Einsatz von Atomoxetin bei Erwachsenen mit ADHS und Sucht


Vier Fallberichte

Nadine Buddensiek, Bert T. te Wildt, Marc Ziegenbein, Hinderk M. Emrich und Martin D. Ohlmeier, Hannover

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist mit 2 bis 4% Prävalenz eine häufige psychiatrische Erkrankung des Erwachsenenalters. Eine medikamentöse Behandlungsoption steht mit dem Amphetaminderivat Methylphenidat zur Verfügung. Die Behandlung erfolgt dann – wegen fehlender Arzneimittelzulassung von Methylphenidat bei Erwachsenen – im Rahmen eines „Heilversuchs“ (Off-Label-Use). Diese Therapie wird jedoch aufgrund des vermeintlichen Suchtpotenzials, besonders bei der Behandlung von ADHS und komorbider Suchterkrankung, kontrovers beurteilt. Eine mögliche Alternative ist Atomoxetin. Vier ADHS-Patienten mit einer komorbiden Suchterkrankung wurden in einer eigenen Studie mit Atomoxetin behandelt. Hierbei zeigten sich signifikante Verbesserungen in sämtlichen ADHS-Bereichen. Weitere Studien sind jedoch notwendig, vor allem zur Untersuchung von Nebenwirkungen und Dosierung.
Schlüsselwörter: ADHS, Atomoxetin, Sucht
Psychopharmakotherapie 2007;14:76–81.

Mit einer Prävalenzrate zwischen 2 und 6% sind hyperkinetische Störungen (ICD-10) beziehungsweise die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (DSM-IV) die häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter [8]. Die Diagnose wird entweder anhand der Kriterien des Diagnosesystems DSM-IV oder nach ICD-10 gestellt. Demnach gelten als Hauptsymptome: beeinträchtigte/verminderte Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Diese müssen bereits vor dem siebten Lebensjahr aufgetreten sein und in mehr als einem Lebensbereich zu Beeinträchtigungen führen [16]. Die folgenden Begleitmerkmale findet man ebenfalls sehr häufig, auch wenn sie für eine Diagnosestellung nicht notwendig sind: Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen, Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und Missachtung sozialer Regeln [1, 7]. Als pathophysiologische Ursache der Erkrankung wird derzeit eine genetisch determinierte Dysfunktion des Catecholaminstoffwechsels, insbesondere im Bereich des frontostriatalen Systems diskutiert. In SPECT- und PET-Untersuchungen zeigte sich eine Störung dopaminerger Funktionen, unter anderem eine erhöhte Dopamintransporterdichte im Striatum [7, 9, 16, 19]. Komorbide psychische Erkrankungen sind häufig [2, 8, 11].

Die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter wird gemäß den Leitlinien des Expertenkonsensus von 1999 anhand von Interviews mit dem Patienten gestellt. Es handelt sich also um eine „klinische Diagnose“. Für die Diagnose einer persistierenden ADHS im Erwachsenenalter müssen die Kriterien für das Vorliegen einer ADHS durchgängig sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter erfüllt (gewesen) sein [10]. Inzwischen ist belegt, dass diese Störung in etwa 30 bis 50% der Fälle bis in das Erwachsenenalter hinein persistiert [2, 11]. Die Prävalenzrate im Erwachsenenalter wird derzeit bei 2 bis 4% angenommen [17]. Aus diesem Grund gehört die Kenntnis über dieses Krankheitsbild und die angemessene medikamentöse Behandlung der Betroffenen immer mehr zu den ärztlichen Aufgaben.

