Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Pulheim
Im vorliegenden Heft widmet Hasan sich der Gewichtszunahme unter Antipsychotika. Neben Antipsychotika befördern zahlreiche andere Psychopharmaka Gewichtszunahme. Hasan fordert Prävention mittels Komedikation mit Metformin oder – zumindest perspektivisch – auch GLP-1-Rezeptoragonisten (Semaglutid, Liraglutid) oder Tirzepatid (dualer Agonist an GIP[glucoseabhängiges insulinotropes Peptid]- und GLP-1[Glucagon-like Peptide 1]-Rezeptoren). Gewichtszunahme mag als altbekanntes Problem erachtet werden. Gerade weil es altbekannt und damit ungelöst ist, ist es ein zunehmend brennendes Problem. Gewichtszunahme – bisher operationalisiert als steigender Body-Mass-Index (BMI) – ist ein weltweites Phänomen, also eine Art Pandemie [2] einschließlich Deutschlands [4]. Übergewicht ist Risikofaktor für vielfältige Morbidität, Verlust an Lebensqualität und Mortalität. Übergewicht ist inzwischen derart prävalent und folgenreich, dass zum Beispiel die Einsatzbereitschaft der US-amerikanischen Streitkräfte debattiert wird [5]. Indem Übergewicht pandemisch ist, hat es offensichtlich multifaktorielle Ursachen. Vor mehr als 30 Jahren wurden kardiovaskuläre Risikofaktoren und hier auch das Gewicht bei affektiven Psychosen über 16,9 ± 10,9 Jahre verfolgt; 73 % der Gewichtszunahme entfielen auf stationäre Aufenthalte [1]. Schon damals wurde Prävention gefordert – erkennbar bisher vergeblich.
Übergewicht ist quasi ins Gesicht geschrieben. Es ist leicht mittels Waage und „Zollstock“ als BMI zu operationalisieren. Wie oft kommen Waage und „Zollstock“ im psychiatrischen Krankenhaus und in der psychiatrischen und allgemeinmedizinischen Praxis (wo die Mehrzahl der Psychopharmaka verordnet werden) zum Einsatz? Hasan berichtet zutreffend über die Empfehlungen der Lancet Commission [3], statt des BMI das Körperfett als Kriterium heranzuziehen. Dies ist wissenschaftlich gut begründet. Wenn aber bisher schon simple Messparameter, die nur Zollstock und Waage voraussetzen, keine wirksame Prävention ermöglicht haben, wie soll das dann mit der aufwendigen Bestimmung des Körperfetts gelingen? Indem Psychopharmaka – wenn auch in variablem Ausmaß – zu Gewichtszunahme beitragen, rauben sie Lebensjahre und Lebensjahre mit Lebensqualität. Wie werden diese Verluste gegen Gewinne in der Psychopathologie bei der Indikationsstellung abgewogen?
Hasan empfiehlt leitlinienkonform die therapeutische und darüber hinaus auch – nachvollziehbar – präventive Komedikation mit zumindest Metformin, dies unter Hinweis auf den damit verbundenen Off-Label-Use. Diese Empfehlung lässt den ambulanten Verordner und Patienten bezüglich ihrer Finanzierung allein. Warum wurde im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bisher nicht beantragt, die Expertengruppe nach § 35c SGB V mit einer Bewertung dieses Off-Label-Use von Metformin zu beauftragen? Wie lange wollen G-BA und der Gesetzgeber dem – vom Ausmaß unbekannten – Off-Label-Use der GLP-1- und GIP-Rezeptoragonisten als Appetitzügler (Lifestyle-Medikamente nach § 34 Abs. 1 Satz 7 SGB V) tatenlos zusehen? Wann wird zumindest die Adipositas (BMI > 30 kg/m2) bei psychischen Krankheiten als Krankheit anerkannt? Im Jahr 2008 implementierte die Bundesregierung den „Nationalen Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten“ („IN FORM“), 2018 wurde der Evaluationsbericht und ein „Aktionsplan Weiterentwicklung IN FORM“ publiziert. Hat sich aber am Trend zunehmenden Übergewichts etwas geändert?
Hahn et al. präsentieren Ergebnisse aus der EudraVigilance-Datenbank zu Interaktionen im Kontext von Psychopharmaka. Die Autoren haben mit der Autorität der Zulassungsbehörde (BfArM) zu vermelden: „Hochrechnungen zufolge versterben in Deutschland jährlich etwa 58 000 Patientinnen und Patienten auf internistischen Stationen infolge von UAW, wobei Interaktionen als häufigster Auslöser identifiziert wurden.“ Und, „dass psychisch erkrankte Menschen im Durchschnitt vier bis fünf Medikamente einnehmen (4,50 ± 2,68)“ und mit zunehmender Anzahl eingenommener Arzneimittel das Risiko für UAW sowie Arzneimittelinteraktionen erheblich steige. Eine der häufigsten berichteten Interaktionen waren Blutungsereignisse bei Komedikation von SSRI/SNRI mit Thrombozytenaggregationshemmern oder Antikoagulanzien. Dies, „obwohl Interaktionsdatenbanken jedem Heilberufler zur Verfügung stehen“. Da braucht es keine weiteren editoriellen Kommentare.
