(Suppl 1):4–11.

7. Köberle U. Augmentation mit Schilddrüsenhormonen. In: Bschor T (Hrsg.). Behandlungsmanual therapieresistente Depression Pharmakotherapie – somatische Therapieverfahren – Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2008:129–41.

8. Lewitzka U. Irreversible MAO-Hemmer. In: Bschor T (Hrsg.). Behandlungsmanual therapieresistente Depression. Pharmakotherapie – somatische Therapieverfahren – Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2008:102–13.

9. MediQ-Interaktionsdatenbank unter www.mediq.ch (Zugriff am 13.04.2011).

Ursula Köberle, Dr. med. Sebastian Erbe, Priv.-Doz. Dr. med. Tom Bschor Schlosspark-Klinik, Abteilung für Psychiatrie, Heubnerweg 2, 14059 Berlin, E-Mail: psychiatrie@schlosspark-klinik.de

Myocardial infarction as a possible side effect of a high dose levothyroxine augmentation? A case report.

High dose levothyroxine augmentation of antidepressants is an experimental strategy in treatment resistant depression (TRD). We here report the case of a 74-year-old woman with a major depression of a high degree of treatment resistance. We first started a treatment trial with the irreversible MAO inhibitor tranylcypromine, which has repeatedly been reported to be effective in TRD. After non-response to 60 mg/d, we started a supraphysiological levothyroxine augmentation. Eighteen days after reaching the final dose of 300 mcg/d the patient experienced myocardial infarction.

Possible explanations are (I) a coincidence independent of the psychotropic medication in a woman suffering from comorbid hypertension, lipid metabolic disorder and vascular encephalopathy in a MRI scan, (II) a synergistic increase in the potency of the catecholamines due to the combined psychotropic medication, leading among others to vasospasms, or (III) myocardial hypoxia due to the positive inotropic effect of levothyroxine.

Key words: Treatment resistant depression, tranylcypromine, levothyroxine, myocardial infarction

Psychopharmakotherapie 2011; 18(04)