In über 250 Studien wurde die Wirksamkeit von Stimulanzien, vor allem von Methylphenidat (z.B. Ritalin®) bei der Behandlung von ADHS-Symptomen nachgewiesen. Sie gelten bei der Behandlung von ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter als Mittel der ersten Wahl [4]. Dabei sind etwa 75% der Kinder Responder, Erwachsene – im Rahmen einer „Off-Label-Use“-Behandlung – in etwa 50% [17]. Trotz dieser umfangreichen Datenbasis wird die Gabe von Stimulanzien noch immer kontrovers beurteilt, insbesondere auch bei ADHS-Patienten mit komorbidem Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenabusus [16].

ADHS und Sucht

ADHS stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung dar [21]. So weisen etwa 40 bis 50% der ADHS-Patienten als komorbide Störung einen Substanzabusus oder eine Substanzabhängigkeit auf [17]. In einer eigenen Untersuchung an alkoholabhängigen oder polytoxikomanen Patienten wiesen 20 bzw. 50% der untersuchten Probanden komorbid eine ADHS auf. Bei Vorliegen weiterer psychischer Erkrankungen erhöht sich das Risiko, einen Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit zu entwickeln [21]. In weiteren Untersuchungen findet man einen früheren Beginn des Drogenkonsums bei komorbid vorliegender ADHS. In der Arbeitsgruppe um Wilens (1997) lag das Durchschnittsalter der Betroffenen mit komorbider ADHS zu Beginn des Substanzmissbrauchs bei 19 Jahren, bei Personen ohne ADHS bei 22 Jahren [26]. Diese Daten verdeutlichen, dass ADHS als ein erheblicher Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung angesehen werden kann [21]. Über die Gründe gibt es bislang nur Hypothesen. Auf der einen Seite wird eine erhöhte Risikobereitschaft bei ADHS-Patienten vermutet, auf der anderen Seite könnte der erhöhte Drogenkonsum im Sinne einer „Selbsttherapie“ zur Verminderung der ADHS-Symptome angesehen werden [20].

Die differenzialdiagnostische Abgrenzung von ADHS und Sucht – wie auch von anderen psychiatrischen Erkrankungen – ist besonders schwierig, da Drogen und Entzugssymptome die gleichen oder ähnliche klinische Charakteristika wie eine ADHS haben oder auslösen können. Dementsprechend ist eine ausführliche Exploration der Betroffenen notwendig, die insbesondere die Kindheitsanamnese, gegebenenfalls mit einer Fremdanamnese, sowie eine spezielle Suchtanamnese beinhalten muss. Eine frühzeitige Diagnose und entsprechende pharmakologische sowie sozio- und psychotherapeutische Behandlung kann die Entwicklung einer Suchterkrankung verhindern helfen [21]. Während in einer Studie von Barkley et al. (2003) keine signifikanten Unterschiede zwischen behandelten und unbehandelten ADHS-Patienten in Bezug auf Drogenkonsum gefunden werden konnten [3], zeigte sich in Arbeiten von Biederman et al. (1999) sowie Lehmkuhl und Huss (2002), dass durch eine frühzeitige medikamentöse Behandlung der ADHS das Risiko eines späteren Drogenkonsums abnimmt [5, 15].

Strittig ist insbesondere die Frage, inwiefern durch die Gabe von Stimulanzien eine erhöhte Suchtgefahr entsteht [24]. Die Studienlage hierzu ist heterogen. So konnte einerseits in Studien bei mit Methylphenidat behandelten ADHS-Patienten eine langfristige Abstinenz vom Suchtmittel nachgewiesen werden [12]. Die Arbeitsgruppe um Schubiner (2002) fand durch die Behandlung mit Methylphenidat hingegen keinen Einfluss auf das Suchtverhalten [22]. Obwohl bislang keine Daten veröffentlicht wurden, die eine Zunahme des Suchtverhaltens unter der Behandlung von Methylphenidat bestätigten [16], fand man in verschiedenen Studien, dass sich nach der Einnahme von Methylphenidat ein stimulierendes Gefühl bei Suchtgefährdeten einstellt [13]. Zudem wird bei erwachsenen ADHS-Patienten mit komorbider Polytoxikomanie ein „Experimentieren“ mit Methylphenidat festgestellt [16]. Verschiedene Autoren empfehlen aufgrund der Datenlage, zunächst den Substanzmittelmissbrauch beziehungsweise die Abhängigkeitserkrankung zu behandeln und erst bei einer ausreichend langen Abstinenzphase eine Behandlung mit Stimulanzien zu beginnen [17].

