Paradigmenwechsel in der Epilepsietherapie

Neue DGN-Leitlinien sorgen für Diskussionsstoff


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Die neuen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur antikonvulsiven Therapie haben international für teilweise lebhafte Diskussionen gesorgt. Prof. Christian Elger, Bonn, der federführend an der Entstehung beteiligt war, diskutierte einige Aspekte aus den neuen Empfehlungen auf dem 3. Valentinssymposium.

Eine wesentliche Änderung der Leitlinien liegt zunächst darin, so Elger, dass die Epilepsiedefinition konkretisiert wird, die in vielen Fällen eine Behandlung nach dem ersten Anfall erlaubt. Allerdings muss vor der Therapie die Diagnose sicher sein. Der Hinweis auf diese – eigentlich banale – Regel erfolgt nicht ohne Grund. In die Spezialkliniken wird ein konstanter Anteil von 10 bis 20% sogenannter pharmakoresistenter Epilepsie-Patienten überwiesen, die gar nicht an einer Epilepsie leiden, mahnte Elger. Die Leitlinien plädieren in der Anfallssituation für eine stärkere Beachtung der Augendiagnostik. Angesichts oft unklarer Berichte von Augenzeugen sollte man im Zweifelsfall mit dem Foto-Handy schnell ein Bild vom Gesicht (Augenstellung) machen.

Die Leitlinien definieren auch die Voraussetzungen, unter denen eine Therapie im Erwachsenenalter bereits nach dem ersten Anfall stattfinden kann. Eine Syndromzuordnung nach einem ersten Anfall ist nur dann möglich, wenn spezifische Befunde im EEG, beispielsweise generalisierte Spike-Wave-Muster, vorliegen oder ein für ein bestimmtes Syndrom charakteristischer MRT-Befund, beispielsweise eine Ammonshornsklerose, erhoben werden kann. Ein tonisch-klonischer generalisierter Anfall oder „Absencen“ als isoliertes Phänomen reichen für die Syndromzuordnung nicht aus (Empfehlungsgrad A) (Tab. 1).

Tab. 1. Entscheidungskriterien für eine Therapie nach dem ersten Anfall

Sichere Hinweise

MRT-Befund mit epileptogenen Zonen (z.B. Hirnrinde)

EEG-Befund mit spezifischen Potenzialen (z.B. 3/s Spike Waves)

Möglicher Hinweis

Fokaler Anfall

Mehrere Anfälle oder Serie

Kein Hinweis

Schweregrad des Grand Mal

„Aufwach“-Grand Mal

MRT: erhöhte Anforderungen an Untersucher und Befunder

Die technischen Verbesserungen bei der Kernspintomographie (MRT) erhöhen die Treffsicherheit bei der Epilepsiediagnose und der Indikationsstellung für eine chirurgische Intervention erheblich. Um dieses Potenzial wirklich auszuschöpfen, sind jedoch deutliche Verbesserungen bei der Untersuchung selbst, beispielsweise keine temporale Angulierung statt Standard-Angulierung, sowie bei der Befundung nötig, mahnte Elger, Seine Erfahrungen zeigen, dass viele Patienten, die mit einem „unauffälligen“ MRT an seine Klinik überwiesen wurden, bei einer Nachbefundung doch auffällige Veränderungen zeigten. Das hat auch therapeutische Konsequenzen, denn mit einem positiven MRT-Befund lassen sich auch die operativen Möglichkeiten viel besser einschätzen.

