Zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung*


Andreas Warnke, Würzburg

Intelligenzminderung ist keine psychische Erkrankung. Sie lässt sich, wenn manifest geworden, medikamentös nicht behandeln. Psychopharmakologischer Behandlung zugänglich sind allerdings psychische Störungen, die bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung vier- bis fünffach wahrscheinlicher sind. Dementsprechend ist die Rate psychopharmakologischer Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung besonders hoch, in stationären Einrichtungen bei 12 bis 40%. Das Krankheitsspektrum ist das Gleiche wie bei Menschen ohne geistige Behinderung, so dass auch die Indikationen zur psychopharmakologischen Behandlung grundsätzlich die Gleichen sind. Jedoch gibt es Besonderheiten in der Handhabung. Diese sind begründet in Erschwernissen der Diagnostik, einer hohen Rate von Komorbidität und Mehrfachmedikation, in Besonderheiten von Wirkung und unerwünschter Wirkung der Präparate sowie der Compliance.
Schlüsselwörter: geistige Behinderung, Psychopharmakotherapie, psychische Störungen, Kinder, Jugendliche
Psychopharmakotherapie 2010;17:132–7.

Intelligenzminderung ist keine psychische Erkrankung. Auch gibt es bislang keine medikamentöse Therapie der geistigen Behinderung, wenn sie einmal manifest geworden ist. Es gibt allerdings die Möglichkeit einer (medikamentösen) Prävention, wenn eine Grunderkrankung vorliegt, die eine geistige Behinderung zur Folge hat, sofern sie nicht rechtzeitig behandelt wird.

Beispiele hierfür sind die präventive Phenylalanin-freie Kost bei Phenylketonurie, die Substitution mit Levothyroxin in den ersten vier Lebenswochen bei einer angeborenen primären Hypothyreose, durch die sich ein Kretinismus mit schwerer Intelligenzschädigung verhindern lässt, und die antiepileptische Behandlung zerebraler Anfallsleiden. Impfungen schützen vor Infektionen mit dem Risiko zerebraler Schädigung.

Die Psychopharmakotherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung ist von sehr großer Bedeutung, weil die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken und Verhaltensstörungen zu äußern, bei Menschen mit geistiger Behinderung im Vergleich zu Menschen ohne Intelligenzminderung 4- bis 5-fach erhöht ist. Grundsätzlich erkranken Menschen mit Intelligenzminderung an den gleichen psychischen Störungen wie Menschen ohne geistige Behinderung und die Indikationen zur medikamentösen Therapie sind grundsätzlich die gleichen. Die Medikation ist immer nur ein Teil einer Betreuung, die auch spezifische pädagogische, psychotherapeutische und sozialintegrative Maßnahmen beinhaltet.

Für die sehr hohe Rate psychopharmakologischer Behandlung bei Menschen mit Intelligenzminderung – dies gilt besonders in stationären Einrichtungen (12–40%) – gibt es mehrere Gründe [28]:

Die Anpassung psychotherapeutischer Verfahren an die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung ist unzureichend entwickelt, und oft sind die notwendigen Rahmenbedingungen und therapeutischen Qualifikationen für eine solche Psychotherapie nicht gegeben.

Diagnostische Erschwernisse (aufgrund mangelnder Verständigungsmöglichkeiten), die besonderen Schweregrade der psychischen Störungen und die eingeschränkten pädagogisch/psychotherapeutischen Möglichkeiten zur Beeinflussung dieser Störungen tragen dazu bei, dass – insbesondere in Notfallsituationen – rasch eine Überforderung von Bezugspersonen eintritt, aufgrund derer häufig eine psychopharmakologische Intervention erfolgt.

Hinweise zur Durchführung einer Pharmakotherapie

Es gibt zu wenige klinische Studien zur Behandlung psychischer Störungen bei Menschen mit Intelligenzminderung, als dass immer evidenzbasiert therapiert werden könnte. Die Empfehlungen leiten sich daher wesentlich aus Erfahrungswerten (Konsensus) einer Summe von Heilversuchen ab [17, 23, 28, 31, 32, 34, 35].

In Tabelle 1 sind Besonderheiten einer Psychopharmakotherapie in dieser Patientengruppe genannt, die in der Praxis zu beachten sind.