Als Alternative zur Behandlung mit Stimulanzien steht seit einiger Zeit der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin (Strattera®) zur Verfügung. Dieses Medikament ist seit 2002 in den USA zur Behandlung der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zugelassen [23]. In vorliegenden Studien an Kindern und Erwachsenen fand man ähnlich hohe Responderraten wie für Methylphenidat. Die Responderrate bei 22 Erwachsenen in einer ersten Plazebo-kontrollierten, doppelblinden Cross-over-Studie lag bei 52% [25]. In einer von der Arbeitsgruppe um Michelson et al. (2003) durchgeführten Plazebo-kontrollierten Studie zeigte sich bei Atomoxetin im Vergleich zu Plazebo eine deutliche Besserung der Kernsymptome der ADHS, die Nebenwirkungsrate lag unter 10% [20]. Patienten mit komorbiden Erkrankungen wurden allerdings von dieser Studie ausgeschlossen. Heil et al. (2002) untersuchten Plazebo-kontrolliert die Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen von Methylphenidat versus Atomoxetin an erwachsenen ADHS-Patienten mit gelegentlichem Alkohol- und Cannabiskonsum. Atomoxetin und Methylphenidat waren der Behandlung mit einem Plazebo in allen gemessenen Parametern überlegen. Mit Atomoxetin behandelte Patienten berichteten – im Unterschied zu den Patienten, die mit Methylphenidat behandelt wurden –, dass sich nach der Einnahme kein stimulierender Effekt einstellte [13]. Als häufige, jedoch zumeist transiente Nebenwirkungen wurden von den Probanden Appetitminderung, Schwindel und Dyspepsie bei Kindern sowie Mundtrockenheit und Schlafprobleme bei Erwachsenen angegeben [14, 18].

Atomoxetin hemmt hochselektiv den präsynaptischen Noradrenalintransporter. Dies bewirkt eine Erhöhung der Noradrenalinkonzentration im synaptischen Spalt [4]. In verschiedenen Untersuchungen zeigte sich nach Einnahme von Atomoxetin keine Dopaminerhöhung im Nucleus accumbens. Da die Stimulation dieser Regionen mit angenehmen Empfindungen assoziiert ist („Belohnungssystem“), wird sie mit Suchtentwicklungen in Verbindung gebracht. Neurobiologisch ist somit davon auszugehen, dass Atomoxetin kein Suchtpotenzial aufweist [8]. Dies bestätigt sich in verschiedenen Untersuchungen, in denen Skalen zum subjektiven Suchterleben zum Einsatz gekommen sind [13, 18]. Es stellt somit möglicherweise eine gute Alternative zum Einsatz von Methylphenidat bei der Behandlung von ADHS-Patienten mit komorbidem Substanzabusus oder einer Substanzabhängigkeit dar.

In den folgenden Fallberichten wird die Therapie von vier erwachsenen männlichen ADHS-Patienten beschrieben, die aufgrund einer komorbiden Suchterkrankung nicht mit einem Stimulans, sondern mit Atomoxetin behandelt wurden.

