Multiple Sklerose

Bald ein neues, oral einzunehmendes Arzneimittel zur Verbesserung der Mobilität?


Dipl.-Biol. Anne Bleick, Stuttgart/bh

Eine Verminderung oder ein Verlust der Gehfähigkeit sind Folgen einer multiplen Sklerose (MS), die die Patienten in fast allen Lebensbereichen extrem einschränken. Einen solchen Verlust an Mobilität müssen bisher viele MS-Patienten hinnehmen. Nun steht ein Arzneimittel, das die Gehfähigkeit dieser Patienten verbessern soll, in Europa kurz vor der Zulassung. Klinische Studien, in denen der Kaliumkanalblocker Fampridin untersucht wurde, wurden auf einer Pressekonferenz der Firma Biogen Idec vorgestellt.

Im Verlauf einer multiplen Sklerose (MS) kommt es in aller Regel zu einer Demyelinisierung von Nervenzellen. Werden Axone demyelinisiert, können Aktionspotenziale nicht mehr wie bisher weitergeleitet werden, denn durch den Verlust der Myelinscheide werden ursprünglich verdeckte Kaliumkanäle an den Axonen freigelegt. Dadurch kommt es zu einem vermehrten repolarisierenden Kaliumausstrom aus den Nervenzellen und folglich zu einer Störung der Weiterleitung von Aktionspotenzialen. Durch den Kaliumkanalblocker Fampridin werden repolarisierende Kaliumströme vermindert und die Fortleitung der Aktionspotenziale verbessert [1]. Als 4-Aminopyridin ist die Substanz schon lange in der experimentellen Neurophysiologie gebräuchlich.

Ob sich dieser Effekt in der Praxis tatsächlich positiv auf die motorischen Fähigkeiten von MS-Patienten auswirkt, wurde in mehreren Studien untersucht, unter anderem in zwei Plazebo-kontrollierten Phase-III-Studien (MS-F203, MS-F204). In diesen beiden Studien wurde die Wirksamkeit von zweimal täglich 10 mg Fampridin in einer Retardformulierung untersucht (Tab. 1) [2, 3].

Tab. 1. Studiendesigns der beiden randomisierten, doppelblinden, multizentrischen Phase-III-Studien mit retardiertem Fampridin

MS-F203 [2]

MS-F204 [3]

Teilnehmer

301 Patienten mit multipler Sklerose (alle Verlaufsformen)

239 Patienten mit multipler Sklerose (alle Verlaufsformen)

Studienarme (Randomisierung)

  • Fampridin (10 mg zweimal täglich, n=229)
  • Plazebo (n=72)
  • Fampridin (10 mg zweimal täglich, n=120)
  • Plazebo (n=119)

Dauer der Behandlung

14 Wochen

9 Wochen

Dauer der Nachbeobachtung

4 Wochen

2 Wochen

Primärer Endpunkt

Anteil der Responder, definiert als Teilnehmer mit einer anhaltenden Verbesserung im T25FW

Anteil der Responder, definiert als Teilnehmer mit einer anhaltenden Verbesserung im T25FW

T25FW: Timed 25-Foot-Walk

An beiden Studien nahmen Patienten mit multipler Sklerose (alle Verlaufsformen) teil, deren Gehfähigkeit aufgrund der Erkrankung eingeschränkt war. Untersucht wurde jeweils der Einfluss der Studienmedikation auf das Ergebnis des „Timed 25-Foot-Walk“ (T25FW), also der Einfluss auf die Gehgeschwindigkeit auf einer Strecke von rund 7,6 Metern. Die Gehgeschwindigkeit wurde bei allen Teilnehmern mehrmals bestimmt: bei vier Visiten während und fünf Visiten außerhalb der Behandlungsphase (vor und nach der Behandlung). Primärer Endpunkt war in beiden Studien der Anteil der Responder im Timed 25-Foot-Walk. Als Responder galten die Patienten, bei denen die Gehgeschwindigkeit bei drei von vier Visiten während der Behandlungsphase höher war als die höchste Geschwindigkeit, die bei einer Visite außerhalb der Therapiephase erreicht wurde.

Ergebnisse

In beiden Studien war der Anteil der Responder in der Verum-Gruppe signifikant höher als in der Plazebo-Gruppe (p<0,0001): In der Studie MS-F203 betrug der Anteil der Responder in der Plazebo-Gruppe 8,3% und in der Fampridin-Gruppe 34,8%, in der Studie MS-F204 waren es 9,3% in der Plazebo-Gruppe und 42,9% in der Fampridin-Gruppe. Bei denjenigen, die auf Fampridin ansprachen, war die Gehgeschwindigkeit konstant um rund 25% erhöht, bei den Respondern der Plazebo-Gruppe dagegen nur um rund 5%. Das bedeutet: wenn ein Patient auf Fampridin anspricht, ist tatsächlich mit einer deutlichen Verbesserung zu rechnen.

