Komplexe UAW unter Amisulprid


Eine Kasuistik

Oliver Rosenthal, Petra Garlipp, Heike Scholz, Marc Ziegenbein und Horst Haltenhof, Hannover

Wir berichten über eine 45 Jahre alte schizophren erkrankte Patientin, die während der Einnahme von Amisulprid eine ausgeprägte Hyperprolaktinämie entwickelte. Weiterhin zeigte sie mutmaßlich durch klassische Neuroleptika induzierte tardive orobukkolinguale Dyskinesien, welche durch Amisulprid verschlimmert wurden mit zusätzlichem Auftreten armbetonter Dystonien, möglicherweise getriggert durch die Amisulprid-induzierte Hyperprolaktinämie.
Schlüsselwörter: Amisulprid, Hyperprolaktinämie, tardive Dyskinesie, Dystonie
Psychopharmakotherapie 2006;13:27–9.

Atypische Antipsychotika unterscheiden sich von traditionellen Antipsychotika vor allem durch ihr geringeres Risiko extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen und eine bessere Wirksamkeit auf die Negativsymptomatik [4, 5, 11]. Mit ihrer Einführung haben sich damit die Möglichkeiten der pharmakotherapeutischen Behandlung schizophrener Patienten erweitert. Dennoch dürfen die zum Teil nicht unerheblichen Nebenwirkungen dieser Substanzen nicht vernachlässigt werden.

Amisulprid ist ein Antipsychotikum, das im Januar 1999 zur Behandlung akuter und chronischer schizophrener Störungen in Deutschland zugelassen wurde [2, 10, 13]. Die Hyperprolaktinämie ist im Nebenwirkungsprofil häufiger und stärker ausgeprägt als unter den klassischen Neuroleptika [6, 9]. Des Weiteren verursacht die Substanz gelegentlich sowohl akute als auch chronische extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen, diese sind jedoch seltener als beispielsweise unter Haloperidol [12].

Der nachfolgende Fall wurde im Rahmen des AMSP-Projektes („Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“) dokumentiert und analysiert.

Kasuistik

Frau W. war 45 Jahre alt und litt seit etwa 20 Jahren an einer schizophrenen Störung, als sie Mitte März 2001 aufgrund eines deutlich erhöhten Prolactinspiegels, einer Gewichtszunahme und ausgeprägter extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen unter einer Amisulprid-Therapie in unsere Klinik aufgenommen wurde. So hatte die Patientin während der letzten Monate vor der stationären Aufnahme ca. 10 kg zugenommen, das Gewicht lag bei 125,5 kg (BMI: 49 kg/m2). Außerdem beschrieb sie eine Amenorrhö und eine Mastalgie ohne Galaktorrhö und klagte über innere Unruhe. Es bestand eine massive tardive (orobukkolinguale) Dyskinesie, begleitet von extrem auffälligen dystonen Armbewegungen. Die Familienanamnese bezüglich der Dystonie war leer.

Die Patientin hatte während der langjährigen Erkrankung bereits diverse Antipsychotika erhalten, unter anderem Clozapin, Perazin und Pipamperon. Zuletzt hatte sie über mehrere Monate 20 mg Olanzapin/Tag eingenommen. Aufgrund einer deutlichen Gewichtszunahme war Olanzapin im November 2000 jedoch abgesetzt und durch Amisulprid ersetzt worden. Frau W. berichtete, dass sich danach ihr Antrieb und ihre Stimmung verbessert hätten. Im Dezember verstärkte sich jedoch die vorbestehende tardive Dyskinesie deutlich, und es traten zusätzlich die genannten dystonen Armbewegungen auf, die Patientin war jetzt erstmals durch die Dyskinesien und zusätzlichen Dystonien erheblich beeinträchtigt. Des Weiteren entwickelte sie eine Amenorrhö und eine Mastalgie. Daraufhin wurde wenige Tage vor der stationären Aufnahme der Prolactinspiegel bestimmt, der unter einer täglichen Einnahme von 300 mg Amisulprid deutlich erhöht bei 90,24 ng/ml lag. Aufgrund der Prolactinspiegel-Erhöhung wurde die Amisulprid-Dosis auf 100 mg/d reduziert. In der Aufnahmeuntersuchung konnte keine Galaktorrhö festgestellt werden, der Prolactinspiegel betrug 56,60 ng/ml. Weiterführende gynäkologische, endokrinologische und neuroradiologische Untersuchungen ergaben keine andere Ursache für die Hyperprolaktinämie. Im psychischen Befund zeigten sich inhaltliche Denkstörungen im Sinne eines Verfolgungswahns.

