Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)

Anhaltende Symptomkontrolle durch mittellang wirksames Methylphenidat


Dr. Heike Oberpichler-Schwenk, Stuttgart

Methylphenidat steht jetzt auch in einer Formulierung zur Verfügung, mit der wirksame Plasmaspiegel schnell erreicht und für etwa sechs Stunden aufrechterhalten werden (Equasym® Retard). Diesem pharmakokinetischen Profil entspricht die klinische Wirkung, die rasch einsetzt und zum Beispiel für die Dauer eines langen Schultags anhält. Die neue Formulierung erweitert die Möglichkeiten zur Individualisierung der ADHS-Therapie.

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) werden bei 3 bis 6% der 4- bis 16-Jährigen beobachtet, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. In einer aktuellen deutschen Feldstudie betrug die Prävalenz auf der Basis des Elternurteils nach den Symptomkriterien der DSM-IV 9,3%, nach den enger gefassten Symptomkriterien der ICD-10 3,4%. Die Kernsymptome sind Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität (bei Jugendlichen oft reduziert auf ein Gefühl der inneren Unruhe). Diese Verhaltensweisen führen zu Beeinträchtigungen in der schulischen Leistungsfähigkeit, im Arbeitsverhalten, in den Beziehungen zu Eltern, Lehrern und Gleichaltrigen und nicht zuletzt zu einer erhöhten Unfallgefahr.

Die Therapie der ADHS erfordert verschiedene Komponenten:

 Psychoedukation (Aufklärung und Beratung des Kindes, der Eltern, der Lehrer)

 Verhaltenstherapie (Selbstinstruktionstraining)

 Elterntraining, Interventionen in Kindergarten bzw. Schule

 Pharmakotherapie

Die Pharmakotherapie mit Stimulanzien ermöglicht bei stark ausgeprägter situationsübergreifender Symptomatik oft erst weitere Therapiemaßnahmen, ist aber auch hilfreich, wenn trotz verhaltentherapeutischer und psychosozialer Interventionen noch ausgeprägte hyperkinetische Symptome bestehen. Bewährt ist Methylphenidat (z.B. Ritalin®, Equasym®). Wegen der relativ kurzen Wirkungsdauer von 3 bis 5 Stunden müssen die betroffenen Kinder im Laufe des Schulvormittags eine zweite Dosis einnehmen, was zum einen leicht vergessen wird, zum anderen stigmatisierend wirken kann und überdies mit starken Plasmaspiegelschwankungen verbunden ist.

Modifikation der Methylphenidat-Freisetzung

Seit kurzem ist das mittellang wirksame Equasym® Retard verfügbar. Die Kapseln enthalten in einem Verhältnis von 30:70 Pellets, die Methylphenidat sofort freisetzen, und Pellets mit pH-unabhängig verzögerter Wirkstofffreisetzung. In pharmakokinetischen Untersuchungen ergab sich mit diesem Mengenverhältnis das ausgeglichenste Plasmaspiegelprofil, mit einem ersten Spitzenspiegel nach etwa 1,5 Stunden gefolgt von einem leichten Abfall und einem zweiten Peak nach 5 bis 8 Stunden. Die resorbierte Menge (AUC) ist dosisabhängig, wie für die verfügbaren Dosierungen von 10, 20 und 30 mg gezeigt wurde. Das Resorptionsverhalten ändert sich nicht, wenn die Kapseln geöffnet und die Pellets zusammen mit etwas weicher Nahrung (in der pharmakokinetischen Studie Apfelsauce) eingenommen werden. Einnahme zusammen mit einer fettreichen Mahlzeit erhöht die resorbierte Menge, verzögert aber die Resorption um etwa eine Stunde. Das Präparat soll deshalb mindestens 30 Minuten vor dem Frühstück eingenommen werden, um einen raschen Wirkungseintritt zu gewährleisten.

Methylphenidat ist auch in einer langwirksamen Form verfügbar (Concerta®), bei der die verzögerte Freisetzung durch ein OROS (Osmotic-controlled release oral-delivery system) erreicht wird. Nach der Einnahme flutet Methylphenidat zunächst bis zu einem intermediären Plasmaspiegel an, der für etwa 3 Stunden konstant bleibt, bevor es zu einem weiteren Anstieg kommt. Bei erwachsenen Probanden wurden die Plasmaspiegel nach Gabe von 20, 40 und 60 mg Methylphenidat in Form von Equasym®-Retardkapseln und von Concerta® in den Dosierungen 18, 36 bzw. 54 mg verglichen. In den ersten 4 bis 6 Stunden wurden mit Equasym® Retard höhere Plasmaspiegel erreicht, nach 8 bis 12 Stunden kehrte sich das Verhältnis um (Abb. 1). Die Gesamt-AUC war für entsprechende Dosierungen vergleichbar.