Patienten und Methoden

Patient 1

Der 23-jährige Patient stellte sich auf eigene Initiative in der Abhängigenambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover vor, da er seit einigen Jahren vermehrt Alkohol, Cannabis und Cocain konsumiere und wegen der Befürchtung gesundheitlicher Folgeschäden eine Entgiftungsbehandlung wünsche. Erstmalig habe er im 13. Lebensjahr Drogen „ausprobiert“. In der Abhängigenambulanz entsteht der Verdacht, dass bei dem Patienten eine ADHS vorliegen könnte. Dieser Verdacht kann nach ausführlicher klinischer Exploration und psychometrischer Testung in der hiesigen ADHS-Ambulanz bestätigt werden. Im strukturierten Interview berichtet der Patient insbesondere über folgende Symptome:

Unaufmerksamkeit sowie Konzentrationsprobleme: Er habe die Schule ohne Abschluss verlassen, verschiedene Versuche, den Abschluss nachzuholen, scheiterten, da er sich nicht längerfristig auf eine Sache konzentrieren könne und sehr leicht durch äußere Reize ablenkbar sei.

Organisationsprobleme: Er könne nicht Ordnung halten, beginne viele Dinge gleichzeitig und beende diese nicht.

Innere Unruhe: Früher habe er nicht stillsitzen können, bereits in der Schule sei er durch ständiges Aufstehen und Herumlaufen aufgefallen, nun verspüre er diese Unruhe eher innerlich.

Impulsivität: Er begebe sich häufig in gefährliche Situationen; als Kind hätten andere Kinder wegen des hieraus resultierenden Gefahrenpotenzials nicht mit ihm spielen dürfen.

Patient 2

Bei dem 27-jährigen Patienten wurde während einer stationären Langzeittherapie zur Behandlung seiner seit dem 13. Lebensjahr bestehenden Polytoxikomanie die Verdachtsdiagnose „ADHS“ gestellt. Die Diagnose kann in unserer ADHS-Ambulanz bestätigt werden. Er berichtet über die folgenden Beschwerden, welche bereits während der Kindheit bestanden:

Konzentrationsprobleme und erhöhte Ablenkbarkeit: Seine Gedanken würden häufig abschweifen, dies würde auch zu Erektionsstörungen führen, da er während des Geschlechtsverkehrs „über andere Dinge nachdenke“.

Starke motorische Unruhe: Er würde sich ununterbrochen bewegen; auch vor und während der hiesigen Exploration ist er im Wartebereich sowie im Untersuchungszimmer aufgestanden und herumgelaufen.

Impulsivität: So handle er häufig, ohne nachzudenken, beispielsweise habe er mehrere Jobs vorzeitig gekündigt, wenn er „keine Lust“ mehr gehabt habe. Er sage häufig Dinge, die ihm später leidtun. Zudem habe er bereits mehrere Vorstrafen wegen „Schlägereien“.

Patient 3

Der 26-jährige Patient erhielt nach Diagnosestellung „ADHS“ im Alter von acht Jahren kurzzeitig Methylphenidat mit gutem therapeutischem Effekt, das jedoch aufgrund von Befürchtungen über Nebenwirkungen seitens der Mutter bereits nach kurzer Zeit wieder abgesetzt worden war. Seit seinem 17. Lebensjahr bestehe ein zunehmender Drogenkonsum von Cannabis, Amphetaminen, Alkohol sowie Cocain, unter dem eine Besserung der ADHS-Symptome aufgetreten sei. Während einer kürzlich durchgeführten stationären Entgiftungsbehandlung sei der Verdacht geäußert worden, dass er möglicherweise an einer persistierenden ADHS leide und Drogen im Rahmen eines „Selbstheilungsversuchs“ eingesetzt habe. In unserer Sprechstunde berichtet er über die folgenden Symptome:

Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme: Aus diesem Grund könne er von vielen therapeutischen Angeboten nicht profitieren, da er nicht lange zuhören könne; dies habe schon in der Schule zu erheblichen Problemen geführt.

Massive innere und motorische Unruhe: Er betreibe exzessiv Sport, um diese innere Unruhe „wenigstens kurzzeitig“ zu vermindern.

Stimmungsschwankungen mit zeitweiser Impulsdurchbrüchigkeit: Im Rahmen derer habe er bereits mehrfach andere Menschen verletzt.

