Delirante Symptomatik bei Absetzen von Venlafaxin


Ralf Kozian und Armin Kowarsch, Stadtroda

Eine 57-jährige Patientin mit einer bipolar-affektiven Störung vom Typ II entwickelte während der Phase des Absetzens von Venlafaxin eine delirante Symptomatik mit ausgeprägten Schlafstörungen, optischen Halluzinationen, einer nächtlichen Desorientiertheit und einer nächtlichen Bewusstseinstrübung. Nach Wiederansetzen von Venlafaxin bildeten sich die nächtliche Desorientiertheit, die optischen Halluzinationen und die nächtliche Bewusstseinstrübung zurück. Nach Zugabe von Olanzapin sistierten nachfolgend auch die Schlafstörungen. Aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Absetzen von Venlafaxin und dem Auftreten der deliranten Symptomatik sowie aufgrund des Verschwindens der nächtlichen Desorientiertheit, der optischen Halluzinationen und der nächtlichen Bewusstseinstrübung nach Wiederansetzen von Venlafaxin wird ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Absetzen von Venlafaxin und dem Auftreten der Symptome angenommen.
Schlüsselwörter: Delirium, Venlafaxin
Psychopharmakotherapie 2010;17:149–50.

Absetzphänomene können sich nach abruptem Absetzen von trizyklischen Antidepressiva, Venlafaxin und Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) entwickeln. Das Absetz-Syndrom von SSRI wurde operationalisiert und ist durch folgende Kriterien gekennzeichnet:

  • Beendigung der SSRI-Gabe nach mindestens einmonatiger Anwendung
  • Entwicklung der Symptome innerhalb von einer Woche nach Absetzen
  • Ausschluss einer anderen kausalen Bedingung für die Symptome [3]

Mögliche Symptome lassen sich in psychische Symptome (z.B. Konzentrationsdefizit, Angst, Agitation, Depersonalisation) und körperliche Symptome (Schlafstörungen, gastrointestinale Symptome, ataktische oder Gleichgewichtsstörungen, sensible Störungen sowie grippeähnliche Symptome wie Lethargie, Myalgie, Rhinorrhö) unterteilen [4].

Wir berichten im Folgenden vom Auftreten einer deliranten Symptomatik nach stufenweisem Absetzen von retardiertem Venlafaxin.

Kasuistik

Eine 57-jährige Patientin mit einer im 33. Lebensjahr manifestierten bipolar-affektiven Störung vom Typ II kam mit einer depressiven Symptomatik, die sich ambulant nicht mehr behandeln ließ, zur stationären Aufnahme. Zu diesem Zeitpunkt erhielt die Patientin folgende Medikation:

  • 20 mg/Tag Citalopram
  • 300 mg/Tag Venlafaxin (retardiert)
  • 3,5 Tabletten/Tag Lithiumcarbonat zu je 8 mmol Lithium
  • 100 mg/Tag Pipamperon

Der Lithium-Blutspiegel betrug bei Aufnahme 0,56 mmol/l, es erfolgte daher eine Dosisanpassung auf 4 Tabletten pro Tag, entsprechend 32 mmol Lithium pro Tag. Citalopram wurde am dritten Tag des Aufenthalts abgesetzt, die delirante Symptomatik manifestierte sich allerdings erst etwa zwei Wochen später, sodass ein Zusammenhang zwischen dem Absetzen von Citalopram und dem Auftreten der Symptome unwahrscheinlich ist. Die Gabe von Venlafaxin erfolgte bereits seit etwa 8 Monaten und war ambulant von 150 mg/Tag auf 300 mg/Tag gesteigert worden. Aufgrund mangelnder Response war ambulant zusätzlich Citalopram verordnet worden.

