S3-Leitlinie „Unipolare Depression“: Ist eine aktiv-abwartende Begleitung bei leichten Depressionen vertretbar?


Kommentar

Ulrich Hegerl, Leipzig

Die im November 2009 publizierte S3-Leitlinie „Unipolare Depression“ ist das Ergebnis eines über mehrere Jahre gehenden Konsensusverfahrens, in das viel Engagement, Fleiß und Expertenwissen geflossen ist. Entstanden ist eine wichtige und zentrale Orientierungshilfe bei der Betreuung depressiv Erkrankter in Deutschland. Die hier formulierten Empfehlungen basieren überwiegend auf empirisch belegten Evidenzen. Wie auch in anderen Bereichen der Medizin bleibt dennoch viel Spielraum für subjektiv gefärbte Gewichtungen, so dass, trotz des durchgehenden Bemühens um Objektivität, Faktoren wie Berufsinteressen oder Zusammensetzung der am Konsensusprozess Beteiligten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Während zu vielen Behandlungsaspekten der unipolaren Depression national und international wenig Dissens besteht, gibt es andere, zu denen heftig diskutiert wird. Zu letzteren gehören die Behandlung leichter Depressionen sowie der relative Stellenwert der Psycho- versus Pharmakotherapie. Die Brisanz dieser Themen ergibt sich

  • aus der im Vergleich zu mittelschweren und schweren Depressionen eher dünnen Datenlage bei hoher Prävalenz der Erkrankung,
  • aus der Größe des Versorgungsproblems und der damit verbundenen gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Bedeutung und auch
  • aus den unterschiedlichen Interessen und Erfahrungshorizonten der zuständigen Ärzte und Fachärzte einerseits und der psychologischen Psychotherapeuten andererseits.

Es folgen deshalb einige Überlegungen und Anmerkungen zu den Empfehlungen der S3-Leitlinien „Unipolare Depression“ in der Version 1.0 bezüglich der Behandlung von Patienten mit leichten Depressionen:

Die S3-Leitlinien nennen hier eine aktiv-abwartende Begleitung als Option, „wenn anzunehmen ist, dass die Symptomatik auch ohne aktive Behandlung abklingt“, und „Antidepressiva sollten nicht generell zur Erstbehandlung bei leichten depressiven Episoden eingesetzt werden, sondern allenfalls unter besonders kritischer Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses“. Es werden dann zwar eine Reihe von Gründen genannt, die beim individuellen Patienten doch für eine Pharmakotherapie sprechen; insgesamt kann aber nach diesen Leitlinien bei einem Patienten, der die Kriterien einer leichten Depression erfüllt, durchaus auch zunächst auf eine spezifische antidepressive Behandlung verzichtet werden. Wird eine spezifische Behandlung bei Patienten mit leichten Depressionen angeboten, so ist die Empfehlung bezüglich Psychotherapie eindeutiger als die für Pharmakotherapie formuliert. Hieraus ergeben sich zwei Fragen:

1. Haben Antidepressiva bei Patienten mit leichten Depressionen eine klinisch signifikante Wirkung?

In den Leitlinien wird unter H 3.3.1.1 die Wirksamkeit der Antidepressiva bei leichten Depressionen in Frage gestellt und als Belege die von Kirsch et al. [6] vorgelegte Metaanalyse sowie die Star*D-Studie genannt. Diese Aussage ist korrekturbedürftig. Die prinzipielle Wirksamkeit der Antidepressiva ist auch bei leichten Depressionen gut belegt, wie sogar in der zitierten Metaanalyse von Kirsch et al. festgestellt wird. Sie wird selbst für Dysthymien, bei denen die Schwere der depressiven Symptomatik geringer ist als bei der leichten Depression, nicht bestritten [7] und ist teilweise auch für Minore Depressionen belegt [3]. Die kürzlich publizierte MIND-Studie, in die hausärztliche Patienten mit leichteren und subdiagnostischen Depressionen (Minor Depression) eingeschlossen wurden, bestätigt ebenfalls die Wirksamkeit von Antidepressiva gegenüber Plazebo bei diesen Patienten [2]. Die große US-amerikanische Star*D-Studie ist in diesem Zusammenhang nicht geeignet, Aussagen zur Wirksamkeit zu machen, schon allein weil keine Plazebo-Kontrollgruppen verwendet wurden.

