Vom neuen Wirkungsmechanismus bis zur Polypharmazie


Das Spektrum der Psychopharmakotherapie

Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt

Die Entwicklung neuer Wirkstoffe im Bereich neuropsychiatrischer Erkrankungen ist in den zurückliegenden Jahren nur sehr langsam vorangekommen und nur wenige neue Substanzen haben die Markteinführung erreicht. Davon waren sicher einige nur Teilinnovationen, aber mit zum Teil deutlicher und sehr gut belegter therapeutischer Relevanz. Umso erfreulicher ist es, dass wir in der Rubrik Übersichten zwei neue Substanzen vorstellen können, die nicht nur von ihrer chemischen Struktur, sondern auch von ihrem pharmakologischen Wirkungsmechanismus echte Innovationen im Bereich der jeweiligen therapeutischen Möglichkeiten bieten. Die erste Substanz ist das Agomelatin, ein Melatonin-Rezeptoragonist und 5-HT2C-Rezeptorantagonist, der zur Therapie depressiver Erkrankungen entwickelt wurde. Im Übersichtsartikel von Eser et al. (München) wird diese neue Substanz im Hinblick auf ihre klinische Datenlage und ihr Verträglichkeitsprofil sehr gründlich und ausführlich dargestellt. Neben guter Wirksamkeit in Plazebo-kontrollierten und Vergleichssubstanz-kontrollierten klassischen Therapiestudien zeichnet sich Agomelatin vor allen Dingen auch durch ein sehr günstiges Nebenwirkungsprofil aus, was die Substanz positiv von vielen anderen vorhandenen antidepressiven Therapiemöglichkeiten abhebt. Agomelatin stellt damit das erste Antidepressivum mit dem neuartigen Wirkungsmechanismus Melatonin-Rezeptoragonismus dar, wenn auch der im Molekül vorhandene 5-HT2C-Antagonismus auf eine Beteiligung des für die Depressionsbehandlung bestens bekannten serotonergen Systems hinweist.

Eine weitere neuartige Substanz ist Vareniclin, ein Agonist an neuronalen Nicotin-Rezeptoren mit guter zentralnervöser Wirksamkeit, das letztes Jahr zur Behandlung der Tabakentwöhnung in die Therapie eingeführt wurde. In einer ganzen Reihe von klinischen Untersuchungen gegen Plazebo, aber auch gegen Bupropion als eingeführtes Standardtherapeutikum, konnte Vareniclin seine Wirksamkeit recht überzeugend belegen. Substantielle Plazebo/Verum-Unterschiede in der Anzahl der abstinenten Patienten während oder am Ende der Behandlungszeit (12 Wochen), aber auch für die darauf nachfolgenden Wochen (bis Woche 52), zeigen eine gute unterstützende Wirkung der Substanz in der Tabakentwöhnung. So waren viele Wochen nach Absetzen der Therapie mit Vareniclin in zwei großen klinischen Untersuchungen immer noch über 20 % der Patienten abstinent im Vergleich zu 15 % bzw. 16 % nach Behandlung mit Bupropion oder im Vergleich zu 8 % bzw. 10 % bei der Plazebo-Behandlung. Das bedeutet, dass man mit Vareniclin im Anschluss an eine 12-wöchige Therapiephase nach einem Jahr noch etwa doppelt so viele abstinente Patienten beobachtet hatte wie unter der Plazebo-Therapie, was zwar kein enorm großer, aber doch ein außerordentlich relevanter Unterschied ist. Als Nicotin-Rezeptoragonist hat natürlich die Substanz eine Reihe von zu erwartenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die aber in der Regel in der Initialphase der Therapie ausgeprägter sind und dann eine gewisse Toleranz zeigen. Als gewisse Besonderheit wären Stimmungsschwankungen hin bis zur depressiven Symptomatik zu nennen, die im Rahmen des klinischen Studienprogramms gesehen wurde und deren Bezug zur Therapie noch nicht ganz geklärt ist. Immerhin führt diese Beobachtung dazu, dass bei Auftreten solcher Stimmungsschwankungen eine ärztliche Konsultation empfohlen wird. Innerhalb der vorhandenen Palette von unterstützenden Maßnahmen bei der Tabakentwöhnung (Nicotinpflaster, Nicotinkaugummi oder Therapie mit Bupropion) stellt Vareniclin eine sehr interessante, recht gut verträgliche und erstaunlich wirksame neue Alternative dar, die mit Sicherheit Beachtung verdient.