Tab. 1. Besonderheiten der Psychopharmakotherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung

Die Diagnostik ist erschwert: mit zunehmenden Schweregrad der Behinderung werden die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Patient und Arzt geringer, so dass die Symptomatik oft nur sehr schwer zu eruieren ist. Beispielsweise kann ein Patient mit Depression ohne sprachliche Mitteilungsfähigkeit seine subjektiven Gefühle und Gedankeninhalte nicht aussprechen, und die Depression ist folglich nur durch Fremdanamnese über Verhaltensverlauf und durch die aktuell beobachtbaren Gefühlsäußerungen zu erschließen. Ob das stuporöse Erscheinungsbild eines solchen Patienten Symptom einer Depression, dissoziativen Störung, schizophrenen Entwicklung ist oder aber Teil der primären Behinderung, kann dann nicht durch sprachliche Verständigung mit dem Patienten eruiert werden.

Aufgrund einer eingeschränkten Verständigung zwischen Arzt und Patient ist auch die Beurteilung der Wirkung und unerwünschter Arzneimittelwirkungen einer Medikation schwierig

Die Ursache der geistigen Behinderung ist bei mehr als der Hälfte der Patienten unbekannt, so dass eine kausale Behandlung nicht möglich ist

Die Indikation zur pharmakologischen Behandlung muss in der Regel nach den fremdanamnestischen Angaben, den beobachtbaren Verhaltenssymptomen und im Zusammenhang mit deren situativem Auftreten (auf Grundlage einer Verhaltensanalyse) beurteilt werden

Psychiatrische und organische Komorbidität sind umso häufiger zu beachten, je schwerer der Grad der geistigen Behinderung ist. Eine medikamentöse Mehrfachbehandlung ist dann die Regel (z.B. die gleichzeitige Verabreichung eines Antiepileptikums und eines Neuroleptikums). Auch dadurch ist die Kontrolle von Wirkung sowie medikationsbedingten unerwünschten Wirkungen und Wechselwirkungen wesentlich erschwert.

Bei Vorliegen einer Hirnschädigung kann es zu paradoxen Reaktionen auf eine verabreichte Medikation kommen: die Empfindlichkeit für unerwünschte Wirkungen kann erhöht sein und die gewöhnliche medikamentöse Wirkung kann ausbleiben [6, 14, 19, 20]

Die Compliance ist erschwert. Dies gilt umso mehr, je schwerer der Grad der geistigen Behinderung ist und die Mitteilungsfähigkeit und eigenständige Verhaltenskontrolle reduziert sind. Daher sind Medikamentengabe und Wirkungskontrolle regelhaft von Bezugspersonen sicherzustellen.

Die fortgesetzte Indikation zur Medikation ist besonders kritisch zu stellen und zu überprüfen, wenn ein Präparat zunächst zur Beherrschung einer akuten Notfallsituation (zur Verhinderung von Selbst- und Fremdgefährdung) verordnet wurde, ohne dass eine regelrechte Diagnostik zuvor möglich war.

Die Medikation darf auch nicht Versorgungsmängel in Institutionen der Behindertenhilfe kompensieren [32].

Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist begrenzt auf psychische Störungen der internationalen Klassifikationssysteme (ICD-10, DSM-IV), für die eine Indikation für eine solche medikamentöse Therapie besteht, und für schwergradige psychopathologische Symptome, die selbst- und/oder fremdgefährdend und akut nicht durch Verhaltensmaßnahmen beherrschbar sind (z. B. schwere Selbstverletzung, akute Suizidalität, schwere aggressive Impulskontrollstörungen). Die psychopharmakologische Medikation kann auch dann indiziert sein, wenn dadurch erst pädagogische und psychotherapeutische Maßnahmen ermöglicht werden (z.B. durch Stimulanzientherapie bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Häufig ist ein Off-Label-Gebrauch zu verzeichnen [17, 23].

Ein weiterer Aspekt bei der Indikationsstellung ist, dass die Einwilligungsfähigkeit der Patienten oft nicht gegeben ist. Immer bedarf die Medikation der Einwilligung der Sorgeberechtigten beziehungsweise der mit der Behandlungspflegschaft betrauten Bezugsperson.

In Anlehnung an Schanze [32] lassen sich Richtlinien (Tab. 2) formulieren, die zwar allgemeingültig sind, aber bei Menschen mit Intelligenzminderung besonders zu beachten sind.

