Prof. Hans-Christoph Diener, Essen
Die einzig bisher wirksame und zugelassene medikamentöse Behandlung des akuten ischämischen Schlaganfalls ist die systemische Thrombolyse mit Alteplase und Tenecteplase. In den letzten 30 Jahren wurden darüber hinaus fast 150 Studien durchgeführt, um die potenzielle Wirksamkeit einer neuroprotektiven Therapie nachzuweisen. Alle diese Studien zeigten keine Wirksamkeit. Kritik an diesen Studien umfasste den Zeitraum bis zum Studieneinschluss, der meist länger als drei Stunden war, und die Tatsache, dass bei den meisten Patienten vor Gabe des Neuroprotektivums keine rekanalisierende Therapie durchgeführt worden war.
Nerinetid ist ein synthetisches Peptid, das als Neuroprotektivum entwickelt wurde. Es bindet an das Membranprotein PSD-95 (postsynaptic density protein-95) in neuronalen Synapsen des zentralen Nervensystem und stört die Verknüpfung zwischen N-Methyl-D-Aspartat-Glutamat-Rezeptoren (NMDAR) und nachgeschalteten Signalproteinen, die die Exzitotoxizität vermitteln, einschließlich der neuronalen Stickstoffmonoxid-Synthase. Nerinetid war in tierexperimentellen Modellen der zerebralen Ischämie wirksam.
Nerinetid sollte jetzt in zwei klinischen Studien im Vergleich zu Placebo untersucht werden. Die erste Studie schloss Patienten ein, die innerhalb von drei Stunden nach Eintritt der Schlaganfallsymptome vor Ort von Rettungssanitätern behandelt wurden. Die zweite Studie schloss Patienten ein, bei denen im Krankenhaus eine rekanalisierende Therapie durchgeführt worden war.
Methodik
FRONTIER
In dieser multizentrischen, randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie rekrutierten Rettungssanitäter Schlaganfallpatienten im Alter von 40 bis 95 Jahren innerhalb von drei Stunden. Die Hypothese war, dass die Verabreichung von Nerinetid zu einer höheren Rate an guten funktionellen Ergebnissen führen würde. Die Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1 : 1 auf intravenöses Nerinetid (2,6 mg/kg) oder Placebo randomisiert. Nach Erreichen der Klinik erhielten die Patienten die übliche indikationsgerechte Behandlung. Der primäre Endpunkt war ein gutes funktionelles Ergebnis mit gleitender Dichotomie der modifizierten Rankin-Skala (mRS) nach 90 Tagen. Die Sicherheitspopulation umfasste alle Teilnehmer, die das Studienmedikament erhielten.
ESCAPE-NEXT
In dieser multizentrischen, randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie wurden Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall aufgrund eines Verschlusses eines großen Gefäßes im vorderen Kreislauf innerhalb von zwölf Stunden nach Auftreten eingeschlossen. Die Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip (1 : 1) einer intravenösen Infusion von Nerinetid in einer Einzeldosis von 2,6 mg/kg bis zu einer Höchstdosis von 270 mg randomisiert. Alle Patienten wurden mit einer endovaskulären Thrombektomie behandelt. Die Infusion der Studienmedikation sollte bis zum Ende der Thrombektomie abgeschlossen sein Der primäre Endpunkt war ein mRS-Score von 0 bis 2 nach 90 Tagen. Sekundäre Endpunkte waren die Sterblichkeit, die Verschlimmerung des Schlaganfalls, die Verbesserung der funktionellen Unabhängigkeit und Messungen der neurologischen Behinderung.