Zu diskutieren ist dagegen die Frage, ob die Größe des Behandlungseffekts klinisch relevant ist und eine Behandlung rechtfertigt. Zur Bestimmung der klinischen Relevanz oder klinischen Signifikanz werden oft vom britischen National Institute of Clinical Excellence (NICE) genannte Kriterien wie eine Plazebo-Verum-Differenz von mindestens 3 Punkten im Hamilton-Depressionsscore (HAMD-17) herangezogen. Da die Plazebo-Verum-Differenzen mit Zunahme der Depressionsschwere größer werden, sei es weil die Plazebo-Response bei schweren Depressionen geringer oder die Verum-Response größer wird, fällt es bei leichten Depressionen schwerer, dieses Kriterium zu ereichen (siehe Metaanalysen von [1, 5, 6]). Die unkritische Übernahme dieses willkürlich gesetzten Kriteriums ist jedoch zu hinterfragen. Aufgabe der in die Metaanalysen eingehenden Plazebo-kontrollierten, randomisierten Zulassungsstudien war ja primär der Nachweis der prinzipiellen Wirksamkeit des Antidepressivums und nicht dessen Wirkstärke.

Es gibt schlagende Argumente, warum das von NICE verwendete Kriterium als Maß der klinischen Signifikanz in hohem Maße irreführend und abzulehnen ist. Es kann zu einer deutlichen Unterschätzung des Unterschiedes zwischen aktiv-abwartender Begleitung versus antidepressiver Behandlung im Versorgungsalltag führen (siehe [4]):

  • Die hohen Plazebo-Responseraten in den modernen klinischen Studien ergeben sich teils aus dem hohen Aufwand und der intensiven Betreuung der Patienten und der damit verbundenen Aktivierung, Hoffnungsvermittlung und Suggestivwirkung. In der Routineversorgung mit der empfohlenen aktiv-abwartenden Begleitung – was immer das bei dem knappen Zeitbudget im Versorgungsalltag bedeuten mag – dürften die positiven Effekte geringer sein.
  • In großen klinischen Studien ist damit zu rechnen, dass ein hoher Prozentsatz der Studienteilnehmer die Medikamente nicht oder unregelmäßig einnimmt, was zu einer Unterschätzung der tatsächlich erzielbaren Behandlungseffekte führt. Completer-Analysen wären eine bessere Annäherung als die meist verwendeten Intent-to-treat-Analysen mit „Last observation carried forward“-Analysen.
  • Im Versorgungsalltag kann bei Non-Response nach zwei bis vier Wochen reagiert (z.B. Dosiserhöhung, Umstellung auf anderes Antidepressivum, Augmentationsstrategien) und so möglicherweise die Responserate erhöht werden.
  • In Ländern mit einem fehlenden breiten Krankenversicherungssystem haben Patienten Interesse an einem Studieneinschluss, um so kostenlose medizinische Betreuung zu erhalten. Dies lässt erwarten, dass ungeeignete Patienten in die Studien gelangen, verbunden mit einer hohen Plazebo-Responserate und einer Verwässerung der Therapieeffekte.
  • Eine kleine Plazebo-Verum-Differenz schließt nicht aus, dass es einzelne, sehr deutliche Responder gibt, denen eine segensreiche Behandlung nicht vorenthalten werden sollte. Ein Behandlungsversuch kann sinnvoll sein.
  • Das NICE-Kriterium der klinischen Relevanz berücksichtigt nicht den sehr deutlichen und gut belegten rückfallverhütenden Effekt der Antidepressiva. Ebenso werden bei leichten Depressionen mögliche Präventionseffekte hinsichtlich einer Progression zu einer schweren Depression als möglicher Nutzen nicht beachtet.
  • Schließlich stellt sich die Frage, ob eine Besserung um 2 Punkte im HAMD-17 als „nicht klinisch relevant“ bezeichnet werden darf. Er kann beispielsweise eine Veränderung von „Todeswunsch, denkt an den eigenen Tod“ zu „keine Suizidalität“ bedeuten.

Antidepressiva sind demnach bei leichten Depressionen wirksam und über die entscheidende Frage nach der klinischen Signifikanz der Wirkung bedarf es neuer, nicht auf den NICE-Kriterien fußender Ansätze.

2. Wie sind die Belege für die Wirksamkeit und die Größe des Behandlungseffekts bei Psychotherapie im Vergleich zur Pharmakotherapie?

