Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen
Am häufigsten wird die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern im Grundschulalter gestellt. Auch wenn die Symptome mit zunehmendem Alter unauffälliger werden, dauert die Erkrankung häufig bis in das Erwachsenenalter an. So wurde in einer neueren US-amerikanischen Studie in einer Gruppe von 18- bis 44-Jährigen eine Prävalenz der ADHS von 4,4% gefunden [1]. Die Symptome bei Erwachsenen sind wie bei Kindern und Jugendlichen unter anderem Unaufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen und Schwierigkeiten, das Temperament zu kontrollieren.
Während für die Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen verschiedene Methylphenidat-Präparate zugelassen sind, sind diese für die Behandlung der ADHS bei Erwachsenen nicht zugelassen. Eine Behandlung mit einem nicht zugelassenen Medikament zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse ist laut einem Urteil des Bundessozialgerichts jedoch dann möglich, wenn aufgrund der Datenlage eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht, die Lebensqualität durch die Erkrankung auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist und keine andere Therapie zur Verfügung steht [2]. Die Daten zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen sind zwar begrenzt, doch es gibt Studien, in denen gezeigt wurde, dass Methylphenidat die Symptome auch bei Erwachsenen signifikant reduziert [3].
Die vorliegende Studie [4] ist eine der wenigen großen Plazebo-kontrollierten Untersuchungen und die erste multizentrische Studie mit flexiblen Dosen der Osmotic-Release-Oral-System(OROS®)-Retardformlierung von Methylphenidat. Das Besondere an dieser Galenik ist, dass ein Teil des Wirkstoffs im leicht löslichen (schnell freisetzenden) Überzug der Tablette enthalten ist und ein weiterer Teil des Wirkstoffs aus dem Inneren der Tablette (osmotisch kontrolliert durch ein winziges Loch) über mehrere Stunden hinweg kontinuierlich freigesetzt wird. Die Tablette wird einmal täglich morgens eingenommen und wirkt über bis zu 12 Stunden (bei Kindern/Jugendlichen). Ziel der Studie war die Bewertung der Wirksamkeit und Verträglichkeit dieser Methylphenidat-Formulierung im Vergleich zu Plazebo bei erwachsenen Patienten mit einer ADHS. Dabei wurde überprüft, ob die individuell niedrigste wirksame Dosis von Methylphenidat besser wirksam ist als Plazebo.
Methoden
Die Studie wurde von Mai bis November 2006 an 27 Zentren in den USA durchgeführt. Eingeschlossen waren Patienten im Alter von 18 bis 64 Jahren (durchschnittlich 39 Jahre) mit der DSM-IV-Diagnose einer ADHS, wobei alle drei Subtypen der Erkrankung eingeschlossen wurden: vorwiegend unaufmerksamer Typus, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus und Mischtypus. Auf der Adult ADHD Investigator Symptom Report Scale (AISRS, Skala von 0 bis 54) hatten die Patienten einen Score von mindestens 27. Die AISRS beurteilt 18 Merkmale mit den Schweregraden 0 (fehlend) bis 3 (schwerwiegende Ausprägung). Der Score auf der Global Assessment of Function Scale lag zwischen 41 und 60 (100–91: hervorragende Leistungsfähigkeit; 1–10: wiederholte Gewaltanwendung, ernsthafte Suizidversuche). Unter den zahlreichen Ausschlusskriterien waren Angststörung, Depression, Substanz-/Alkoholmissbrauch sowie psychische Störungen, die nach Meinung des Prüfarzts die Eignung des Patienten hätten einschränken können.
Die Patienten wurden randomisiert einer Behandlung mit Methylphenidat (n=110) oder Plazebo (n=116) zugeteilt. Die Methylphenidat-Therapie wurde mit 36 mg/Tag begonnen und konnte bis Woche 5 wöchentlich um 18 mg/Tag bis zu einer Maximaldosis von 108 mg/Tag gesteigert werden (Tab. 1). Die individuelle Dosis war erreicht, wenn der AISRS-Score um mindestens 30% gegenüber dem Ausgangswert abgefallen war und der CGI-I-Score mit 1 (sehr stark gebessert) oder 2 (stark gebessert) beurteilt wurde. Eine weitere Aufdosierung wurde dann nicht mehr vorgenommen. Die Behandlung dauerte protokollgemäß sieben Wochen. Arztbesuche waren zum Screening, zum Einschluss, wöchentlich nach den Behandlungswochen 1 bis 5 sowie nach Woche 7 vorgesehen.
Tab. 1. Häufigkeitsverteilung der Methylphenidat-Enddosen (N=110) [4]
Enddosis |
Häufigkeit [n (%)] |
36 mg/Tag |
36 (32,7) |
54 mg/Tag |
16 (14,5) |
72 mg/Tag |
19 (17,3) |
90 mg/Tag |
16 (14,5) |
108 mg/Tag |
23 (20,9) |
Primärer Wirksamkeitsparameter war die Änderung des AISRS-Scores vom Einschluss bis zum Studienende (Woche 7). Sekundäre Endpunkte waren die Änderung des CGI-I-Scores vom Einschluss bis Woche 7 und die Analyse der Responder nach AISRS (≥30% Reduktion des Scores) in Verbindung mit dem CGI-I (1 oder 2=sehr stark oder stark gebessert).