Empfehlungsgrad A: Hohe Empfehlungsstärke aufgrund starker Evidenz oder bei schwächerer Evidenz aufgrund besonders hoher Versorgungsrelevanz

Empfehlungsgrad B: Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer Evidenz oder bei schwacher Evidenz mit hoher Versorgungsrelevanz oder bei starker Evidenz und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz

Die Leitlinien betonen, dass die pharmakologische Epilepsietherapie in den meisten Fällen nicht kurativ ist, sondern palliativ, da sie nur die Erregungsschwelle erhöht. Dies muss vor allem bei einem Absetzversuch berücksichtigt werden. Für das Ende einer antiepileptischen Therapie ist nicht die Dauer der Anfallsfreiheit maßgeblich. Vielmehr sollte geprüft werden, ob die epilepsieauslösende Ursache wirklich entfallen ist. Nur Patienten, die dieses Kriterium erfüllen, haben nach Ende der Therapie ein geringes Rückfallrisiko (Empfehlungsgrad B). Bei einer genetischen Disposition, wie sie bei vielen idiopathisch generalisierten Epilepsien vorliegt, oder bei hirnstrukturellen Veränderungen muss man beim Absetzen der Medikation mit erneuten Krampfanfällen rechnen.

Verträglichkeit vor Wirksamkeit?

In Deutschland machen die „neuen“ Antiepileptika nur etwa 25% der Verschreibungen aus, die „älteren“ Substanzen, insbesondere Carbamazepin und Valproinsäure dominieren weiterhin. Man muss sich jedoch fragen, so Elger, ob die Altsubstanzen diese präferenzielle Anwendung in der Routineversorgung heute noch rechtfertigen.

Die Leitlinien-Autoren sind hier der Ansicht, dass bei der Pharmakotherapie Verträglichkeits- und Interaktionsaspekte stärker beachtet werden müssen. Denn rund zwei Drittel aller erwachsenen Epilepsiepatienten nehmen ihre Medikamente lebenslang ein. Eine Enzyminduktion oder -hemmung kann bei Kotherapien die Überlebensrate negativ beeinflussen, beispielsweise bei Tumorerkrankungen – immerhin 25% der erwachsenen Epilepsiepatienten erhalten irgendwann eine zytostatische Tumortherapie. Daher sollte in der Pharmakotherapie die Entscheidung nicht (vorrangig) auf der Basis der vermeintlichen besseren Wirksamkeit getroffen werden, so Elgers Folgerung.

Dies ist ein deutlicher Paradigmenwechsel, der international heftige Kritik ausgelöst hat. Elger beklagte in diesem Zusammenhang die wachsende Neigung, die Wirksamkeit von Antiepileptika vorrangig anhand von Metaanalysen zu beurteilen. Dabei werden insbesondere in der Erwachsenen-Epileptologie wichtige Aspekte der Originalstudien unterschlagen. Die in den Metaanalysen berechneten Mittelwerte zur Effektivität unterliegen oft großen Schwankungsbreiten und berücksichtigen nicht die unterschiedliche Phänomenologie der Erkrankung. Elger: „Die Statistik hilft Ihnen bei einzelnen Patienten nicht weiter!“

Rabattverträge kontra Patientennutzen

Bei vielen Patienten hat der durch Rabattverträge erzwungene häufige Wechsel Unruhe hervorgerufen. Der Einsatz von Generika kann zwar sinnvoll sein. Wechselnde Bioverfügbarkeit und Wirkstoffspiegel im Blut begünstigen jedoch das Wiederauftreten von Anfällen. Für Lamotrigin wurden statistisch signifikante Unterschiede zwischen dem Originalwirkstoff und verschiedenen Generika nachgewiesen. Die Möglichkeit, mit dem Aut-idem-Kreuz unkontrollierte Umstellungen zu verhindern, funktioniert in der Praxis nicht. Dies begründet eine besonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung und Aufklärungspflicht über das Gefährdungsrisiko, die Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit und die sozialen Folgen (A). Die Neu- und Dauereinstellung auf ein bestimmtes Generikum ist aber unproblematisch (A).

Quelle

3. Valentinssymposium Epilepsie, Berlin, 13.–15. Februar 2009, veranstaltet von Eisai GmbH.

Diener HC. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4. überarbeitete Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2008:654ff.

Psychopharmakotherapie 2009; 16(04)