Exzessives Gähnen unter Sertralin und Venlafaxin


Detlef Degner, Göttingen, Beate Schmidt, Jena, Eckart Rüther, Göttingen, und Renate Grohmann, München

Im Rahmen des AMSP-Programms wird anhand von drei Kasuistiken über imperativ aufgetretenes exzessives Gähnen als unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) während einer Therapie mit Sertralin beziehungsweise Venlafaxin berichtet. Die Symptomatik trat nach einer zeitlichen Latenz auf und sistierte spontan drei bis sechs Wochen nach Medikationsbeginn. Die Fallbeispiele zeigen, dass der subjektive Leidensdruck, verbunden mit negativen sozialen Folgen und für die Compliance, mitentscheidend für die Schwere einer UAW sein kann. Gleichzeitig soll der Pathomechanismus von exzessivem Gähnen unter serotonerg wirksamen Antidepressiva dargestellt werden.
Schlüsselwörter: Gähnen, Antidepressiva, Serotonin, AMSP, SSRI, UAW
Psychopharmakotherapie 2006;13:255–7.

Zu den Aufgaben des Projekts „Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“ (AMSP) gehört die Erfassung und Einschätzung schwerer unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) unter der Behandlung mit Psychopharmaka. Bei der Bewertung einer UAW ist das subjektive Erleben des Patienten besonders wichtig und sollte nicht unterschätzt werden. In den hier vorgestellten Fällen waren die Patienten persönlich und sozial stark beeinträchtigt. Grundsätzlich ist dies in entscheidendem Maße auch für die Compliance relevant. Hu und Mitarbeiter [12] berichteten von einer häufigen Diskrepanz zwischen der vom Patienten subjektiv erlebten Schwere einer UAW und der Einschätzung der behandelnden Ärzte. Das AMSP-Programm will auch auf diesen Aspekt aufmerksam machen und dafür sensibilisieren.

Kasuistiken

Fall 1

Eine 32-jährige Patientin wurde wegen einer Panikstörung mit Agoraphobie (ICD-10: F40.01) und einer sozialen Phobie (ICD-10: F40.1) ambulant behandelt. Bislang hatte sie keine Psychopharmaka erhalten. Es lagen keine weiteren Vorerkrankungen vor.

Sie erhielt über zwei Tage jeweils 25 mg/d Sertralin, danach 50 mg/d. Die Sertralin-Konzentration im Plasma betrug am 7. Tag 21 ng/ml (Referenzbereich: 10–50 ng/ml). Zehn Tage nach Beginn der Medikation trat erstmals von der Patientin nicht unterdrückbares, häufiges Gähnen auf (ca. 20 bis 30 Mal pro Stunde), weitere fünf Tage später musste sie – unabhängig von der Tageszeit – bis etwa 40 Mal pro Stunde gähnen. Sie beschrieb sowohl eine erhöhte Quantität als auch eine andere „Qualität“ des Gähnens, anders als beispielsweise bei Müdigkeit. Weitere UAW traten nicht auf. Die Patientin litt subjektiv stark unter dem Gähnen, vor allem in der Öffentlichkeit, was ihre sozialen Ängste noch verstärkte. Bei trotzdem fortgesetzter Medikation reduzierte sich zehn Tage später die Frequenz des Gähnens, nach weiteren zwei Wochen kam es zum völligen Sistieren der Problematik. In der Folgezeit über ein Jahr trat bei gleich bleibender Sertralin-Dosis kein Gähnen mehr auf.