Bei dieser Konstellation wurde – bei mangelhafter antidepressiver Wirkung von Venlafaxin – nach einer Wash-out-Phase der Einsatz von Moclobemid vorbereitet. Hierfür wurde Venlafaxin unter Lorazepam-Zusatz schrittweise über einen Zeitraum von insgesamt 8 Tagen abgesetzt. Das Absetzen erfolgte dabei in 75-mg-Schritten: alle 2 Tage 75 mg/Tag weniger, beginnend 14 Tage nach Aufnahme.

Bei einer Dosis von 150 mg/Tag Venlafaxin am 6. Tag nach Beginn des Absetzens von Venlafaxin manifestierten sich ausgeprägte Schlafstörungen und schließlich eine Umkehrung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Bei weiterer Reduktion der Venlafaxin-Dosis waren diese progredient und es trat eine delirante Symptomatik hinzu. In dieser Zeit manifestierte sich zusätzlich zu den deutlichen Ein- und Durchschlafstörungen eine Unruhe der Patientin in den Nachtstunden in Form einer Angetriebenheit, außerdem war die Patientin in den Nachtstunden zu Zeit, Ort und zur Situation desorientiert und hatte darüber hinaus Merkfähigkeitsstörungen und eine Bewusstseinstrübung, zudem traten optische Halluzinationen auf. In den Tagesstunden jedoch war die Patientin orientiert und weniger angetrieben. Sie konnte tagsüber schlafen. Diese Symptomatik hielt in wechselnder Intensität etwa 7 Tage an.

Die Therapie mit Lithium und Pipamperon wurde belassen. Es erfolgte eine zusätzliche Medikation mit Olanzapin in einer Dosierung von 2,5 mg/Tag, die gesteigert wurde auf eine Dosis von 15 mg/Tag veteilt auf zwei Einnahmezeitpunkte.

Die klinische Untersuchung, Labor- und cCT-Diagnostik (kraniale Computertomographie) erbrachten keinen richtungsweisenden Befund, insbesondere lag keine Lithiumintoxikation vor.

Nach Wiederansetzen von Venlafaxin (75 mg/Tag) und Gabe von Olanzapin bildeten sich die nächtlichen Symptome Unruhe, Desorientiertheit und Halluzinationen sowie die Merkfähigkeitsstörung und die Bewusstseinstrübung innerhalb von wenigen Tagen vollständig zurück. Die Schlafstörungen und die Umkehrung des Schlaf-Wach-Rhythmus remittierten vollständig innerhalb von 14 Tagen.

Diskussion

Die reversible delirante Symptomatik der Patientin manifestierte sich während des stufenweisen Absetzens von Venlafaxin und bildete sich nach Wiederansetzen von Venlafaxin in geringerer Dosierung als zuvor und unter Zusatz von Olanzapin wieder zurück. Es ist daher davon auszugehen, dass die delirante Symptomatik sehr wahrscheinlich eine Folge des Absetzens von Venlafaxin war. Wir haben für das Wiederansetzen von Venlafaxin eine geringe Dosis gewählt, da unter einer Dosierung von 300 mg/Tag kein ausreichender antidepressiver Effekt erzielt werden konnte und eine Umstellung der Medikation geplant war. Es muss spekulativ bleiben, ob eine höhere Venlafaxin-Dosis zu einer schnelleren Remission geführt hätte. Gegen eine höhere Dosis sprach, dass auf die Patientin dann erneut eine Umstellung von hochdosiertem Venlafaxin auf ein alternatives Antidepressivum zugekommen wäre mit der Gefahr der erneuten Auslösung eines Delirs. Bei der Gabe von Olanzapin zur Behandlung der deliranten Symptomatik orientierten wir uns an einer Untersuchung von Lonergan et al. [6].