Wir ersetzten Amisulprid durch Clozapin und strebten eine Zieldosis von zunächst 150 mg/d an. Trotz des Risikos einer weiteren Gewichtszunahme entschieden wir uns für diese Substanz, da die Patientin die sehr stigmatisierend wirkende tardive Dyskinesie als belastender erlebte. Tatsächlich nahm Frau W. weitere 9,5 kg zu (BMI: 53 kg/m2). Zusätzlich verordneten wir vorübergehend Diazepam und längerfristig Valproinsäure als Mood-Stabilizer. Zur medikamentösen Therapie der Dystonie wurde Tetrabenazin angesetzt, das durch die Herabsetzung der präsynaptischen Neurotransmitterspeicherung bei allen Formen der tardiven Dyskinesie-Syndrome das effektivste, wenn auch nebenwirkungsreichste Medikament zu sein scheint [7]. Sechs Tage nach Beendigung der Amisulprid-Therapie war der Prolactinspiegel im Normbereich und die Amenorrhö sistierte. Auch die extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen besserten sich merklich.

Frau W. wurde nach etwa achtwöchiger stationärer Behandlung in stabiler psychischen Verfassung entlassen. Die Medikation bestand aus einer täglichen Gabe von 150 mg Clozapin, 75 mg Tetrabenazin und 300 mg Valproinsäure. Diese Therapie wurde beibehalten, lediglich das Tetrabenazin wurde sukzessive reduziert und schließlich im Dezember 2003 abgesetzt. Die psychotische Symptomatik war ebenfalls rückläufig, und auch die tardive orobukkolinguale Dyskinesie sowie die dystonen Armbewegungen bildeten sich weitestgehend zurück. Das Körpergewicht betrug bei Entlassung 135 kg und ging bis Juli 2004 auf 126 kg zurück, was recht genau dem Wert zu Beginn der stationären Behandlung im März 2001 entsprach.

Diskussion

Die neurologischen Nebenwirkungen von Amisulprid sind verhältnismäßig gering. Möller et al. [12] zeigen auf, dass Amisulprid gelegentlich – jedoch signifikant seltener als beispielsweise Haloperidol oder Flupentixol – extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen verursacht. Speller et al. [14] stellen jedoch heraus, dass Spätdyskinesien, insbesondere orofaziale Symptome, unter Amisulprid bei Chronischkranken ebenso häufig vorkommen wie unter Haloperidol. Unstrittig ist, dass das Absetzen der angeschuldigten Antipsychotika zu einem Rückgang extrapyramidal-motorischer Symptome führen kann. Kiriakakis et al. [8] geben an, dass die Chancen der Remission einer tardiven Dystonie durch eine solche Maßnahme vierfach erhöht seien.

Sowohl klassische Antipsychotika als auch Amisulprid und Risperidon können den Prolactinspiegel erhöhen [3], dieser Effekt ist jedoch bei den beiden atypischen Substanzen ausgeprägter [6, 9]. Interessanterweise berichten die Autoren über mögliche Verbindungen zwischen dem Auftreten einer tardiven Dyskinesie und einer Hyperprolaktinämie. So scheinen eine Neuroleptika-induzierte Hyperprolaktinämie und andere neuroendokrine Pathomechanismen eine Rolle bei der Entstehung oder der Progredienz der tardiven Dyskinesie zu spielen. Unterschiedliche, klinisch relevante Beobachtungen haben diesen möglichen Zusammenhang zwischen gonadalen Hormonen und der tardiven Dyskinesie aufgezeigt. Möglicherweise waren also die in der Kasuistik beschriebene Zunahme der tardiven Dyskinesien und das erstmalige Auftreten dystoner Bewegungsstörungen durch die Amisulprid-induzierte Hyperprolaktinämie getriggert. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass eine länger bestehende Hyperprolaktinämie zu einem Estrogenmangel und damit zu einem erhöhten Risiko entsprechender Folgeerkrankungen, beispielsweise Osteoporose, führen kann [12].

Unsere Kasuistik lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Möglichkeit einer ausgeprägten Gewichtszunahme unter atypischen Antipsychotika. Diese betrug bei unserer – allerdings zuvor schon deutlich übergewichtigen – Patientin nach mehrmonatiger Olanzapin- und unter laufender Clozapin-Therapie maximal 20 kg. Diese beiden Substanzen bringen in der Tat das höchste Risiko für eine Gewichtszunahme mit sich [1, 15], während eine solche Nebenwirkung unter Amisulprid zu vernachlässigen ist. Erwähnt werden soll aber auch, dass das Gewicht unter anhaltender Clozapin-Einnahme wieder deutlich reduziert werden konnte, wie der weitere Verlauf zeigte.