Fall 2

Eine 47-jährige Patientin wurde wegen einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10: F31.1) erstmalig 2000 mit insgesamt 150 mg/d Doxepin und in der Folgezeit mit maximal 300 mg/d Moclobemid behandelt. Darunter kam es nach acht Wochen zu einer deutlichen Besserung, UAW traten nicht auf. An organischen Vorerkrankungen ist ein arterieller Hypertonus bekannt, der seit Jahren mit ACE-Hemmern behandelt wurde. 2005 kam es zu einer zweiten depressiven Episode mit einer ausgeprägten Antriebsstörung, einem deutlichen Morgentief und diffusen Angstsymptomen. Sie wurde im ambulanten Setting initial mit 50 mg/d Sertralin behandelt, nach sechs Tagen wurde auf eine Dosis von 75 mg/d erhöht; die Sertralin-Konzentration im Plasma betrug am 8. Tag 33 ng/ml (Referenzbereich: 10–50 ng/ml). Neun Tage nach Medikationsbeginn trat tagsüber massives Gähnen auf, das die Patientin wie einen „Zwang“ erlebte (maximale Frequenz: 30 bis 40 Mal pro Stunde), ohne eine eindeutige Müdigkeit. Andere unter Sertralin häufige UAW traten nicht auf. Am Arbeitsplatz der Patientin wirkte das Gähnen extrem störend und führte bei Konferenzen zu erheblichen Spannungen mit ihrem Vorgesetzten. Dieser führte mit der Patientin deshalb sogar ein formelles „Mitarbeitergespräch“. Das Gähnen reduzierte sich sukzessive innerhalb von 21 Tagen komplett. Auch hier kam es in der Folgezeit zu keinen weiteren „Gähnattacken“ oder anderen UAW. Wegen der klinischen Besserung der depressiven Symptomatik bat die Patientin ausdrücklich um eine Fortsetzung der Medikation.

Fall 3

Die 25-jährige Patientin befand sich unter der Diagnose einer gemischten Angststörung auf einer Verhaltenstherapie-Station. Es handelte sich um die zweite stationäre Behandlung, da sie bereits vor vier Jahren auf Grund einer Agoraphobie mit Panikstörung stationär verhaltenstherapeutisch behandelt worden war und es nach zwischenzeitlicher mehrjähriger deutlicher Besserung zu einer erneuten Beeinträchtigung gekommen war.

Zum Aufnahmezeitpunkt war die Patientin bis auf die Gabe von 50 µg/d Levothyroxin seit einer Zystenentfernung in der Schilddrüse vor etwa fünf Monaten und der langjährigen Einnahme eines Antikonzeptivums medikamentenfrei. Weitere somatische Begleiterkrankungen bestanden nicht. Der körperliche Untersuchungsbefund sowie die Laboruntersuchungen waren bei Aufnahme unauffällig.

Auf Grund der klinischen Symptomatik mit erhöhter Grundanspannung, Sorgen um Angehörige, hypochondrischen Befürchtungen, agoraphobischen Ängsten und einzelnen Panikattacken wurde am 11. Tag nach Aufnahme in Ergänzung zur psychotherapeutischen Behandlung eine medikamentöse Unterstützung mit 75 mg/d Venlafaxin begonnen. In der darauffolgenden Behandlungswoche gab die Patientin eine leichte Übelkeit mit „Würgereiz“ ohne Erbrechen an. In der Folgezeit bemerkte sie ein vermehrtes Gähnen, außerdem beschrieb sie ein beim Gähnen auftretendes „komisches Gefühl in den Beinen … wie Wegknicken … wie Durchfahren durch die Beine …“. Eine motorische Komponente war dabei nicht sichtbar. Die Symptomatik klang allmählich im Laufe der folgenden sechs Wochen bei unveränderter Venlafaxin-Dosis mit 75 mg/d ohne weitere Maßnahmen ab.

Diskussion

Gähnen ist ein phylogenetisch alter, unwillkürlicher Vorgang, der sich physiologisch unter anderem kurz vor oder nach einem Wechsel des Wach- oder Schlafzustands oder beispielsweise bei Hunger vollzieht [21]. Bezogen auf die allgemeine Häufigkeit gibt es überraschend wenig physiologische, pathophysiologische und morphologische Untersuchungen [6]. Die frühere Hypothese eines erniedrigten O2- beziehungsweise erhöhten CO2-Gehalts im Blut ist lange widerlegt [18]. Tierexperimentell wurde Gähnen unter anderem durch Reizung des Zwischenhirns induziert [23].