Patient 4

Bei dem 34-jährigen Patienten besteht seit mehreren Jahren ein erheblicher Cannabisabusus. Wegen einer zusätzlichen Cocainabhängigkeit wurde zuletzt eine stationäre Entgiftungsbehandlung durchgeführt. Er habe den Verdacht entwickelt, dass er an „ADHS“ leiden könnte, da eine entsprechende Diagnose bei seinem Neffen gestellt worden sei und er viele Gemeinsamkeiten zwischen diesem und sich festgestellt habe. Er leide unter den folgenden Problemen:

Organisationsprobleme: Er könne seinen „Schreibkram“ nicht abheften; dies sei ein „einziges Chaos“; bereits in der Schule habe der Lehrer ihn als „schlechtes Beispiel für Mappenführung“ vor der gesamten Klasse präsentiert.

Innere Unruhe und Ungeduld: Er könne nicht stillsitzen und versuche immer, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen; vieles ginge ihm „zu langsam“.

Impulsivität: Er könne sich häufig nicht kontrollieren, es komme immer wieder zu schweren, auch körperlichen, Auseinandersetzungen sowohl mit engeren Bezugspersonen als auch mit Unbekannten.

Zur Absicherung der klinischen Diagnose „ADHS“ wurden zusätzlich verschiedene Testverfahren eingesetzt. Diese erfassen einerseits retrospektiv die in der Kindheit vorhandenen Symptome und andererseits die aktuellen Symptome im Erwachsenenalter. Die Ergebnisse der Patienten werden auf den folgenden beiden Skalen dargestellt (Tab. 1).

Tab. 1. Ergebnisse der Patienten auf den Skalen: DSM-IV-Checkliste und Brown ADD Scales

DSM-IV-Checkliste

Brown ADD Scales

Aufmerksamkeitsdefizit

Hyperaktivität/
Impulsivität

Cut-off-Scores

≥ 6

≥ 6

≥ 50 bzw. ≥ 60

Patient 1

9

8

116

Patient 2

9

9

110

Patient 3

8

9

96

Patient 4

9

8

79

1. DSM-Symptomliste: Diese erfasst mit insgesamt 18 Items retrospektiv das Vorliegen von ADHS-Symptomen im Alter zwischen 6 und 12 Jahren. Es handelt sich hierbei um die Übersetzung der DSM-IV-Kriterien für ADHS. Neun Items erfassen den Bereich „Unaufmerksamkeit“, neun Items den der „Hyperaktivität/Impulsivität“. Der Cut-off liegt bei sechs positiven Items pro Skala.

2. Brown ADD Scales: Hierbei handelt es sich um ein Fragebogenverfahren, das aus den USA stammt. Deutsche Normen liegen bislang nicht vor, so dass wir uns an den von Brown [6] vorgeschlagenen orientieren. Dieses Selbstbeurteilungsinstrument erfragt mit 40 Items die innerhalb des letzten Monats vorhandene ADHS-Symptomatik auf vier Ausprägungsstufen: „nie“ (0 Punkte), „einmal pro Woche“ (1 Punkt), „zweimal pro Woche“ (zwei Punkte) und „fast täglich“ (drei Punkte). Der Cut-off liegt bei 50 bzw. 60. Werte über 50 weisen auf eine Aufmerksamkeitsproblematik hin, bei Werten über 60 liegt eine ADHS mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 6% vor [6].

Bei allen vier Patienten konnte aufgrund des aktuellen klinischen Befunds, der speziellen Kindheitsanamnese sowie der Ergebnisse der eingesetzten Testverfahren die Diagnose einer persistierenden hyperkinetischen Störung (ICD-10: F90.0) beziehungsweise einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vom kombinierten Typ (DSM-IV: 314.0) gestellt werden.

