Dichtung und Wahrheit


Auch in der Psychopharmakotherapie liegen sie nicht unbedingt nebeneinander

Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt/M.

Auch die neue Auflage des Arzneiverordnungsreports setzt sich wiederum kritisch auf der Basis der GKV-Daten mit der Praxis der Arzneimittelverordnungen auseinander. Wie in jedem Jahr stehen die Psychopharmaka wieder besonders im Fokus. Erfreulicherweise hat sich J. Fritze (Pulheim) kritisch mit den Bewertungen des Arzneiverordnungsreports zu diesem Thema auseinandergesetzt. Diese beginnen, wie er es formuliert, mit einem eher fundamentalistischen Angriff der Autoren gegen die Psychopharmaka beziehungsweise die Psychopharmakotherapie, die sie zu dem folgenden Statement verleitet: „Die Beurteilung der Effektivität der Behandlung mit Psychopharmaka ist nach wie vor problematisch. Die Überlegenheit von Psychopharmaka gegenüber Plazebo wurde 4,9fach häufiger in industriegesponsorten klinischen Studien dargelegt, bei denen mindestens ein Autor einen ‚financial conflict of interest’ angegeben hatte. Daher sind Studien mit Psychopharmaka mit Vorsicht und bezüglich ihrer Validität für die therapeutische Praxis kritisch zu interpretieren“. Dieses Zitat, das letztlich impliziert, dass sich die Psychopharmaka hier von anderen Medikamentengruppen unterscheiden, wird scheinbar mit einer Arbeit von Perlin et al. (2005) belegt. Tatsächlich sagen aber Perlin et al. ganz explizit in ihrer Arbeit, dass die Psychopharmaka sich wie alle anderen Arzneimittel im Hinblick auf mögliche „conflict of interest“-Situationen verhalten. Leider, und dies zeigt Prof. Fritze in seinem Beitrag sehr gründlich, aber eher zurückhaltend auf, zieht sich diese Art der manipulierenden Darstellung durch geschickten Umgang mit Daten durch den gesamten Beitrag zur Therapie mit Psychopharmaka. Dies lässt beim Leser natürlich die Frage aufkommen, welche Gründe zu diesen „fundamentalistischen“ oder „ideologisch“ beeinflussten Darstellungen geführt haben. Es ist nicht Aufgabe des vorliegenden Editorials, hier weiter nachzufragen, nur sollte vielleicht die Empfehlung ausgesprochen werden, dass sich die Autoren etwas intensiver mit dem Leidensdruck und den Behandlungsproblemen psychiatrischer Patienten auseinandersetzen und sich der Verantwortung etwas mehr bewusst werden, die sie für eine nicht gerechtfertigte Verstärkung der grundlegenden Ablehnung von Psychopharmaka in weiten Kreisen der Bevölkerung und damit der Patienten haben. Der hier immer wieder latent zu findende Vorwurf einer Überversorgung unserer psychiatrischen Patienten mit Psychopharmaka deckt sich absolut nicht mit unseren aktuellen Verordnungsdaten und wirft natürlich die Frage auf, wie schlecht es denn eigentlich unseren französichen Nachbarn gehen muss, denen schon seit vielen Jahren fast doppelt so viele Psychopharmaka verordnet werden wie unseren Patienten.

Wie sehr die Darstellung des Arzneiverordnungsreports und die Realität auseinanderklaffen, zeigt auch die Arbeit von Laux und Friede, in der Daten einer großen Anwendungsbeobachtung zu Escitalopram bei Patienten mit komorbider Angst und Depression dargestellt werden. Die gute Wirksamkeit des Antidepressivums bei diesen Patienten ist bedingt durch das Studiendesign nicht überraschend, deckt sich aber immerhin mit den Ergebnissen Plazebo-kontrollierter Doppelblind-Studien. Sehr viel wichtiger vor allen Dingen im Kontext der angeblichen Problematik der Psychopharmakabehandlung sind die Aussagen über Akzeptanz und Verträglichkeit, die für die Substanz sehr gut waren. Dies spiegelt sich auch in dem sehr großen Anteil an Patienten wider, der bei Abschluss der Anwendungsbeobachtung die Behandlung weiterführte. Was hier „problematische“ Therapieerfolge sind, müssten die Autoren des Arzneiverordnungsreports noch im Detail darlegen. Die betroffenen Patienten, aber auch die an der Studie beteiligten Ärzte, haben es sicher anders gesehen.

Praxisrelevante Daten liefert auch die Arbeit von Neuner et al. (Regensburg), die Outcome-Kriterien wie Lebensqualität, Befindlichkeit und andere subjektive Parameter bei stationären schizophrenen Patienten unter Therapie mit typischen und atypischen Antipsychotika untersucht haben. Interessanterweise, und im Gegensatz zu kontrollierten randomisierten Studien, waren diese subjektiven Parameter bei beiden Gruppen nicht unterschiedlich. Härtere Parameter wie unerwünschte Arzneimittelwirkungen, besonders EPS, wurden bei dieser Untersuchung nicht in die Bewertung einbezogen. Auch unter Berücksichtigung einiger methodischer Probleme, zum Beispiel der relativ kleinen Patientenzahl für eine solche Untersuchung, zeigen die Daten doch recht deutlich, dass die Wahl einer älteren typischen Substanz unter den der Studie adhärenten naturalistischen Bedingungen bei diesen selektionierten Patienten nicht zu Einschränkungen im Hinblick auf Lebensqualität im Vergleich zu Atypika-behandelten Patienten führt. Wichtig für den Leser ist die Tatsache, dass relativ wenige Typika-Patienten (16) in die Studie eingeschlossen wurden im Vergleich zu den Atypika-Patienten (82), was den Selektionsprozess belegt.

Die Übersicht von Schäbitz (Münster) beschäftigt sich mit den Grundlagen und der klinischen Wirksamkeit von CDP-Cholin in der Behandlung des Schlaganfalls, einer Substanz, die als Zwischenprodukt oder Baustein für die Synthese von Zellmembranen angesehen werden kann und aufgrund dieser Herkunft in Deutschland als diätetisches Lebensmittel (ergänzende bilanzierende Diät) erhältlich ist. Die Substanz hat in verschiedenen Untersuchungen an Schlaganfall-Patienten in Übereinstimmung mit einer ganzen Reihe von präklinischen Untersuchungen an Zell- und Tiermodellen einen schützenden Effekt auf die neurologischen Ausfallerscheinungen gezeigt. Für die aktuellen therapeutischen Möglichkeiten bei uns ist interessant, dass offensichtlich auch bei der oralen Anwendung nach Schlaganfall Verbesserungen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe gezeigt werden konnte. Der Autor vertritt die Meinung, dass trotz fehlender Zulassung als Arzneimittel, aber auf der Basis der gut belegten problemlosen Verträglichkeit die Substanz eine Bereicherung der relativ beschränkten therapeutischen Möglichkeiten nach einem Schlaganfall darstellt.

Wie immer wird auch das vorliegende Heft von einer ganzen Reihe von Kurzberichten zu aktuellen wissenschaftlichen Publikationen und Kongressen abgerundet.

Als Herausgeber würde ich mich besonders freuen, wenn der kritische Beitrag von Fritze zu den Ausführungen des Arzneiverordnungsreports den Leser zu möglichst vielen Stellungnahmen und Kommentaren verleiten könnte, was unsere Zeitschrift ganz wesentlich bereichern würde.

Psychopharmakotherapie 2009; 16(03)