Wirksamkeit
Verglichen mit Plazebo führte die Behandlung mit Methylphenidat zu einem signifikant größeren Abfall des mittleren AISRS-Scores (p=0,012; Abb. 1), also zu einer größeren Verbesserung der Symptome. Der mittlere CGI-I-Score war unter Methylphenidat ebenfalls signifikant niedriger als unter Plazebo (p=0,008). Statistisch signifikant war auch der Unterschied in der Responder-Analyse (Methylphenidat 36,9%; Plazebo 20,9%; p=0,009). Die bessere Wirksamkeit von Methylphenidat zeigte sich durchgehend bei allen Visiten.
Abb. 1. Änderung des Gesamtscores der Adult ADHD Investigator Symptom Report Scale (AISRS) vom Einschluss bis zur letzten Visite unter Methylphenidat und Plazebo (Analyse der beobachteten Fälle bei den Visiten nach Woche 1, 3 und 5 sowie LOCF(Last observation carried forward]-Analyse zur Abschlussvisite), nach [4]
Verträglichkeit
Unerwünschte Ereignisse wurden von 84,5% der Patienten unter Methylphenidat und von 63,8% der Patienten unter Plazebo berichtet. Wegen unerwünschter Ereignisse brachen 14,5% der Patienten in der Methylphenidat-Gruppe und 5,2% der Patienten in der Plazebo-Gruppe die Studie vorzeitig ab (Studienabbruch insgesamt: 37,2% versus 22,4%). Die häufigsten unerwünschten Ereignisse unter Methylphenidat waren Appetitlosigkeit (25,5%), Kopfschmerz (25,5%), Mundtrockenheit (20,0%) und Angst (16,4%). Die meisten unerwünschten Ereignisse waren leicht bis mittelschwer, als schwer wurden unter anderen Abdominalschmerzen, Obstipation, Mundtrockenheit, Asthenie, Angst und Reizbarkeit beurteilt. Es traten keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse oder Todesfälle auf. Die Vitalparameter veränderten sich unter der Behandlung nur unwesentlich. Die Methylphenidat-Patienten nahmen (vermutlich wegen einer häufig auftretenden Appetitlosigkeit) leicht ab (–2,2±2,33 kg).
Die Autoren sehen die Ergebnisse dieser Untersuchung als Bestätigung früherer Studien, in denen die Wirksamkeit und Sicherheit von Methylphenidat bei Erwachsenen mit ADHS sowie bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen wurde.
Kommentar
Die Angaben zur Dosierung von Methylphenidat der Hersteller in den Fach- und Gebrauchsinformationen gelten für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Es ist daher verdienstvoll, den Dosisbereich für die Wirksamkeit bei Erwachsenen zu untersuchen. Dies wurde in der vorliegenden Studie recht behutsam vorgenommen: sobald sich unter der gegebenen Dosis ein Ansprechen auf die Therapie (Response) zeigte, wurde eben diese Dosis beibehalten. Das Studiendesign sah also nicht vor, die optimale, also die bei zufriedenstellender Verträglichkeit am besten wirksame Dosis zu finden.
Ob die in dieser Studie untersuchten Dosen dem wirksamen Dosisbereich entsprechen, bleibt offen, denn zum einen wurde die Wirksamkeit niedrigerer Dosen (z.B. 18 mg/Tag) nicht untersucht, zum anderen ist die Wirksamkeit der höchsten untersuchten Dosis (108 mg/Tag) unklar, da der AISRS-Score in diesem Dosisbereich kaum mehr abnimmt (die Autoren geben dazu keinen Kommentar). Eine eindeutige Wirksamkeit wurde daher nur im Bereich zwischen 36 und 90 mg/Tag gezeigt.
Ein Problem dieser Studie sind die sehr weitreichenden Ausschlusskriterien. ADHS-Patienten haben häufig weitere psychische Erkrankungen wie Substanzmissbrauch/-abhängigkeit, Angst oder Depression. Da aber Patienten mit diesen Erkrankungen ausgeschlossen waren, beziehen sich die gewonnenen Daten nur auf Patienten, die neben der ADHS keine weiteren psychischen Erkrankungen haben.
Quellen
1. Kessler RC, et al. The prevalence and correlates of adult ADHD in the United States: results from the National Comorbidity Survey Replication. Am J Psychiatry 2006;163:716–723.
2. Bundessozialgericht Urteil vom 19.3.2002, B 1 KR 37/00 R.
3. Brummer D, et al. Pharmakotherapie der ADHS im Erwachsenenalter. Nervenheilkunde 2010;29:38–42.
4. Adler LA, et al. Efficacy and safety of OROS methylphenidate in adults with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. A randomized, placebo-controlled, double-blind, parallel-group, dose-escalation study. J Clin Psychopharmacol 2009;29:239-47.
Psychopharmakotherapie 2010; 17(06)