Ein delirantes Syndrom ist bei Absetzen von SSRI [4] und von Venlafaxin [8] möglich. Es liegt zudem eine Mitteilung vor, in der das Auftreten einer deliranten Symptomatik allerdings bei neuer Gabe von Venlafaxin beschrieben wird [5]. Der hier geschilderte Schweregrad der Symptomatik liegt deutlich über dem, womit bei Absetzen von Antidepressiva (speziell SSRI) zu rechnen ist [4]. Die Symptomatik manifestierte sich im vorliegenden Fall bei schrittweisem Absetzen von retardiertem Venlafaxin, dessen Halbwertszeit (HWZ) mit 12 bis 14 Stunden angegeben wird [2]. Aufgrund der etwas geringeren Halbwertszeit von retardiertem Venlafaxin im Vergleich zu anderen Antidepressiva wie Fluoxetin (HWZ 4–6 Tage, HWZ des aktiven Metaboliten Norfluoxetin 4–16 Tage) oder Sertralin (HWZ 26 h) ist das Auftreten von Absetzphänomen zwar wahrscheinlicher; der Absetzprozess erfolgte jedoch schrittweise – also nicht abrupt – über einen Zeitraum von 8 Tagen, wenn auch von einem hohen Ausgangsniveau von 300 mg/Tag. Es muss daher von einer erhöhten Vulnerabilität der Patientin ausgegangen werden, die sich aus dem schon etwas fortgeschritteneren Lebensalter der Patientin ergeben könnte. Beachtet werden muss zudem, dass die Lithiumgabe bei Blutspiegeln im therapeutischen Bereich kontinuierlich weiter erfolgte und einen Einfluss auf die Entstehung der Symptomatik gehabt haben könnte. Entsprechende Berichte, die die Interaktion von Venlafaxin mit Lithium, zwar nicht beim Absetzen von Venlafaxin, sondern bei Auslösung eines toxischen Serotoninsyndroms, betreffen, liegen bereits vor [1, 7].

Literatur

1. Adan-Manes J, Novalbos J, Lopez-Rodriguez R, Ayuso-Mateos JL, et al. Lithium and venlafaxine interaction: a case of serotonin syndrome. J Clin Pharm Ther 2007;31:397–400.

2. Benkert O, Hippius H. Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie. 7. Auflage. Berlin: Springer-Verlag, 2009.

3. Black K, Shea C, Dursun S, Kutcher S. Selective serotonin reuptake inhibitor discontinuation syndrome: proposed diagnostic criteria. J Psychiatry Neurosci 2000;25:255–61.

4. Blum D, Moldonado J, Meyer E, Lansberg M. Delirium following abrupt discontinuation of fluoxetine. Clin Neurol Neurosurg 2008;110:69–70.

5. Howe C, Ravasia S. Venlafaxine-induced delirium. Can J Psychiatry 2003;48:129.

6. Lonergan E, Britton AM, Luxenberg J, Wyller T. Antipsychotics for delirium. Cochrane Database Syst Rev 2007;18:CD005594.

7. Mekler G, Woggon B. A case of serotonin syndrome caused by venlafaxine and lithium. Pharmacopsychiatry 1997;30:272–3.

8. van Noorden MS, Vergouwen ACM, Koerselman GF. Delirium bij afbouw van venlafaxine. Ned Tijdschr Geneeskd 2002;146:1236–7.

Dr. med. Ralf Kozian, Dr. med. Armin Kowarsch, Asklepios-Fachklinik Stadtroda, Bahnhofstr. 1a, 07646 Stadtroda, E-Mail: r.kozian@asklepios.com

Delirium after discontinuation of treatment with venlafaxine

A 57 year-old woman suffering from a bipolar affective disorder II developed during a phase of tapering and discontinuation of venlafaxine delirious symptoms with insomnia, visual hallucinations, nightly disorientation and a nightly impairment of consciousness. After readministration of venlafaxine in a small dose the visual hallucinations, the disorientation and the impairment of consciousness stopped. After adding on olanzapine the insomnia stopped as well.

Due to temporal connection of the dose reduction of venlafaxine with the appearance of the symptoms described and the readministration of venlafaxine with the major disappearance of these symptoms a causal connection of tapering venlafaxine with the symptoms mentioned is assumed.

Key words: Delirium, venlafaxine

Psychopharmakotherapie 2010; 17(03)