Anhand dieser Kasuistik möchten wir zum einen die Notwendigkeit betonen, auch bei atypischen Antipsychotika auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu achten. Insbesondere sollte auf das Risiko einer Hyperprolaktinämie, das in relevantem Ausmaß nicht nur bei Amisulprid, sondern auch bei Risperidon besteht und möglicherweise tardive extrapyramidal-motorische Symptome zu triggern vermag, hingewiesen werden. Symptome einer Hyperprolaktinämie sollten gezielt erfragt und bei der körperlichen Untersuchung beachtet werden, zudem sollte der Prolactinspiegel kontrolliert werden. Außerdem wurde erneut das Problem einer massiven Gewichtszunahme durch Einnahme von Antipsychotika deutlich. Zum anderen wollten wir auf die Schwierigkeit hinweisen, die darin besteht, Nebenwirkungen einer Substanz zuzuordnen, wenn der Patient bereits über einen längeren Zeitraum unterschiedliche Antipsychotika erhalten hat.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass es auch unter einer Therapie mit atypischen Antipsychotika zu komplexen und nicht immer eindeutig zuordenbaren Nebenwirkungen kommen kann.

Literatur

1. Allison DB, Mentore JL, Moonseong H, Chandler LP, et al. Antipsychotic-induced weight gain: a comprehensive research synthesis. Am J Psychiatry 1999;156:1686–96.

2. Curran MP, Perry CM. Amisulprid. Ein Überblick über die Anwendung in der Therapie der Schizophrenie. Drugs 2001;61:2123–50.

3. Dickson RA, Glazer WM. Neuroleptic-induced hyperprolactinemia. Schizophr Res 1999;35:75–86.

4. Dolder C, Jeste D. Incidence of tardive dyskinesia with typical versus atypical antipsychotics in very high risk patients. Biol Psychiatry 2003;53:1142–5.

5. Fischer-Barnicol D, Lanquillon S, Koch H, et al. Mehr oder weniger typische Neuroleptika. Nervenheilkunde 2002;21:379–85.

6. Fric M, Laux G. Prolaktinplasmaspiegel und Häufigkeit der endokrinologischen Begleitwirkungen unter Therapie mit den atypischen Neuroleptika. Psychiatr Prax 2003;30:97–101.

7. Jankovic J, Beach J. Long-term effects of tetrabenazine in hyperkinetic movement disorders. Neurology 1997;48:358–62.

8. Kiriakakis V, Bhatia KP, Quinn NP, Marsden CD. The natural history of tardive dystonia. A long-term follow-up study of 107 cases. Brain 1998;121:2053–66.

9. Kropp S, Ziegenbein M, Grohmann R, Engel RR, et al. Galactorrhea due to psychotropic drugs. Pharmacopsychiatry 2004;37:84–8.

10. Leucht S, Pitschel-Walz G, Engel RR, Kissling W. Amisulpride, an unusual “atypical” antipsychotic. A meta-analysis of randomized controlled trial. Am J Psychiatry 2002;159:180–90.

11. Messer T, Schmauß M. Unerwünschte Wirkungen von Antipsychotika und Antidepressiva aus der Sicht des Klinikers. Psychopharmakotherapie 2002;9:12–8.

12. Möller HJ, Boyer P, Fleurot O, Rein W. Improvement of acute exacerbations of schizophrenia with amisulpride: a comparison with haloperidol. Psychopharmacology 1997;132:396–401.

13. Müller WE, Hartmann H. Amisulprid. Pharmakologische Grundlagen der atypischen Eigenschaften. Psychopharmakotherapie 2000;7:98–105.

14. Speller JC, Barnes TR, Curson DA, Pantelis C, et al. One-year, low-dose neuroleptic study of in-patients with chronic schizophrenia characterised by persistent negative symptoms. Amisulpride vs. haloperidol. Br J Psychiatry 1997;171:564–8.

15. Taylor DM, McAskill R. Atypical antipsychotics and weight gain – a systematic review. Acta Psychiatr Scand 2000;101:416–32.

Oliver Rosenthal, Priv.-Doz. Dr. Petra Garlipp, Dr. Marc Ziegenbein, Priv.-Doz. Dr. Horst Haltenhof, Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover, E-Mail: Heike Scholz, Verein zur Förderung seelisch Behinderter e.V., Rühmkorffstr. 2, 30163 Hannover


Psychopharmakotherapie 2006; 13(01)