Es stellt sich die Frage, ob die Präferenz der Psychotherapie bei leichten Depressionen, wie sich aus den Leitlinien ergibt, begründet ist. Auch hier muss wieder zwischen der Evidenzlage bezüglich der prinzipiellen Wirksamkeit und der klinischen Signifikanz der Effekte unterschieden werden. Ein meiner Ansicht nach zu wenig berücksichtigtes methodisches Problem bei Studien zur Wirksamkeit der Psychotherapie ist das der Kontrollgruppe und der fehlenden Verblindung. Dies kann an den Daten der oben erwähnten MIND-Studie verdeutlicht werden, da dies eine der wenigen Studien ist, in der sowohl eine Plazebo-Kontrolle als auch eine moderierte Selbsthilfegruppe als Kontrolle für die Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie, KVT) mitgeführt wurden. Während in der MIND-Studie nach 10-wöchiger Behandlung die SSRI-Plazebo-Differenz 2,3 Punkte im HAMD-17 betrug, war die Besserungsdifferenz zwischen KVT und moderierter Selbsthilfegruppe 4,8 Punkte und damit eindeutig klinisch bedeutsam. Dies war der Fall, obwohl die Besserung gegenüber Baseline in der SSRI-Gruppe (–6,8) nicht geringer als in der KVT-Gruppe (–6,7) war. Die Erklärung ist, dass der Verlauf in der moderierten Selbsthilfegruppe signifikant schlechter war als alle anderen Gruppen inklusive Plazebo. Dies war der Fall, obwohl die moderierte Selbsthilfegruppe verschiedene supportive Elemente enthielt und mit der gleichen zeitlichen Zuwendung wie die KVT einherging. Da bei Psychotherapie eine Verblindung hinsichtlich der aktiven Behandlung und der Kontrollbedingung weder der Patienten noch der Therapeuten möglich ist, ist in den Kontrollbedingungen kaum ein Plazeboeffekt (Plazebo: „Ich werde gefallen.“) zu erzielen. Es ist dagegen mit Nozeboeffekten zu rechnen, da es für einen depressiv Erkrankten eine sehr bittere Nachricht ist, „nur in der Kontrollgruppe“ zu sein. Wirksamkeitsbelege zur Psychotherapie können aus diesen methodischen Gründen nicht die gleiche Überzeugungskraft haben wie gute Plazebo-kontrollierte Antidepressiva-Studien, und die klinische Signifikanz der Psychotherapieeffekte ist noch schwieriger zu beurteilen. Eine Präferenz der Psychotherapie gegenüber der Pharmakotherapie bei leichteren Depressionen ist deshalb nicht gut begründet. Dies gilt umso mehr, da die Empfehlungen nicht zwischen Psychotherapieverfahren mit guten versus weitgehend fehlenden empirischen Evidenzen differenzieren.

Darf nach diesen Überlegungen und basierend auf fragwürdigen Kriterien der klinischen Signifikanz Patienten, die meist seit Wochen oder Monaten unter leichten Depressionen leiden, eine spezifische Behandlung vorenthalten und mit aktiv-abwartender Begleitung reagiert werden? Diese Frage steht vor dem Hintergrund, dass der Begriff „leichte Depression“ irreführend und verharmlosend ist und der subjektiven und objektiven Schwere der Erkrankung nicht gerecht wird. Selbst subdiagnostische Depressionen haben bereits einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität und das psychosoziale Funktionsniveau und gehen mit einer erhöhten Mortalität und einem erhöhten Suizidrisiko einher (siehe [3]). Hier liegt ein medizinisch und versorgungspolitisch wichtiges Diskussionsfeld sowie nach meiner Ansicht ein Überarbeitungsbedarf zu den S3-Leitlinien „Unipolare Depression“. Die Empfehlung, auch bei sogenannten leichten Depressionen generell eine Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie einzuleiten, ist gut begründbar.

Literatur

1. Fournier JC, DeRubeis RJ, Hollon SD, Dimidjian S, et al. Antidepressant drug effects and depression severity. A patient-level meta-analysis. JAMA 2010;303:47–53.

2. Hegerl U, Hautzinger M, Mergl R, Kohnen R, et al. Effects of pharmacotherapy and psychotherapy in depressed primary-care patients: a randomized, controlled trial including a patients’ choice arm. Int J Neuropsychopharmacol 2009: (E-pub ahead of print).

3. Hegerl U, Schönknecht P. Subdiagnostische Depressionen. Gibt es Behandlungen mit klinisch relevanten Effekten? Nervenarzt 2009;80:532–9.

4. Hegerl U, Mergl R. The clinical significance of antidepressant treatment effects cannot be derived from placebo-verum response differences. J Psychopharmacol 2009 Oct 13; doi: 10.1177/0269881109106930.

5. Khan A, Leventhal RM, Khan SR, Brown WA. Severity of depression and response to antidepressants and placebo: an analysis of the Food and Drug Administration database. J Clin Psychopharmacol 2002;22:40–5.

6. Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, et al. Initial severity and antidepressant benefits: a meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Med 2008;5:e45.

7. Lima MS, Moncrieft J. A comparison of drugs versus placebo for the treatment of dysthymia. Cochrane Library, 2001: Issue 3.

Die Zusammenfassung zur S3-Leitlinie und der Kommentar sind auch erschienen in Arzneimitteltherapie 2010;28:158–68.

Psychopharmakotherapie 2010;17:146–8.

Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Leipzig, Semmelweisstraße 10, 04103 Leipzig, E-Mail: ulrich.hegerl@medizin.uni-leipzig.de

Psychopharmakotherapie 2010; 17(03)