Ergebnisse

Bei allen vier Patienten lag komorbid ein multipler Substanzmissbrauch mit Konsum von Nicotin, Alkohol, Cannabis und Cocain vor. Nach einer zuvor erfolgten Entgiftungsbehandlung, die über 14 Tage lang im stationären Rahmen erfolgte, begannen wir bei den vier Patienten wegen der begleitenden Suchterkrankung keine Therapie mit Stimulanzien (z.B. mit Methylphenidat), sondern initiierten im Rahmen eines „Heilversuchs“ (Off-Label-Use) – nach umfassender körperlicher Untersuchung mit unauffälligen neurologischen und internistischen Untersuchungsbefunden – eine medikamentöse Therapie mit Atomoxetin. Alle vier Patienten erhielten über sieben Tage Atomoxetin in einer Anfangsdosierung von 1-mal 18 mg/d am Morgen. Diese wurde von den Patienten 1, 3 und 4 gut vertragen. Patient 2 klagte über Schüttelfrost, Schwitzen, leichten Schwindel und Übelkeit, was sich nach einer Woche besserte.

Alle vier Patienten berichteten am Ende der ersten Woche über eine Reduktion der Kernsymptome der ADHS: Sie gaben eine leicht verbesserte Wahrnehmungsfähigkeit in Form von verlängerter Konzentrationsspanne, eine verminderte innere und motorische Unruhe sowie eine verbesserte Impulskontrolle an (Ausnahme Patient 4). Dies wurde auch fremdanamnestisch durch die Bezugspersonen bestätigt. Der Vergleich der Testscores in den Brown ADD Scales vor und nach Behandlung mit Atomoxetin bestätigte die klinisch beobachtbaren Symptomverbesserungen (Tab. 2).

Tab. 2. Ergebnisse der vier Patienten auf den Brown ADD Scales nach einer Woche Einnahme von Atomoxetin 18 mg/d

Brown ADD Scales

Cut-off-Score

≥ 50 bzw. ≥ 60

Patient 1 (18 mg/d)

73

Patient 2 (18 mg/d)

89

Patient 3 (18 mg/d)

66

Patient 4 (18 mg/d)

60

Patient 2 klagte anfangs über leichtgradig vermehrtes Schwitzen und Schlafstörungen, Patient 4 über leichte Kopfschmerzen; diese Reaktionen ließen nach etwa drei Tagen nach. Bei Patient 1 und 3 traten keine Nebenwirkungen auf.

Da die ADHS-Symptome zwar eine klinische Verbesserung aufwiesen, nach wie vor aber in geringerer Ausprägung vorhanden waren, erfolgte nach siebentägiger Behandlungsdauer mit 18 mg/d – gemäß den Herstellerempfehlungen und den von den Patienten berichteten Wirkungen sowie Nebenwirkungen – bei Patient 2 eine Dosissteigerung der Medikation auf 40 mg/d Atomoxetin, bei Patient 4 auf 60 mg/d und bei Patient 1 und 3 auf 80 mg/d als Einmalgabe am Morgen. Alle Patienten berichteten weiterhin von einer gleichbleibend positiven Wirkung des Medikaments: Verbesserte Aufmerksamkeit, verminderte innere und motorische Unruhe sowie verbesserte Impulskontrolle (Ausnahme: Patient 4). In den Brown ADD Scales spiegelte sich dies in einem weiteren Rückgang der Scores wider (Tab. 3).

Tab. 3. Ergebnisse der vier Patienten auf den Brown ADD Scales nach 2 Wochen Einnahme von Atomoxetin 40 bis 80 mg/d

Brown ADD Scales

Cut-off-Score

≥ 50 bzw. ≥ 60

Patient 1 (80 mg/d)

40

Patient 2 (40 mg/d)

72

Patient 3 (80 mg/d)

27

Patient 4 (60 mg/d)

39

Tabelle 4 zeigt die Testscores der einzelnen Patienten im Vergleich.

