Vom halbvollen und halbleeren Glas


Prof. Dr. Jörg Fegert, Ulm

Seit den 1990er Jahren ist national und international ein Anstieg der Psychopharmakaverordnungen für Kinder und Jugendliche festzustellen. Allerdings bestehen nach wie vor starke Unterschiede in nationalen Verordnungshäufigkeiten und Verordnungsmustern. Offenbar führen unterschiedliche Haltungen und wohl auch eine unterschiedliche Akzeptanz und Erwartungshaltung der Eltern und Jugendlichen in verschiedenen Ländern zur den jeweiligen Verhältnissen angepassten Verordnungsform. Generell ist in den USA die gleichzeitige Gabe mehrerer Psychopharmaka auch an Grundschulkinder eher die Regel als die Ausnahme. Diese Verordnungspraxis ist vor allem bei Kindern mit schweren impulsiv aggressiven Verhaltensweisen bei gleichzeitiger emotionaler Labilität zu beobachten. Solche Kinder werden in den USA zunehmend mit dem Label „childhood bipolar“ belegt, obwohl aus Langzeitstudien wenig Hinweise dafür bestehen, dass es sich um die gleiche nosologische Entität wie im Erwachsenenalter handelt. Konsequenterweise wurden die von der FDA angeforderten Studien zu atypischen Neuroleptika bei der Indikation Schizophrenie weltweit angelegt, während sie bei der Indikation „childhood bipolar“ nur in den USA und Kanada durchgeführt wurden. In Europa wird diese Diagnose, die sich auch nicht in den üblichen Klassifikationssystemen wiederfindet, in dieser breiten Form quasi nicht angewandt. Insofern ist es manchmal schwierig, amerikanische Daten und Studienergebnisse auf europäische Verhältnisse zu übertragen.

Durch die Zulassungsstudien zu „childhood bipolar“ liegen uns eine Fülle von Sicherheitsdaten zu atypischen Neuroleptika bei schweren Impulssteuerungsstörungen mit emotionaler Labilität bei Kindern vor. Diese Medikamente werden auch in Deutschland bei der gleichen Indikation eingesetzt, allerdings weitgehend off Label, und eine Zulassung für bipolare Störungen im Kindesalter würde dieses Problem im Kontext unserer diagnostischen Rahmenbedingungen in der ICD-10 auch nicht lösen.

Trotz der transatlantischen Unterschiede kann festgestellt werden, dass ausgehend von den USA, durch die dezidierte Gesetzgebung, welche dort vermehrt Studien zum Wohle von Kindern ermöglicht hat, sich auch die Situation in Europa in den letzten Jahren endlich zum Besseren gewandt hat. In Deutschland wurde mit der 12. AMG-Novelle endlich die Möglichkeit geschaffen, auch im Kindes- und Jugendalter Plazebo-kontrollierte, wissenschaftlichen Standards entsprechende Studien durchzuführen. Dies wird vor allem eine Auswirkung für neuere Substanzen haben, aber nicht das alte Problem des Off-Label-Use von schon zugelassenen Substanzen lösen. Bei neueren Substanzen müssen im Rahmen der europäischen Zulassung bereits Planungen zu Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen vorgelegt werden oder es muss begründet werden, warum eine Untersuchung zum Wohl von Kindern unterbleiben soll. Gerade im Bereich der neu entwickelten Antidepressiva sind hier zahlreiche Kinderstudien zu erwarten, so dass sich unsere empirische Datenbasis und Evidenzbasis in der Psychopharmakotherapie von Kindern in den nächsten Jahren deutlich bessern wird.

Gleichzeitig haben nationale und europäische Mechanismen zur Förderung der Untersuchung von in der Verordnung zentralen Altsubstanzen endlich gegriffen. In diesem Rahmen wird in Deutschland, vom Bundesforschungsministerium gefördert, eine multizentrische randomisierte Studie zum Einsatz von Johanniskraut bei Depression im Kindesalter durchgeführt und auf europäischer Ebene werden mehrere Studien zu Risperidon in einem internationalen Konsortium gefördert werden, um hier mehr Daten zur Wirksamkeit bei impulsiv aggressiven Verhaltensstörungen, bei normal begabten Kindern, aber auch zur Langzeitsicherheit zu erhalten. Es hat sich also viel getan in Bezug auf eine sichere psychopharmakologische Behandlung von Kindern und es bleibt noch mindestens ebensoviel zu tun.