Zwei Originalarbeiten des vorliegenden Hefts beschäftigen sich mit relativ wichtigen, auch praxisrelevanten Problemen der psychiatrischen Pharmakotherapie. Im Beitrag von Opgen-Rhein werden die kardialen Nebenwirkungen der beiden atypischen Neuroleptika Ziprasidon und Olanzapin miteinander verglichen. Wie erwartet, werden hier etwas deutlichere Effekte von Ziprasidon auf die kardiale Überleitungszeit im Vergleich zu Olanzapin gesehen, die allerdings bei einer Gruppe von immerhin 60 Patienten erstaunlich milde ausgeprägt sind, so dass in dieser Arbeit die große Bedeutung, die von mancher Seite der verlängerten Überleitungszeit im Hinblick auf klinisch relevante kardiale Effekte von Ziprasidon zugeschrieben wurde, eher nicht bestätigt wird. Dies ist beruhigend, sollte aber nicht zur Nachlässigkeit führen.

Die zweite Originalarbeit, ein gemeinsames Projekt der Arbeitsgruppe Therapeutisches Drug-Monitoring der Deutschen Fachgesellschaft AGNP, setzt sich mit Nutzen und Aktualität der Fachinformationen von Psychopharmaka für das therapeutische Drug-Monitoring auseinander. Die kritische Bewertung dieser Arbeitsgruppe kommt zum Schluss, dass eine adäquate Darstellung der Bedeutung von Plasmaspiegelbestimmungen nur in einem kleinen Teil der Fachinformationen vorgenommen wird, wobei besonders gut die Mood-Stabilizer bewertet werden, die ja meist im Bereich der Antiepileptika angesiedelt sind, wo das therapeutische Drug-Monitoring eine langjährige Tradition hat.

Die letzte Originalarbeit greift ein schon lange bekanntes und immer wieder in Verordnungsevaluationen gefundenes Problem auf, nämlich die Polypharmazie oder die Verordnung von mehreren Psychopharmaka am gleichen Patienten, die trotz eher negativer Bewertung in Leitlinien und Stellungnahmen der Meinungsbildner in der täglichen Praxis eher Regel als Ausnahme darstellt. Die Arbeit schließt sehr richtig, dass man sich perspektivisch dieser Realität stellen muss und Kriterien ausarbeiten muss, um einen besser der Evidenz angepassten Umgang mit diesem Phänomen zu finden.

Unter der Rubrik „Leitlinie kurzgefasst“ wird von Obermann und Diener (Essen) die medikamentöse Therapie der Migräne kurz dargestellt, so dass sie auch für den schnellen Leser leicht zugänglich ist und er sich sehr schnell über das informieren kann, was heute auf der Basis der vorliegenden Evidenz zur Akut- und Langzeittherapie der Migräne empfohlen wird.

Abgerundet wird das Heft von einer ganzen Reihe von Berichten zu neuen wissenschaftlichen Befunden, die in der letzen Zeit in der Literatur publiziert oder auf Fachtagungen vorgestellt wurden. Hier werden unter anderem die Therapie mit Stimmungsstabilisatoren während der Schwangerschaft, die duale Wirkung von Escitalopram auf Angst und Depressionssymptome, das spezifische antidepressive Profil von Bupropion, die strukturierte Versorgung und Behandlung nach TIA oder leichtem Schlaganfall, Aspekte der Interferon-Therapie und Daten zu den neuen Neuroleptika Paliperidon und Asenapin abgehandelt. Befunde zur relativen Häufigkeit von Fußödemen unter Pramipexol als typischer Nebenwirkung von Dopaminagonisten und therapeutische Daten mit der transdermalen Arzneiform zu Rivastigmin runden diese breite Palette von Literaturdaten ab.

Wie immer hoffen die Herausgeber, dass es uns gelungen ist, für den interessierten Leser im Bereich Psychiatrie und Neurologie ein nicht nur interessantes, sondern auch praxisrelevantes Konzept zusammengestellt zu haben, und wünschen viel Spaß beim Lesen.

Psychopharmakotherapie 2008; 15(02)