Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom

Individuelle Therapie mit Psychostimulanzien


Dr. med. Horst Gross, Berlin

Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) umfasst, neben einer entsprechenden psychologischen Betreuung, auch eine pharmakologische Langzeittherapie mit einem Psychostimulans. Bei dieser Indikation hat sich Methylphenidat als besonders effektiv erwiesen. Neuere bildgebende Verfahren geben Aufschluss über seine biologische Wirkung. Die Vielfalt der Darreichungsformen, insbesondere mit verschiedenen Retardformen, ermöglicht eine individuelle Therapie. Anforderungen und Möglichkeiten der ADHS-Therapie wurden beim 4. Internationalen Medice-Symposium diskutiert.

Etwa 500000 Kinder und Jugendliche leiden in Deutschland an einem behandlungsbedürftigen ADHS. Sie bedürfen einer psychologischen Betreuung, profitieren aber in vielen Fällen auch von einer pharmakologischen Langzeittherapie mit einem Psychostimulans. Die umfangreichsten Erfahrungen gibt es mit Methylphenidat. Die für das ADHS typische zentrale Dysbalance im dopaminergen und adrenergen System wird durch Methylphenidat funktionell wieder hergestellt. Neuere bildgebende Verfahren belegen diese Hypothese. Bereits nach der ersten Dosis Methylphenidat zeigt die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) eine eindrucksvolle Normalisierung des gestörten transmitterabhängigen Stoffwechsels in den krankheitstypischen Arealen (Frontalhirn, limbisches System und Cerebellum).

Nur bei ADHS hat die Substanz die gewünschte paradoxe Wirkung. Sie stimuliert nicht, sondern dämpft die Aktivität der Kinder. Die kurze Wirkungsdauer von Methylphenidat erweist sich dabei als problematisch. Einige Stunden nach der Einnahme kann es zu Reboundeffekten kommen. Deshalb hat sich klinisch die Retardierung von Methylphenidat-Präparaten durchgesetzt. Retardpräparate wie Concerta® und Medikinet® garantieren eine gleichmäßige Freisetzung des Wirkstoffs über bis zu zwölf Stunden. Als vorteilhaft erwiesen sich Galeniken, bei denen ein definierter Anteil des Wirkstoffs rasch und ein weiterer definierter Anteil des Wirkstoffs über mehrere Stunden hinweg freigesetzt wird. Bei solchen Präparaten werden die hyperaktiven Symptome durch den initialen Bolus schnell unterdrückt und die Einnahmefrequenz kann durch die Retardierung auf eine Applikation pro Tag reduziert werden. Zusätzlich verringert sich durch die Retardierung das Missbrauchsrisiko.

Gefürchtet sind depressive Phasen unter der Medikation. Auch Schlafstörungen sind Begleitfolgen, die eine Dosisanpassung erfordern. Des Weiteren könnte Methylphenidat aufgrund seiner Wirkung die Krampfschwelle senken. Da ADHS-Kinder eine fünffach erhöhte Inzidenz für Epilepsien aufweisen, besteht theoretisch die Gefahr, dass unter der Therapie vermehrt Epilepsien ausgelöst werden. In der klinischen Praxis hat sich dieses Risiko aber als irrelevant erwiesen. Im Gegensatz dazu stellt die erhöhte Suizidalität bei behandelten ADHS-Kindern eine reale Bedrohung dar. Bei entsprechender Disposition ist ein engmaschiges Monitoring obligat. Die individuelle Dosisfindung darf deshalb nur durch erfahrene Therapeuten erfolgen.

Individuelle Dosierung

Die klinische Praxis zeigt, dass die optimale Dosierung der Retardpräparate sehr starken individuellen Schwankungen unterliegt. Das betrifft sowohl die Höhe des initialen Bolus als auch die Dauer der Retardwirkung. Anhand klinischer Überwachungsscores wird die Dosis über einen Zeitraum von mehreren Wochen langsam eintitriert. Der Therapeut variiert dabei nicht nur den Bolus, sondern auch die Retardierungsdosen. Einige Kinder benötigen relativ hohe initiale Bolusgaben. Andere profitieren von Präparaten mit langer Retardphase. Die aktive Mitarbeit von Eltern und Lehrern gerade in der initialen Titrierungsphase ist dabei unabdingbar. Nur so kann der therapeutische Erfolg beurteilt werden. Um den erheblichen interindividuellen Empfindlichkeitsunterschieden gegenüber Methylphenidat gerecht zu werden, werden die Präparate in mehreren Dosisvarianten angeboten. Beispielsweise steht Medikinet® retard in einem Dosisbereich von 5 mg bis 40 mg zur Verfügung.

Nur etwa 70 bis 80% der Kinder mit ADHS-Symptomatik reagieren adäquat auf die medikamentöse Intervention mit Methylphenidat. Bei Non-Respondern stellt der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin eine Alternative dar.

Weitere therapeutische Herausforderungen

Therapeutische Probleme gibt es auch bei den für ADHS-Kinder typischen Gedächtnisdefiziten. Diese ähneln, wie neuere neuro-psychologische Studien zeigen, den Defiziten bei Alzheimer-Patienten. Während die dominierende ADHS-Symptomatik (Hyperaktivität) auf eine Langzeittherapie mit Methylphenidat gut anspricht, erweisen sich die Defizite im Kurzzeitgedächtnis in den meisten Fällen als therapieresistent. Die Relevanz dieser Befunde ist noch unklar.

Bei knapp 60% der betroffenen Kinder und Jugendlichen bleibt die ADHS-Problematik bis ins Erwachsenenalter therapiebedürftig. Amerikanische Autoren sehen auch einen direkten Zusammenhang zwischen Delinquenzverhalten und den Residuen einer ADHS-Problematik. Zusätzlich ist die ausgeprägte psychiatrische Komorbidität auch im Erwachsenenalter besorgniserregend. Altersunabhängige hohe Inzidenzraten für Depressionen, bipolare Störungen und pathologisches Sozialverhalten lassen auch bei Erwachsenen eine Methylphenidat-Behandlung sinnvoll erscheinen. Eine erste Studie (EMMA [Erwachsene mit MPH bei ADHS]) zeigte ermutigende Erfolge einer Kombinationsbehandlung mit psychologischer Intervention und retardiertem Methylphenidat auch beim adulten ADHS. Die Studie lief über einen Zeitraum von 24 Wochen. Daten einer längerfristigen Behandlung Erwachsener mit retardiertem Methylphenidat liegen noch nicht vor. Zur Sicherung dieser Indikation fehlen außerdem noch empirische Daten über die Interaktion der medikamentösen Behandlung mit den typischen Begleiterkrankungen wie Sucht, Depression und Angststörungen. Für das adulte ADHS sind in Deutschland zurzeit weder Methylphenidat noch Atomoxetin zugelassen.

Quelle

Prof. Dr. Katya Rubia, Prof. Dr. sc. hum. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Marina Danckaerts, Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Dr. David Coghill, Prof. Dr. Dr. Hans-Christoph Steinhausen. 4. Internationales MEDICE-Symposium: „ADHS: Optimierung der Pharmakotherapie“, Berlin, 8. Mai 2010, veranstaltet von MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG.

Psychopharmakotherapie 2010; 17(05)