Das vorliegende Schwerpunktheft bringt mit dem Beitrag von Kölch et al. zunächst einen Überblick über die Realität der psychotropen Medikation bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, unter anderem basierend auf Daten des KIGGS-Surveys des Robert-Koch-Instituts, wo direkt nach dem Medikamentenkonsum gefragt wurde und damit ein anderer Einblick gewonnen werden konnte, als dies über pharmakoepidemiologische Verordnungsdaten möglich ist. Gerlach et al. machen in ihrem Übersichtsreferat noch einmal deutlich, warum eigenständige Studien zum Wohle von Kindern und Jugendlichen notwendig sind, warum wir wissenschaftliche Daten für eine rationale Psychopharmakatherapie im Kindes- und Jugendalter brauchen, denn Kinder sind biologisch und physiologisch keine kleinen Erwachsenen. Ihr in Entwicklung befindlicher Organismus reagiert anders, so dass sich Wirkungs- und Nebenwirkungsprofile in unterschiedlichen Altersgruppen deutlich unterscheiden können, wie dies insbesondere bei den Antidepressiva in den letzten Jahren, auch am Beispiel der sogenannten „behavioural activation“ und „medikamenteninduzierten Suizidalität“, breit diskutiert wurde.

Gerade die Verordnung von Stimulanzien, die mit sehr hohen Effektstärken und wenig Nebenwirkungen im Kindes- und Jugendalter eine seit Jahrzehnten bewährte Therapie der ADHS darstellt, ist immer wieder in der öffentlichen Kritik. Insofern war es mir wichtig, auch in diesem Schwerpunktheft deutlich zu machen, wie sorgfältig hier in Deutschland die Güterabwägungen zur Medikation oder eben Nichtmedikation im Kindes- und Jugendalter erfolgen, und darauf hinzuweisen, dass mittlerweile zwar nicht hinreichend, doch zunehmend wichtige Langzeitbeobachtungen aus Studien vorliegen (Ludolph et al.).

Aufgrund der spezifischen deutschen Vorgeschichte mit Menschenversuchen und Tötungen von psychisch Kranken und geistig behinderten Kindern sind auch heute noch Studien an Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung in Deutschland mit einem besonderen Tabu belegt. Allerdings zeigen alle epidemiologischen Daten, dass Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung häufiger an neuropsychiatrischen Erkrankungen leiden. Dies gilt sowohl für neurologische Erkrankungen wie Epilepsien als auch für kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen. Hinzu kommt, dass diese Probleme oft wegen der verminderten Kommunikationsfähigkeit spät oder zu spät erkannt werden. Pharmakoepidemiologische Verordnungsdaten zeigen, dass an Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung konsequenterweise mehr Medikamente verschrieben werden. Insofern ist es abwegig, wenn man aus den genannten politischen Gründen angeblich zum Schutz dieser besonders vulnerablen Population bei der 12. AMG-Novelle Plazebo-kontrollierte Studien zum Wohle von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung in Deutschland a priori ausgeschlossen hat. Warnke weist in seinem Beitrag auf die Spezifika der Psychopharmakotherapie in dieser Gruppe hin.

Der Schwerpunkt dokumentiert also den Stand eines Feldes, welches sich im Fluss befindet. Noch lange ist die Datenlage im Kindes- und Jugendalter nicht mit der im Erwachsenenalter vergleichbar. Vielfach fehlt für spezifische Fragestellungen die Evidenz, und entwicklungspharmakologische Fragen werden zu selten im Langzeitverlauf untersucht (dies wäre in der Metapher das halbleere Glas). Auf der anderen Seite hat die pharmazeutische Industrie weltweit zahlreiche Studien an Kindern und Jugendlichen begonnen und haben nationale und internationale Förderorganisationen die Finanzierung entsprechender Studien definitiv zugesagt, so dass teilweise schon die Frage aufkommt, ob es für all diese Studien hinreichend Probanden und einwilligungsbereite Eltern geben wird (das ist das halbvolle Glas). Nach wie vor ist es sehr schwierig, in Deutschland Eltern davon zu überzeugen, ihr Kind an einer entsprechenden Studie teilnehmen zu lassen. Das Konzept des sogenannten Gruppennutzens ist nur manchmal zu vermitteln. Die meisten Eltern wollen jetzt und sofort die bestmögliche Therapie für ihre Kinder und wollen sie nicht als Teil eines „Experiments“ sehen. Dass nur durch solche Quasi-Experimente wie klinische Studien herausgefunden werden kann, was die beste Therapie sein kann, ist ihnen dann im Einzelfall leider egal. So kommt es immer häufiger dazu, dass wir in unseren Zulassungsverfahren auf Daten zurückgreifen, die in ganz anderen Teilen der Welt unter völlig anderen Bedingungen erhoben wurden. Eine profunde Information aller, die mit Psychopharmaka arbeiten und an der Anwendung von Pychopharmaka (kritisch) interessiert sind, wie die Leser dieser Zeitschrift, ist ein wichtiger Beitrag, denn Sie, liebe Leser, sind die geeigneten Multiplikatoren, um für diese Entwicklung Verständnis zu schaffen.

Psychopharmakotherapie 2010; 17(03)