Exzessives Gähnen, auch „Chasma“ genannt, findet sich bei infektiösen, metabolischen und toxischen Ursachen [4, 21] und bei hirnorganischen Erkrankungen, unter anderem bei Epilepsien [22], Raumforderungen oder Ischämien im Cerebellum, der Medulla oblongata und im Hirnstamm [5], bei Migräne [19] und multipler Sklerose [17]. Gähnen tritt auch als Opiat-Entzugssyndrom auf. Nach Elektrokonvulsionsbehandlung [7] sowie unter verschiedenen Psychopharmaka [14, 23] ist massives Gähnen beschrieben worden.

Bei Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und dual wirkenden Antidepressiva (Venlafaxin, Duloxetin) wird in den jeweiligen Fachinformationen Gähnen als „häufige“ Nebenwirkung angegeben.

Die Literatur über pharmakogen induziertes Gähnen ist jedoch auch hier ausgesprochen spärlich und überwiegend kasuistisch.

Beale und Murphree [2] berichteten über pathologisches Gähnen bei der Behandlung mit Fluoxetin (10 mg/d), Citalopram (10 mg/d) und Sertralin (50 mg/d) bei Patienten mit einer depressiven Störung. Gähnen unter Paroxetin wurde von Harada [11], unter Clomipramin von Mc Lean et al. [13] beobachtet. Mogilnicka und Mitautoren induzierten Gähnen tierexperimentell mit Desipramin [16], Fontenot und Mitarbeiter [8] konnten Gähnen bei Affen durch Fluoxetin, nicht aber durch Buspiron auslösen.

Zusammenhänge zwischen Gähnen und sexuellen Funktionen und Dysfunktionen sind beschrieben worden [1, 3, 13, 15].

Auffallend bei den hier dargestellten drei Fällen sind exzessives Gähnen bei unteren bis mittleren Arzneistoff-Dosierungen und Plasmakonzentrationen, eine zeitliche Latenz nach Medikationsbeginn bis zum Auftreten der UAW und ein spontanes Sistieren nach einigen Wochen. Bei der dritten dargestellten Patientin war Gähnen mit unklaren Beschwerden im Sinn von „Missempfindungen“ (Dysästhesien) assoziiert. Bei einer Induktion und bei dem komplexen Mechanismus des Gähnens sind wahrscheinlich mehrere Neurotransmitter-Systeme und Neuropeptide beteiligt [1, 10].

Die Arbeitsgruppe von Blin [4] geht als Ursache des Gähnens von einer Dopamin-Dysfunktion aus mit einer möglichen Kontrollfunktion des cholinergen und serotonergen Systems. Morphologisch sehen die Autoren unter anderem nigrostriatale dopaminerge Bahnen und den Nucleus paraventricularis des Hypothalamus als mögliche Lokalisationen. Auch Mogilnicka und Koautoren [16] gehen aufgrund tierexperimenteller Befunde von einem entscheidenden Dopamin-Mechanismus für Psychopharmaka-induziertes Gähnen aus. Goessler und Mitarbeiter [10] geben als weitere Modulatoren unter anderem das glutamaterge System, aber auch ACTH, Sexualhormone und das GABA-System an. Melis und Argiolas [14] konnten tierexperimentell bei pharmakogen (Apomorphin, Oxytocin und NMDA) induziertem Gähnen durch Injektion eines GABA-Rezeptoragonisten eine deutliche Reduktion des Gähnens erzielen und betonen ebenfalls die Relevanz des GABA-Systems.

Serotonin-Veränderungen scheinen ebenfalls eine bedeutende Rolle zu spielen [20]. Serotonerge Neuronen im Raphe-Kern besitzen eine selbstinduzierende negative Rückkopplung. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer stimulieren wahrscheinlich diesen Mechanismus. Möglicherweise trat das Sistieren des Gähnens auch ohne Absetzen der Medikamente bei den hier vorgestellten Patienten im Sinne einer Selbstregulierung auf.

Dem Phänomen des pathologischen Gähnens unter serotonergen Pharmaka sollte im klinischen Alltag vermehrt Beachtung geschenkt werden.