In der Rubrik „Referiert und kommentiert“ berichtet Hahn über die vielversprechenden konfirmatorischen Studien zu Cytisin (INN Cytisiniclin) als Substitut für Nikotin, Pensler über verhaltenstherapeutisch unterstützte Nikotinersatztherapie im Kontext der Substitutionstherapie Opioidabhängiger, mit einem trefflichen Kommentar unserer Redaktionsleitung.
Pieper referiert eine Studie, wonach der GLP-1-Rezeptoragonist Semaglutid das Craving bei Alkoholkranken mindern könnte. Diener referiert epidemiologische Studien, wonach spezifische Antidiabetika (GLP-1-Rezeptoragonisten und SGLT-2-Hemmer) mit einem verringerten Risiko für Demenzen im Vergleich zu anderen Antidiabetika assoziiert sind; Ergebnisse prospektiver randomisiert-kontrollierter Studien bleiben abzuwarten. Des Weiteren referiert Diener eine Metaanalyse, wonach jedenfalls Metformin und Pioglitazon das Demenzrisiko leider nicht senken. Faszinierend die Frage, mit welchen Mechanismen also GLP-1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Hemmer das Demenzrisiko mindern könnten.
Das geographische Prädilektionsmuster der multiplen Sklerose könnte mit dem Vitamin-D-Stoffwechsel zusammenhängen; Fechte referiert die randomisierte, Placebo-kontrollierte Studie „D-Lay MS“, wonach hochdosiertes Vitamin D bei klinisch isoliertem Syndrom (CIS) das Rezidiv verzögert hat. Pensler referiert die beiden randomisierten, doppelblinden Studien GEMINI 1 und GEMINI 2, wonach der Bruton-Tyrosinkinasehemmer Tolebrutinib zwar die Schubrate nur vergleichbar wie Teriflunomid mindert, aber die Progression der Behinderung stärker verlangsamt.
Seit über 30 Jahren gibt es immer wieder pharmakologische Bemühungen, die der glutamaterg vermittelten Neurotoxizität zugeschriebene Penumbra des ischämischen Hirninfarktes zu verkleinern und also die damit verbundenen neurologischen Defizite zu mindern. Diener berichtet über zwei RCTs, in denen sich Nerinetid, ein im Tiermodell erfolgreiches Neuroprotektivum mit spezifischer, innovativer Pharmakodynamik, leider als wirkungslos erwies. Immer wieder sind also neuroprotektive Ansätze, die sich im Tiermodell als nützlich erwiesen hatten, in der klinischen Anwendung gescheitert. Es wäre wichtig, diese Diskrepanz erklären zu können, um künftig Ressourcenvergeudung zu vermeiden und Patienten vor der Rekrutierung in womöglich aussichtslose Studien zu bewahren.
Kretzschmar berichtet von der 77. Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) und dort vorgetragenen, hoch-innovativen Einsätzen der CAR-T-Zelltherapien bei multipler Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD), MOG Antibody-Associated Disease (MOGAD) und Myasthenia gravis.
Willen berichtet über die ZNS-Tage 2025 in Köln und hier über den Nutzen des Antikonvulsivums (das muss nach neuer Nomenklatur anfallssupprimierendes Medikament [ASM] genannt werden) Cenobamat als Drittlinientherapie. Wie Hahn berichtet, hat die FDA Suzetrigin, einen spezifischen Natriumkanalblocker an peripheren nozizeptiven Nerven, zugelassen als Alternative zu Opioiden in der Therapie des akuten Schmerzes. Suzetrigin könnte einen Paradigmenwechsel einläuten.
Augmentation ist Strategie bei therapieresistenter Depression. Hahn referiert eine methodisch komplexe Metaanalyse zu Cariprazin mit Fokus auf Arzneimittelsicherheit.
Literatur
1. Fritze J, Schneider B, Lanczik M. Vaskuläre Risikofaktoren bei affektiven Psychosen. Krankenhauspsychiatrie 1993;4:14–8.
2. GBD 2021 Adult BMI Collaborators. Global, regional, and national prevalence of adult overweight and obesity, 1990–2021, with forecasts to 2050: a forecasting study for the Global Burden of Disease Study 2021. Lancet 2025;405(10481):813–8. doi: 10.1016/S0140-6736(25)00355-1. Epub 2025 Mar 3.
3. Rubino F, Cummings DE, Eckel RH, Cohen RV, et al. Definition and diagnostic criteria of clinical obesity. Lancet Diabetes Endocrinol 2025;13:221–62.
4. Starker A, Schienkiewitz A, Damerow S, Kuhnert R. Verbreitung von Adipositas und Rauchen bei Erwachsenen in Deutschland – Entwicklung von 2003 bis 2023. J Health Monit 2025;10(1):e12990. doi: 10.25646/12990.
5. Voss JD, Pavela G, Stanford FC. Obesity as a threat to national security: the need for precision engagement. Int J Obes (Lond) 2019;43(3):437–9. doi: 10.1038/s41366-018-0060-y. Epub 2018 Mar 9.
Psychopharmakotherapie 2025; 32(03):87-88