Tab. 2. Richtlinien für eine Therapie mit Neuro-Psychopharmaka

Vor jeder Behandlung sollte eine (multiaxiale) Diagnostik und Verhaltensanalyse erfolgen und der Erfolg der bislang eingesetzten Therapieverfahren eruiert werden

Der Eindruck einer Krise sollte nicht zu vorschnellem pharmakologischem Handeln verleiten lassen

Der rechtliche Rahmen des ärztlichen Handelns ist besonders zu beachten, da ein Patient mit Intelligenzminderung aufgrund seiner eingeschränkten Einsichtsfähigkeit nicht immer eigenverantwortlich entscheiden kann

Der Wille des Patienten ist zu berücksichtigen und der Patient ist soweit als möglich über die Maßnahmen zu informieren

Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist selten allein wirksam. Sie muss in ein individuelles multidimensionales Therapiekonzept integriert sein.

Behandlungsziele oder das Zielsymptom sind möglichst genau zu definieren und schriftlich zu dokumentieren

Der Therapie-Effekt hinsichtlich definierter Behandlungsziele muss systematisch dokumentiert werden

Nach der psychischen Stabilisierungsphase ist die Medikation auf eine Erhaltungsdosis zu reduzieren

Längerfristig verabreichte Psychopharmaka sind bezüglich Indikation und Dosierung kritisch zu prüfen

Langfristig verabreichte Medikamente dürfen nicht zu schnell abgesetzt werden. Wenn ein Absetzen angestrebt wird, sollte die Tagesdosis in der Regel monatlich um etwa 20% reduziert werden.

Im Rahmen der Reduktion von anticholinerg wirksamen Stoffen kommt es häufig in den ersten Tagen nach Dosisreduktion zu einem Ungleichgewicht im Bereich der cholinergen Neurotransmission, das sich durch ein vorübergehendes Auftreten von Unruhe und Gereiztheit bemerkbar machen kann.

Auf mögliche psychische und körperliche Nebenwirkungen einer Pharmakotherapie ist besonders zu achten.

– In die Beobachtung von Wirkung und unerwünschten Wirkungen sind daher auch die Bezugspersonen einzubinden. Voraussetzung dafür ist, dass in der Regel die Eltern und in den Tages- und vollstationären Einrichtungen das betreuende Personal über Wirkung und mögliche unerwünschte Wirkungen der Arzneistoffe informiert sind (z. B über Frühdyskinesien bei Neuroleptikagabe).

– Die Beobachtungen müssen dokumentiert werden. Eine Verschlechterung der Symptomatik unter Ein-
oder Aufdosierung ist für solche unerwünschte Wirkungen typisch.

– Eine Verständigung des verordnenden Arztes durch die Eltern und gegebenenfalls andere Betreuende
muss für den Bedarfsfall geregelt sein.

Es gelten die allgemeinen Prinzipien der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka (zum Beispiel die Präparateauswahl unter Berücksichtigung von Compliance, Pharmakodynamik und Pharmakokinetik)

Voraussetzung für eine Medikation bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung sind Bezugspersonen, die für eine verlässliche Dosierung, Einnahme und Wirkungskontrolle Sorge tragen

Möglichkeiten der Behandlung psychischer Störungen

Autoaggressives, selbstverletzendes Verhalten, fremdaggressives Verhalten und Störung des Sozialverhaltens

Für die Behandlung des selbstverletzenden autoaggressiven Verhaltens bei Menschen mit Intelligenzminderung kommen Antipsychotika und Antidepressiva in Frage. Im akuten aggressiven Notfall und kurzfristig können auch Benzodiazepine indiziert sein. Bei Naltrexon sind die Ergebnisse widersprüchlich [1, 17, 22, 30].

Die Studienlage spricht primär für typische und atypische Neuroleptika. Ein häufig beobachteter Nachteil einer neuroleptischen Medikation ist, dass Allgemeinbefinden und Leistungsfähigkeit durch die Medikation beeinträchtigt sind. Diese unerwünschten Wirkungen sind bei Gabe von atypischen Neuroleptika weniger zu erwarten, was für die Compliance im Kindes- und Jugendalter von großer Bedeutung ist.