Tab. 4. Testscores auf der Brown ADD Scale während der medikamentösen Behandlung mit Atomoxetin

1. Untersuchung
Ohne Medikamente

2. Untersuchung
18 mg/d

3. Untersuchung
40–80 mg/d

Cut-off-Score ≥ 50 bzw. ≥ 60

Patient 1

116

73

40

Patient 2

110

89

72

Patient 3

96

66

27

Patient 4

79

60

39

Folgende unerwünschte Wirkungen traten während der medikamentösen Behandlung in dieser Phase auf: Schüttelfrost, Schwindel, Übelkeit, Schwitzen, trockener Mund, Miktionsprobleme, Obstipation, Erektionsprobleme, Schlafprobleme, erhöhte Aggressivität, innere Unruhe sowie Kopfschmerzen.

Aufgrund der Nebenwirkungen wurden die folgenden Umstellungen in der medikamentösen Behandlung vorgenommen: Bei Patient 1, 3 und 4 erfolgte eine verteilte Gabe der Gesamtdosierung in zwei Tagesdosen. Hierunter verspürten die Patienten weiterhin die positiven Wirkungen auf Aufmerksamkeit, Konzentration und innere Unruhe. Die Verträglichkeit besserte sich jedoch, relevante Nebenwirkungen traten nicht mehr auf, so dass diese Dosierung beibehalten wurde. Patient 4 berichtete über eine Besserung der Aufmerksamkeit und Konzentration, jedoch weiterhin über erhöhte Impulsivität. Aus diesem Grund wurde eine adjuvante Therapie mit dem „Moodstabilizer“ Carbamazepin retard (2-mal 150 mg/d) begonnen, unter welcher es zu einer deutlichen Verbesserung der Impulskontrolle kam. Aufgrund der Nebenwirkungen wurde bei Patient 2 die Dosierung auf 18 mg/d reduziert, was zu einer verbesserten Verträglichkeit führte. Insgesamt war der Patient jedoch mit der Wirksamkeit des Medikaments unzufrieden, da er die Verbesserungen der beklagten Symptome subjektiv als zu gering empfand. Dies spiegelt sich auch in seinen Testresultaten der Brown ADD Scales wider. Aus diesem Grund wird nun eine medikamentöse Umstellung auf ein Stimulans diskutiert, da sich der Patient hinsichtlich der Suchterkrankung als abstinent erwies und die Leistungseinschränkungen sowie der Leidensdruck aufgrund der ADHS-Symptomatik erheblich sind.

Während der Eintitrierungsphase sowie im weiteren Verlauf der Behandlung wurde bei den Patienten durch Urin- und Blutkontrollen ein möglicher Beigebrauch von illegalen Drogen ausgeschlossen. Patient 1 zeigte einen erhöhten Alkoholkonsum. Der Besuch in einer Tagesklinik sowie die Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung führten zu einer Stabilisierung und einer Verminderung des Alkoholkonsums, den er bislang jedoch nicht vollständig eingestellt hat. Drei der vier Patienten haben mittlerweile eine begleitende Psychotherapie begonnen. Sie berichten, dass sie hiervon sehr profitieren.

