Multiple Sklerose (MS)

Welchen Einfluss hat das Absetzen einer hochwirksamen immunmodulatorischen Therapie bei Patienten ab 50 Jahren?


Prof. Hans-Christoph Diener, Essen

Mit einem Kommentar des Autors
Wie bei jüngeren Patienten ist auch bei Patienten über 50 Jahren mit nicht mehr aktiver MS das Risiko eines Schubs nach Absetzen einer hochwirksamen, immunmodulatorischen Therapie mit Natalizumab oder Fingolimod erhöht. Nach dem Absetzen einer hochwirksamen immunmodulatorischen Therapie, die B-Zellen vermindert – einer sogenannten Anti-CD20-Therapie – mit Ocrelizumab oder Rituximab war das Risiko hingegen nicht signifikant erhöht.

Eine randomisierte klinische Studie ergab, dass der Abbruch einer mittelwirksamen Therapie mit Beta-Interferon, Glatirameracetat, Teriflunomid oder Dimethylfumarat für ältere Patienten mit nicht aktiver Multipler Sklerose (MS) eine sinnvolle Option sein könnte [2]. Es fehlten jedoch Daten über das Absetzen einer hochwirksamen Therapie bei dieser Patientengruppe. Bei jüngeren Patienten ist das Absetzen von Natalizumab und Fingolimod mit einem erhöhten Risiko für das Wiederauftreten der Krankheitsaktivität verbunden [1, 3]. Es sollte daher ermittelt werden, ob das Absetzen einer hochwirksamen Therapie bei Patienten ab 50 Jahren mit nicht aktiver MS ebenfalls mit einem erhöhten Risiko eines erneuten Schubs verbunden ist, verglichen mit der Fortsetzung der Therapie.

Studiendesign

In dieser Kohortenstudie wurden Daten von 38 Zentren aus dem französischen MS-Register analysiert (Observatoire Français de la Sclérose en Plaques) [4]. Von den 84 704 Patienten in der Datenbank wurden die Daten von 1857 Patienten ≥ 50 Jahren mit schubförmiger MS, die mit hochwirksamer Therapie behandelt wurden und bei denen seit mindestens einem Jahr kein MS-Schub vorgekommen war oder seit mindestens zwei Jahren keine Krankheitsaktivität in der Magnetresonanztomographie (MRT) zu sehen war, ausgewertet. Bei 1620 Patienten war die hochwirksame Therapie entweder abgesetzt (n = 168) oder fortgeführt worden (n = 1452). Sie hatten Natalizumab, Fingolimod, Rituximab oder Ocrelizumab erhalten. Die Patienten wurden von 2008 bis 2021 eingeschlossen, mit einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 5,1 Jahren. Extrahiert wurden die Daten im Juni 2022.

Ergebnisse

Von den 1620 eingeschlossenen Patienten waren 73 % weiblich. Das Durchschnittsalter betrug 54,7 (±4,8) Jahre. Aus der Fortsetzungs- und der Abbruchgruppe wurden jeweils 154 Patienten anhand von Propensity-Scores gematcht (einschließlich Alter, Geschlecht, Krankheitsbild, Behinderung und Behandlung). Die Zeit bis zum ersten erneuten MS-Schub war in der Gruppe, die die hochwirksame Therapie absetzte, signifikant kürzer als in der der Gruppe, in der die hochwirksame Therapie fortgesetzt wurde (Hazard-Ratio [HR] 4,1; 95%-Konfidenzintervall [KI] 2,0–8,5; p < 0,001). Es gab einen Unterschied für Natalizumab (HR 7,2; 95%-KI 2,1–24,5; p = 0,001) und Fingolimod (HR 4,5; 95%-KI 1,3–15,5; p = 0,02), aber nicht für eine Anti-CD20-Therapie (HR 1,1; 95%-KI 0,3–4,8; p = 0,85).

Kommentar

In dieser Studie wurde eine klinisch extrem wichtige Frage in der Langzeittherapie der MS untersucht. Es ist bekannt, dass die Krankheitsaktivität jenseits des 50. Lebensjahres langsam abnimmt. Daher stellt sich die Frage, ob eine wirksame immunmodulatorische Therapie ab einem bestimmten Alter, wenn keine neuen Schübe mehr aufgetreten sind und das Kernspintomogramm keine Krankheitsaktivität zeigt, beendet werden kann. Bisher durchgeführte Studien zu dieser Fragestellung mit immunmodulatorischen Therapeutika der ersten und zweiten Generation legten nahe, dass dies tatsächlich möglich ist. Die hier durchgeführte Beobachtungsstudie lässt allerdings vermuten, dass eine hochwirksame immunmodulatorische Therapie mit einem B-Zell-depletierenden Ansatz wie Natalizumab oder Fingolimod nicht ohne Weiteres abgesetzt werden kann. Die Beobachtung, dass dies für Anti-CD20-Therapien nicht gilt, ist allerdings nicht sehr aussagekräftig. Anti-CD20-Therapien wirken deutlich länger und hier war der Beobachtungszeitraum zu kurz, um endgültige Aussagen treffen zu können, dass diese Therapie bei inaktiver MS jenseits des 50. Lebensjahres beendet werden kann. Nachteil der Studie ist, dass es keine randomisierte, sondern lediglich eine Beobachtungsstudie war. Zu der klinisch wichtigen Fragestellung, ob und wann eine immunmodulatorische Therapie bei MS beendet werden kann, müssen große randomisierte Studien durchgeführt werden.

Quelle

Jouvenot G, et al. High-efficacy therapy discontinuation vs continuation in patients 50 years and older with nonactive MS. JAMA Neurol 2024;81:490–8.

Literatur

1. Barry B, et al. Fingolimod rebound: a review of the clinical experience and management considerations. Neurol Ther 2019;8:241–50.

2. Corboy JR, et al. Risk of new disease activity in patients with multiple sclerosis who continue or discontinue disease-modifying therapies (DISCOMS): a multicentre, randomised, single-blind, phase 4, non-inferiority trial. Lancet Neurol 2023;22:568–77.

3. Prosperini L, et al. Post-natalizumab disease reactivation in multiple sclerosis: systematic review and meta-analysis. Ther Adv Neurol Disord 2019;12:1756286419837809.

4. Vukusic S, et al. Observatoire Français de la Sclérose en Plaques (OFSEP): A unique multimodal nationwide MS registry in France. Mult Scler 2020;26:118–22.

Psychopharmakotherapie 2024; 31(04):145-153