Risperidon (z.B. Risperdal®) ist zugelassen für die Behandlung aggressiver Verhaltensstörungen bei geistig behinderten Kindern ab 5 Jahren; die Wirkung auf aggressives und selbstverletzendes Verhalten konnte in randomisierten doppelblinden, Plazebo-kontrollierten Studien nachgewiesen werden. Bei einem Körpergewicht <50 kg empfiehlt sich eine Anfangsdosierung von 0,25 mg Risperidon pro Tag, mit Dosiserhöhung nach individuellem Bedarf alle zwei Tage um 0,25 mg einmal pro Tag. Die Erhaltungsdosis liegt bei 0,25 bis 0,75 mg am Tag, ab einem Körpergewicht >50 kg bei 0,5 bis 1,5 mg Risperidon am Tag [4, 9, 10, 24, 36].

In der klinischen Praxis hat sich insbesondere für das Kindesalter Pipamperon (z.B. Dipiperon®) bewährt (30 mg p.o.; maximal 3- bis 4-mal täglich). Alternativ empfehlen sich Chlorprothixen (z.B. Truxal®) 50 mg p.o (2- bis 4-mal pro Tag wiederholbar) oder Levomepromazin (z.B. Neurocil®) 50 mg i.m./p.o. (2- bis 3-mal am Tag wiederholbar) [27].

Bei schwerer Aggressivität mit akuter Selbst- und Fremdgefährdung, extremer Unruhe mit und ohne psychotische Symptomatik eignet sich die Verabreichung von Haloperidol (z.B. Haldol®-Janssen) 10 mg i.v. oder i.m. und zusätzlich Lorazepam (z.B. Tavor®) 2 mg i.v. (cave: Lorazepam langsam [2 mg/min] injizieren). Die maximale Tagesdosis liegt für Haloperidol zwischen 30 und 60 mg und für Lorazepam zwischen 6 und 7,5 mg pro Tag [27].

Bei einer angstinduzierten Aggressivität, selbstverletzendem Verhalten und akuter Suizidalität ist ab Schulalter Lorazepam 2,5 mg sublingual (Tavor® expidet®) (3-mal am Tag wiederholbar) hilfreich. Dabei ist auf eine mögliche paradoxe Wirkung mit Aggressionssteigerung zu achten. Wegen des Abhängigkeitsrisikos muss die Benzodiazepin-Medikation nach einigen Tagen und spätestens nach etwa drei Wochen ausgeschlichen und bei Bedarf durch ein niedrig potentes Neuroleptikum ersetzt werden.

Fraglich ist die aggressionshemmende Wirkung von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI). Bei emotionaler Instabilität und Ängstlichkeit mit Selbstverletzung kommen Fluoxetin (z.B. Fluctin®) und Citalopram (z.B. Cipramil®; 20–40 mg/Tag) oder Sertralin (z.B. Zoloft®; 50–150 mg/Tag) in Frage. Im Einzelfall sind Lithiumsalz-Präparate und Valproinsäure hilfreich [27].

Hyperkinetisches Verhalten

Psychostimulanzien (vor allem Methylphenidat) sind auch bei Menschen mit Intelligenzminderung zur Therapie hyperkinetischen Verhaltens vorrangig indiziert.

Psychostimulanzien sind bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung allerdings seltener hinreichend wirksam als bei Kindern ohne Intelligenzminderung, und unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind bei Patienten mit Intelligenzminderung häufiger und dann auch stärker ausgeprägt [2, 3, 14–16].

Als Arzneistoffe erster Wahl lassen sich Psychostimulanzien empfehlen, als Arzneistoffe zweiter Wahl atypische Neuroleptika und als Arzneistoffe dritter Wahl Antidepressiva (zu Neuroleptika und Antidepressiva siehe Abschnitt zu Autoaggression).

Stereotypien

Stereotypien können durch Neuroleptika abgeschwächt werden. Beispiele für gebräuchliche Arzneistoffe sind Tiaprid (z.B. Tiapridex®), Pimozid (z.B. Orap®), Haloperidol und Risperidon [7].

Autistische Störungen

Es gibt keine störungsspezifische Medikation gegen die Kernsymptome autistischer Störungen. Medikamentöse Ansätze richten sich gegen Begleitstörungen und Komorbiditäten: Hyperaktivität, Impulskontrollstörungen, Epilepsie, Auto- und Fremdaggressionen sowie Depression sind relativ häufig Anlass für eine neuro-psychopharmakologische Behandlung [2].