Abb. 1. Methylphenidat-Plasmaspiegel nach einmaliger Gabe von Equasym®-Retardkapseln (20 mg) oder Concerta®-Retardtabletten (18 mg). Mit 40 mg vs. 36 mg und 60 mg vs. 54 mg ergaben sich analoge Kurvenverläufe [nach González et al., 2002]

Wirkung korreliert mit dem Plasmaspiegel

Die einmal tägliche Einnahme von Equasym® Retard ist ebenso wirksam und verträglich wie die herkömmliche zweimal tägliche Einnahme von nichtretardierten Tabletten (Ritalin®). Das ergab eine dreiwöchige randomisierte, Plazebo-kontrollierte Doppelblindstudie mit 318 Kindern von 6 bis 12 Jahren. Die Kinder waren seit mindestens drei Wochen auf eine konstante Methylphenidat-Dosis eingestellt und nahmen während der Studie in Anlehnung an diese Dosis 20, 40 oder 60 mg/d Methylphenidat. Primärer Endpunkt war die Bewertung von Unaufmerksamkeit und Überaktivität gemäß dem Conners-Lehrerfragebogen. Hier ergab sich in der Plazebo-Gruppe (= Absetzen der vorbestehenden Medikation) eine Verschlechterung, in beiden aktiv behandelten Gruppen dagegen eine Verbesserung und für beide Verum-Gruppen ein statistisch signifikanter Unterschied zur Plazebo-Gruppe. Für die retardierte Form wurde Nichtunterlegenheit im Vergleich zur zweimaligen Gabe der nichtretardierten Form nachgewiesen.

Die Wirkung von Equasym® Retard und der anderen verzögert freisetzenden Form (Concerta®) wurde in einer dreiwöchigen doppelblinden, randomisierten, Plazebo-kontrollierten 3-Wege-Cross-over-Studie mit 184 Kindern von 6 bis 12 Jahren untersucht. Je nach ihrer Methylphenidat-Dosis vor Studienbeginn wurden die Kinder einer niedrigen, mittleren oder hohen Dosierungsgruppe zugewiesen (20, 40 oder 60 mg bzw. 18, 36 oder 54 mg). Sie erhielten für jeweils eine Woche eines der beiden Verum-Präparate oder Plazebo. Wie in der erstgenannten Studie wurde die Verblindung durch das Double-Dummy-Verfahren sichergestellt. Die Wirksamkeit wurde an den Tagen 7, 14 und 21 beurteilt, und zwar in einer Laborschule. Während eines simulierten Schultags wurden siebenmal zwischen 7:30 und 15:00 Uhr sowie abschließend um 19:30 Uhr Aufmerksamkeit und Betragen der Kinder beurteilt und ihre anhaltende kognitive Leistungsfähigkeit (Konzentrationsfähigkeit) mit einem 10-minütigen Rechentest geprüft.

Am Ende einer einwöchigen Plazebo-Phase hatten die Kinder störungsentsprechend im Laufe des Tages zunehmend Schwierigkeiten, konzentriert am Unterricht teilzunehmen, erkennbar an steigenden SKAMP-Skalenwerten für Aufmerksamkeit (Skala nach Swanson, Kotkin, Atkins, M/Flynn und Pelham mit 6 Items zum Betragen und 7 Items zur Aufmerksamkeit) (Abb. 2). Entsprechende Veränderungen gab es beim Betragen und bei der Rechenleistung. Mit beiden Methylphenidat-Präparaten war dagegen 1,5 Stunden nach Einnahme eine Verbesserung feststellbar. Diese war aber mit Equasym® Retard während der ersten 4,5 Stunden ausgeprägter als mit Concerta®, dann näherten sich die Verlaufskurven an, und bei der abschließenden Evaluation nach 12 Stunden war nur noch mit der langwirksamen Formulierung ein Behandlungseffekt erkennbar (Abb. 2). Dieses Wirkungsprofil entspricht dem Profil der Plasmaspiegel.

Abb. 2. SKAMP-Skalenwerte für Aufmerksamkeit während eines simulierten Schultags nach einwöchiger Einnahme von zwei verschiedenen Methylphenidat-Präparaten mit retardierter Freisetzung oder von Plazebo. Statistisch signifikante Unterschiede: * Equasym® Retard besser als Concerta®, † Concerta® besser als Equasym® Retard, ‡ Plazebo besser als die Methylphenidat-Präparate; 1,5 bis 7,5 Stunden nach Einnahme waren beide Methylphenidat-Präparate besser wirksam als Plazebo (p<0,016) [nach Swanson et al., 2004]

Individuelle Therapie

Das mittellang wirksame Präparat (Equasym® Retard) hemmt die ADHS-Symptome vor allem in den ersten 6 Stunden nach Einnahme und damit im Zeitraum eines üblichen Schulvormittags. Im Vergleich zu kurz wirksamen Präparaten entfällt die Notwendigkeit einer zweiten Einnahme während des Vormittags. Das Präparat ist demnach vorteilhaft für Kinder, deren ADHS-Symptome vor allem in der Schule zutage treten. Sind die Symptome auch und vor allem am Nachmittag vorhanden, kann sich dagegen eher ein langwirksames Präparat empfehlen. Die Tatsache, dass nun neben kurz- und langwirksamen auch ein mittellangwirksames Methylphenidat-Präparat zur Verfügung steht, erweitert die Möglichkeiten, die Therapie an das individuell gewünschte Tagesprofil der Wirksamkeit anzupassen. Kombinationen der retardierten mit nichtretardierten Methylphenidat-Präparaten oder verschiedener retardierter Präparate können sinnvoll sein.

Quellen

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Köln, Simon J. Hatch, MD, Pittsford (New York/USA), Prof. Dr. Aribert Rothenberger, Göttingen, Einführungspressekonferenz „Equasym® Retard – für eine maßgeschneiderte ADHS-Therapie“, Berlin, 1. August 2006, veranstaltet von UCB GmbH.

González MA, et al. Methylphenidate bioavailability from two extended-release formulations. Int J Clin Pharmacol Ther 2002;40:175–84.

Swanson JM, et al. A comparison of once-daily extended-release methylphenidate formulations in children with attention-deficit/hyperactivity disorder in the laboratory school (The Comacs Study). Pediatrics 2004;113:e206–e216.

Psychopharmakotherapie 2006; 13(06)