Diskussion

Die Ergebnisse verschiedener Studien zur Wirksamkeit von Atomoxetin bei der Behandlung von ADHS-Symptomen im Erwachsenenalter und die Ergebnisse der hier vorgestellten Fallstudien mit vier erwachsenen ADHS-Patienten weisen darauf hin, dass Atomoxetin, insbesondere bei Vorliegen einer komorbiden Suchterkrankung, eine wirkungsvolle Therapieoption darstellt. Die Kernsymptomatik der ADHS verbesserte sich signifikant bei den hier vorgestellten vier ADHS-Patienten. Die zu Beginn aufgetretenen Nebenwirkungen waren im Therapieverlauf und/oder im Rahmen einer veränderten Titrierung rückläufig. Auffallend war, dass entgegen der Therapieempfehlung des Herstellers (80 mg/d) auch bereits bei geringerer Dosierung ein positiver Effekt auf die Kernsymptome zu beobachten war. Zudem berichteten die Patienten schon nach etwa einer Woche positive Effekte der medikamentösen Behandlung auf die ADHS-Symptome, was auch fremdanamnestisch durch die Bezugspersonen bestätigt wurde. Besser verträglich als die Einmalgabe von 60 bzw. 80 mg/d war bei unseren Patienten die Aufteilung auf zwei Tagesgaben. Bei einer unzureichenden Wirkung auf bestimmte Kernsymptome der ADHS, wie beispielsweise bei Patient 4 bezüglich der Impulskontrollstörung, hat sich eine adjuvante Begleitmedikation, hier mit Carbamazepin retard (2-mal 150 mg/d) als wirkungsvoll erwiesen. Während des gesamten Behandlungszeitraums mit Atomoxetin konsumierten die Patienten keine Drogen. Somit wirkt sich die Behandlung mit Atomoxetin auch positiv auf die Suchtproblematik aus.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Atomoxetin bei der Behandlung von ADHS-Symptomen wirksam ist. Da es sich um ein Nicht-Stimulans handelt, ist sein Einsatz vor allem bei ADHS-Patienten mit Polytoxikomanie in der Vorgeschichte eine Therapieoption, die in die engere Wahl gezogen werden sollte. Vor einer Behandlung sollte eine internistische und neurologische Untersuchung des Patienten erfolgen, die auch eine Laboruntersuchung (u.a. Transaminasen) beinhaltet. Im Gegensatz zu den USA liegt in Deutschland nach wie vor nur eine Zulassung für die ADHS-Behandlung im Kindesalter vor, so dass die Therapie von erwachsenen ADHS-Patienten nicht nur mit Stimulanzien, sondern auch mit Atomoxetin weiterhin nur im Rahmen eines Heilversuchs (Off-Label-Use) möglich ist – allerdings ist eine „reguläre Verschreibung“ von Atomoxetin für Erwachsene möglich, wenn die Behandlung bereits vor Erreichen des 18. Lebensjahrs begonnen wurde. Ferner fehlen bislang randomisierte, Plazebo-kontrollierte Studien zu der hier charakterisierten Patientengruppe. Zukünftige Studien sind hier mit Blick auf die hohen Komorbiditäten von ADHS und Substanzmittelabusus/-abhängigkeit wünschenswert.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass bei der Behandlung von ADHS-Patienten ein multimodales Therapiekonzept erforderlich ist. Dies sollte neben der pharmakologischen Therapie, insbesondere wenn komorbide Erkrankungen und/oder umfassende Probleme im Umfeld des Patienten vorhanden sind, eine ergänzende sozio- und psychotherapeutische Behandlung umfassen [16].

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Dipl. Psych. Nadine Buddensiek, Dr. med. Bert T. te Wildt, Prof. Dr. Dr. med. Hinderk M. Emrich, Dr. med. Martin D. Ohlmeier, Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover, E-Mail: buddensiek.nadine@mh-hannover.de M. Ziegenbein, Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover

Medical therapy of adults with ADHD and addiction: four case reports

With a prevalence of 2 to 4%, ADHD is one of the most frequently seen disorders in adulthood. Due to the putative addiction potential the treatment of this disorder with the amphetamine derivate methylphenidate is discussed controversially, particularly by the treatment of ADHD and comorbid addiction.

Atomoxetine, a selective norepinephrine reuptake inhibitor and non-stimulant, is a new treatment option for ADHD. Four ADHD patients with a comorbid addiction illness were treated with atomoxetine. Mean reductions were seen in all reported ADHD symptoms. However further studies are necessary to evaluate dosage and possible side effects.

Keywords: ADHD, atomoxetine, comorbid addiction

Psychopharmakotherapie 2007; 14(02)