Literatur

1. Argiolas A, Melis MR. The neuropharmacology of yawning. Eur J Pharmacol 1998;5:1–16.

2. Beale M, Murphree TM. Excessive yawning and SSRI therapy. Int J Neuropsychopharmacol 2000;3:275–6.

3. Bertschy G, Vandel S, Sechter D, et al. Yawning and sexual excitation under clomipramine. Role of serotoninergic mechanisms. Encephale 1991;17:515–7.

4. Blin O, Azulay JP, Masson G, Serratrice G. Yawning. Physiopathology and neuropharmacology. Therapie 1991;46:37–43.

5. Cattaneo L, Cucurachi L, Chierici E, Pavesi G. Pathological yawning as a presenting symptom of brain stem ischaemia in two patients. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2006;77:98–100.

6. Chouard CH, Bigot-Massoni D. Mechanisms and physiologic role of yawning. Ann Otolaryngol Chir Cervicofac 1990;107:145–53.

7. D’Mello DA, Vincent FM, Lerner MP. Yawning as a complication of electroconvulsive therapy and concurrent neuroleptic withdrawal. J Nerv Ment Dis 1988;176:188–9.

8. Fontenot MB, Padgett EE 3rd, Dupuy AM, et al. The effects of fluoxetine und buspirone on self-injurious and stereotypic behavior in adult male rhesus macaques. Comp Med 2005;55:67–74.

9. Freco U. Cerebral metabolic effects of serotonin drugs and neurotoxins. Life Science 1996;11:877–91.

10. Goessler UR, Hein G, Sadick H, Maurer JT, et al. Physiology, role and neuropharmacology of yawning. Laryngorhinootologie 2005;84:345–51.

11. Harada K. Paroxetine-induced excessive yawning. Psychiatry Clin Neurosci 2000;60:260.

12. Hu XH, Bull SA, Hunkeler EM, et al. Incidence and duration of side effects and those rated as bothersome with selective serotonin reuptake inhibitor treatment for depression: patient report versus physician estimate. J Clin Psychiatry 2004;65:959–65.

13. McLean JD, Forsythe RG, Kapkin IA. Unusual side effects of clomipramine associated with yawning. Can J Psychiatry 1983;28:569–70.

14. Melis MR, Argiolas A. Reduction of drug-induced yawning and penile erection and of noncontact erections in male rats by the activation of GABAA receptors in the paraventricular nucleus: involvement of nitric oxide. Eur J Neurosci 2002;15:852–60.

15. Modell JG. Repeated observations of yawning, clitoral engorgement, and orgasm associated with fluoxetine administration. J Clin Psychopharmacol 1989;9:63–5.

16. Mogilnicka E, Wedzony V, Klimek V, Czyrak A. Desipramine induces yawning behaviour in rats. Neuropharmacol 1986;25:783–6.

17. Postert T, Pohlau D, Meves S, et al. Pathological yawning as a symptom of multiple sclerosis. J Neurol 1996;243:300–1.

18. Provine RR, Tate BC, Geldmacher LL. Yawning: no effect of 3–5% CO2, 100% O2, and exercise. Behav Neural Biol 1987;48:382–93.

19. Quintela E, Castillo J, Munoz P, Pascual J. Premonitory and resolution symptoms in migraine: a prospective study in 100 unselected patients. Cephalalgia 2006;26:1051–60.

20. Urba-Holgrem R, Holmgren B, Rodriguez R, et al. Serotonergic modulation of yawning. Pharmacol Biochem Behav 1979;11:371–2.

21. Walusinski O, Deputte BL. The phylogeny, ethology and nosology of yawning. Rev Neurol (Paris) 2004;160:1011–21.

22. Yankovsky AE, Andermann F, Dubeau F. Post-ictal forceful yawning in a patient with nondominant hemisphere epilepsy. Epileptic Disord 2006;8:65–9.

Dr. Detlef Degner, Prof. Dr. Eckart Rüther, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen, Von-Siebold-Str. 5, 37075 Göttingen, E-Mail: ddegner@gwdg.de
Dr. Beate Schmidt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Philosophenweg 3, 07743 Jena Dr. Renate Grohmann, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstr. 7, 80336 München


Psychopharmakotherapie 2006; 13(06)