Eine gepoolte Analyse mehrerer Studien ergab, dass im Grunde alle Untergruppen (unterschieden nach Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Body-Mass-Index) einen Nutzen von der Behandlung mit Fampridin hatten. Dies galt auch bei einer Unterteilung nach Verlaufsform der MS, Erkrankungsdauer oder Grad der Behinderung (Score auf der Expanded disability status scale, EDSS). Allerdings war die Wirkung bei Patienten mit schubförmigem Verlauf, langer Erkrankungsdauer (≥16 Jahre) und stärkerer Behinderung (EDSS-Score ≥6,5) stärker ausgeprägt als bei anderen Patienten (Abb. 1).

Abb. 1. Unter Fampridin (10 mg retardiert, zweimal täglich) nahm die Gehgeschwindigkeit in allen gepoolten Subgruppen der Studien MS-F202 [4], MS-F203 [2] und MS-F204 [3] stärker zu als unter Plazebo, und zwar unabhängig von Verlaufsform, Erkrankungsdauer und Grad der Behinderung (EDSS). Dargestellt sind die Odds-Ratios für ein Ansprechen im Timed 25-Foot-Walk und die zugehörigen 95%-Konfidenzintervalle. In Klammern ist angegeben, wie viele Patienten das jeweilige Kriterium in den beiden Armen erfüllten. RRMS: relapsing remitting MS; PPMS: primary progressive MS; SPMS: secondary progressive MS; PRMS: progressive relapsing MS; EDSS: Expanded Disability Status Scale

Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Rückenschmerzen waren meist nur gering bis mäßig ausgeprägt, dauerten nur wenige Tage an und führten in der Regel nicht zum Therapieabbruch. In den Zulassungsstudien trat unter Fampridin und unter Plazebo je ein epileptischer Anfall auf.

Zulassungsverfahren

In den USA wurde Fampridin (AmpyraTM) bereits im Januar 2010 zur Verbesserung der Gehfähigkeit von MS-Patienten zugelassen. Auch in Europa wurde die Zulassung beantragt. Der Antrag wurde jedoch zuerst abgelehnt, da das Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) der European Medicines Agency (EMA) nicht davon überzeugt war, dass die Patienten einen relevanten Nutzen von der geringen Zunahme der Gehgeschwindigkeit haben und dass dieser fragliche Nutzen die möglichen Risiken überwiegt. Der Antrag wurde seitdem erneut geprüft, insbesondere dahingehend, welche Patienten eher einen Nutzen von der Therapie haben als andere. Ende Mai 2011 empfahl das Komitee nun die Zulassung von Fampridin zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei Erwachsenen mit multipler Sklerose und einer Gehbehinderung entsprechend einem EDSS-Score von 4 bis 7 Punkten [5].

Fazit

Die Vorteile des neuen Arzneimittels können folgendermaßen zusammengefasst werden:

  • Retardiertes Fampridin kann oral eingenommen werden
  • Wenn eine positive Wirkung erzielt wird, dann tritt diese rasch und deutlich ein und hält so lange an, wie das Präparat eingenommen wird.
  • Eine Kombination mit bestehenden Immuntherapien scheint nach bisherigen Erfahrungen problemlos möglich zu sein.
  • Das Sicherheitsprofil ist nach den bisherigen Erfahrungen günstig.

Quellen

1. Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Köln, Priv.-Doz. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Dresden. Pressekonferenz „Einen Schritt vorwärts in der MS-Therapie: mehr Mobilität im Patientenalltag“, veranstaltet von Biogen Idec GmbH im Rahmen der 83. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Mannheim, 22. September 2010.

2. Goodman AD, et al. Sustained-release oral fampridine in multiple sclerosis: a randomised, double-blind, controlled trial. Lancet 2009;373(9665):732–8.

3. Goodman AD, et al. Sustained-release fampridine consistently improves walking speed and leg strength in multiple sclerosis: a phase 3 trial. Mult Scler 2008;14(1 Suppl):S298 (abstract P909).

4. Goodman AD, et al. Dose comparison trial of sustained-release fampridine in multiple sclerosis. Neurology 2008;71:1134–41.

5. Mitteilung der European Medicines Agency vom 19. Mai 2011. Positive opinion on the marketing authorisation for Fampyra (fampridine). Outcome of re-examination.

Psychopharmakotherapie 2011; 18(04)