Ergebnisse
FRONTIER
Zwischen März 2015 und März 2023 wurden im Rahmen der Studie 532 Teilnehmer behandelt (Nerinetid n = 265, Placebo n = 267). Von den 532 Schlaganfallpatienten hatten 321 (63 %) einen akuten ischämischen Schlaganfall, 93 (18 %) eine intrakranielle Blutung, 44 (9 %) eine transitorische ischämische Attacke (TIA) und 49 (10 %) einen Schlaganfall-ähnlichen Zustand. Die Behandlung begann im Median 64 Minuten nach Symptombeginn. In der Nerinetid-Gruppe erreichten 57 % und in der Placebo-Gruppe 58 % der Teilnehmer einen mRS-Score von 0 bis 2 (Odds-Ratio [OR] 1,05; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,73–1,51). Bei den 302 Patienten mit ischämischem Schlaganfall ergab sich ebenfalls kein therapeutischer Nutzen. Bei Patienten mit Reperfusionstherapie war Nerinetid grenzwertig wirksamer als Placebo (OR 1,84; 95%-KI 1,03–3,28). Bei den zerebralen Blutungen und den akuten ischämischen Schlaganfällen ohne Reperfusion war kein therapeutischer Nutzen erkennbar. Es gab keine Sicherheitsbedenken.
ESCAPE-NEXT
Von Dezember 2020 bis Januar 2023 wurden 850 Patienten eingeschlossen (Nerinetid n = 454, Placebo n = 396). Einen mRS-Score von 0 bis 2 nach 90 Tagen erreichten 45 % bzw. 46 % der Teilnehmer (OR 0,97; 95%-KI 0,72–1,30).
Kommentar
Beide Studien zum Einsatz von Nerinetid zur Behandlung des akuten ischämischen Schlaganfalls zeigten im Vergleich zu Placebo keine Wirksamkeit. Die erste Studie hatte Patienten im 3-Stunden-Zeitfenster eingeschlossen. Da die Behandlung vor Krankenhausaufnahme erfolgte, konnte nicht zwischen zerebralen Ischämien, zerebralen Blutungen, TIA oder Fehldiagnosen unterschieden werden. Die Autoren betrachten aber Patienten, bei denen kein ischämischer Schlaganfall vorlag, als eine Sicherheitspopulation. Diese Studie reiht sich in eine Reihe von anderen Studien ein, bei denen bereits vergeblich eine Therapie des akuten ischämischen Schlaganfalls auf dem Weg ins Krankenhaus durchgeführt worden war [1, 2].
Die zweite Studie schloss Patienten nach rekanalisierender Therapie ein. Die Rekanalisation ist eine Grundvoraussetzung, damit ein Neuroprotektivum überhaupt das ischämische Areal und die Penumbra erreichen kann. Auch diese Studie war negativ. Die Autoren haben eine Vielzahl von Subgruppenanalysen durchgeführt, die für die meisten Subgruppen ebenfalls negativ waren. Nur in einer Untergruppe von Patienten mit ischämischem Schlaganfall und erfolgreicher Reperfusionstherapie zeigte sich ein geringer Unterschied zu Placebo. Insgesamt reichen die Ergebnisse aber nicht aus, um einen Zulassungsantrag für Nerinetid zu stellen. Damit gibt es weiterhin keinen Nachweis für den Nutzen einer neuroprotektiven Therapie beim akuten ischämischen Schlaganfall.
Quellen
Christenson J, et al. Efficacy and safety of intravenous nerinetide initiated by paramedics in the field for acute cerebral ischaemia within 3 h of symptom onset (FRONTIER): a phase 2, multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled study. Lancet 2025;405:571–82.
Hill MD, et al. Efficacy and safety of nerinetide in acute ischaemic stroke in patients undergoing endovascular thrombectomy without previous thrombolysis (ESCAPE-NEXT): a multicentre, double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2025;405:560–70.
Literatur
1. Right-2 Investigators. Prehospital transdermal glyceryl trinitrate in patients with ultra-acute presumed stroke (RIGHT-2): an ambulance-based, randomised, sham-controlled, blinded, phase 3 trial. Lancet 2019;393:1009–20.
2. van den Berg SA, et al. Prehospital transdermal glyceryl trinitrate in patients with presumed acute stroke (MR ASAP): an ambulance-based, multicentre, randomised, open-label, blinded endpoint, phase 3 trial. Lancet Neurol 2022;21:971–81.
Psychopharmakotherapie 2025; 32(03):105-121