Seit 2006 ist Risperidon in den USA zugelassen zur Behandlung von Aggression, selbstverletzendem Verhalten und Unruhezuständen bei Kindern mit Autismus [24, 26].

Am umfangreichsten sind die klinischen Erfahrungen mit Haloperidol [5]. Haloperidol ist dabei wirksam gegen Unruhezustände, Stereotypien und Hyperaktivität.

Fluvoxamin hat sich in einer Doppelblind-Studie bei Erwachsenen mit Autismus als wirksam erwiesen: Repetitives Verhalten und Aggressivität wurden gemindert, soziales Verhalten verbessert [25].

Auch Clomipramin (z.B. Anafranil®) erwies sich in einer Doppelblind-Studie als hilfreich in der Behandlung von stereotypen zwanghaften Verhaltensweisen [13]. Auf unerwünschte Wirkungen (QT-Verlängerung, Tremor, Tachykardie und auch zerebrale Anfälle) ist zu achten.

Buspiron (z.B. Busp®) scheint bei ängstlich aggressiver Verhaltensstörung eine Alternative zu sein [8, 21, 33].

Schlafstörungen

Schlafstörungen sind bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung häufig. Extrem selten sind jedoch Studien spezifisch zur medikamentösen Therapie dieser Symptomatik. Die Prinzipien der Behandlung und so auch der Medikation bei Schlafstörungen sind gleich denen bei Kindern und Jugendlichen ohne geistige Behinderung. Relativ häufig werden Antidepressiva zur Schlafregulation eingesetzt.

Die besten Studiendaten liegen zu Melatonin vor. In der randomisierten kontrollierten Cross-over-Studie von Coppola et al. [11] erwies sich die Gabe von Melatonin (in einer schnell freisetzenden Darreichungsform) wirksam in der Behandlung von Schlafstörungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Intelligenzminderung. Die maximale Tagesdosis betrug 9 mg pro Tag. Auch Jan und Pillar et al. berichteten von einer verbesserten Schlafregulation nach Melatonin-Einnahme [18, 29]. Pillar et al. führten bei zwei Patienten die Melatonin-Medikation in einer Dosierung von 3 mg pro Tag über 18 Monate nach Abschluss der Studie fort.

Diese Wirkung stellt sich in der Praxis nicht immer ein, bei Indikation ist aber ein Behandlungsversuch gerechtfertigt. Eine Zulassung hat Melatonin in einer Retardformulierung für Personen ab dem 55. Lebensjahr (Circadin®) – also nicht für das Kinder- und Jugendalter –, so dass eine Off-Label-Anwendung im Sinne eines individuellen Heilversuchs gegeben ist. Die schlafanstoßende Wirkung wird mit 1 bis 5 mg pro Tag erreicht. Die Einnahme erfolgt eine halbe bis eine Stunde vor dem Zubettgehen. Die individuelle Dosis wird in Schritten von je 1 mg titriert.

Andere psychische Störungen

Die medikamentöse Behandlung von Epilepsie mit Antiepileptika, von schizophren-psychotischen Störungen mit Neuroleptika, von Depression mit Antidepressiva, von Zwängen und Angststörungen mit SSRI sowie von bipolaren affektiven Störungen mit Neuroleptika, SSRI und Phasenprophylaktika erfolgt entsprechend den Medikationsrichtlinien bei Kindern und Jugendlichen ohne Intelligenzminderung [17, 23].

Therapie in Krisen- oder Notfallsituationen

Im Idealfall erfolgt eine medikamentöse Behandlung aufgrund einer Diagnose, die auf einer multiaxialen Diagnostik fußt, und einer Verhaltensanalyse, unter psychoedukativen Rahmenbedingungen (Erklärung der Diagnose, der therapeutischen Alternativen, Aufklärung zum Medikament und anderes), nach einer Einwilligungserklärung zur Einnahme des Patienten selbst und mit einem zugelassenen Präparat.

In der Notfallsituation wird dieses Ideal dagegen oft nicht erreicht [32]. Der Patient oder seine Bezugspersonen sind akut erregt und hilflos, extrem leidend, Selbst- oder Fremdgefährdung sind massiv, die Kräfte des Personals sind erschöpft, der Patient hat keine Krankheitseinsicht und vielleicht ist er auch nicht einwilligungsfähig. Die Angehörigen und das überforderte Personal erwarten schnellstmögliche Entlastung und die Abwendung von drohender Selbst- und Fremdgefährdung. Zeit und Möglichkeit zur Diagnostik sind kaum gegeben und eine Einwilligungserklärung ist nicht zu erhalten.

In einer solchen Krisensituation sind Versuchung wie Notwendigkeit groß, im „Schnellverfahren“ zum Medikament zu greifen. Deshalb ist schriftlich zu dokumentieren, inwieweit damit zunächst eine nur vorläufige Akutmedikation erfolgt, die es hinsichtlich Indikation, Wirkung und unerwünschter Wirkungen kurzfristig und zunächst kontinuierlich zu überprüfen gilt. Tatsächlich ist die Notfallmedikation in den meisten Fällen nur eine „Übergangsmedikation“.

Als Arzneistoffe kommen in Notfallsituationen hauptsächlich in Frage: Anxiolytika wie Lorazepam (beruhigend), Sedativa wie Diazepam (sedierend) und Neuroleptika wie Pipamperon, Melperon (z.B. Eunerpan®) oder Haloperidol (psychomotorisch beruhigend und sedierend) [32].

Unerwünschte ArzneimittelWirkungen

Aufgrund der oft eingeschränkten Verständigungsmöglichkeit bei Patienten mit geistiger Behinderung, der Mehrfachmedikation mit verschiedenen Arzneistoffen und der zerebralen Vulnerabilität ist in besonderer Weise auf unerwünschte Wirkungen der Pharmakotherapie zu achten. Bei fehlender Wirkung und starken unerwünschten Wirkungen ist ein therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) dringend indiziert. Häufige unerwünschte Wirkungen sind:

  • Das anticholinerge Syndrom: es tritt vorwiegend unter niederpotenten Neuroleptika und trizyklischen Antidepressiva auf und ist gekennzeichnet durch Erregung, motorische Unruhe, Dysarthrie, Desorientierung, Halluzinationen, zerebrale Anfälle, Obstipation, Harnverhalt, Fieber, Mydriasis und Tachykardie.
  • Obstipation: Ursachen können unter anderem niederpotente Neuroleptika, trizyklische Antidepressiva, Benzodiazepine und Carbamazepin sein. Sie ist bei Patienten mit schwerer geistiger Behinderung häufig und kann, wenn übersehen, durch abdominelle Beschwerden, über die der Patient nicht zu berichten vermag, zu uncharakteristischen Verhaltensweisen wie Unruhe, Depression oder Schlafstörungen führen.
  • Extrapyramidal-motorische Störungen wie Akathisie, stereotypes Blickverhalten, „parkinsonoide Psychomotorik“: Sie dürfen nicht als „Ausdruck der schweren geistigen Behinderung“ missdeutet werden.
  • Hyperaktivität, Unruhe oder aggressive Agitiertheit: diese sind insbesondere bei Antiepileptika, Benzodiazepinen und SSRI zu beachten.

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Weiterführende Literatur

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Schanze C (Hrsg.). Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Stuttgart: Schattauer, 2007.

*Der Artikel fußt auf dem Kapitel „Anmerkungen zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung“ in: Gerlach et al. Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen und Therapie. 2. Auflage. Wien: Springer, 2008.

Prof. Dr. med. Andreas Warnke, Universitätsklinikum Würzburg, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, E-Mail: Warnke@kjp.uni-wuerzburg.de

Pharmacotherapy of psychiatric disorders in children and adolescents with mental retardation.

Mental retardation itself is no psychiatric disorder and cannot be treated pharmacologically, whereas some of the associated psychiatric relevant symptoms and disorders respond to medication. Prevalence of psychiatric disorders in mentally handicapped people is 4-5 times higher than in the average population. Therefore, psychopharmacological medication is frequent during inpatient treatment, about 12 to 40%. The spectrum of psychiatric disorders in mentally handicapped individuals resembles the spectrum prevalent in the average population. However, specific aspects are to be considered in pharmacological treatment of mentally handicapped patients: difficulties in differential diagnosis, high rate of comorbidities, multiple medication, special effects and side effects of substances and problems of compliance.

Key words: Mental retardation, psychopharmacotherapy, medication, psychiatric disorders, children, adolescents, comorbidity

Psychopharmakotherapie 2010; 17(03)