Tabea Krause, Stuttgart
Die Myasthenia gravis (MG) ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der es zur Störung der neuromuskulären Reizleitung an der motorischen Endplatte kommt. Daraus resultiert eine belastungs- oder tageszeitabhängige Muskelschwäche, die meist schmerzlos verläuft. In Ruhe kommt es zur Besserung der Symptomatik. Die Erkrankung kann generalisiert (gMG) auftreten oder nur einzelne Muskelgruppen betreffen, beispielsweise die Augenmuskulatur. Auch die Atemmuskulatur kann betroffen sein, was im schlimmsten Fall zur Ateminsuffizienz führt.
Pathophysiologisch konnten Autoantikörper gegen verschiedene Rezeptoren der neuromuskulären Endplatte gefunden werden, darunter Antikörper (AK) gegen den Acetylcholinrezeptor (AChR), die muskelspezifische Rezeptor-Tyrosinkinase (MuSK) und das Low-Density-Lipoprotein-Rezeptor-related Protein 4 (LRP4). Daneben ist ein Teil der Patienten seronegativ, also ohne bekannte Autoantikörper.
Die Therapie ruht auf vier Säulen: symptomatisch, chirurgisch, immuninterventionell und supportiv. Mittel der ersten Wahl zur schnellen Symptomkontrolle ist der Cholinesterase-Inhibitor Pyridostigmin. Weitere verlaufsmodfizierende Therapeutika sind Steroide und Immunsuppressiva wie Azathioprin, Mycophenolsäure, Ciclosporin und Methotrexat. Mittel der zweiten Wahl sind intravenöse Immunglobuline und Plasmapherese/Immunabsorption. Eine Myasthenia gravis kann auch paraneoplastisch durch ein Thymom auftreten. In diesen Fällen kann eine Thymektomie indiziert sein. Problem der aktuellen Standardtherapeutika: eine Wirklatenz von mehreren Monaten bis Jahren. Die neu zugelassenen Wirkstoffe Zilucoplan und Rozanolixizumab sollen die verlaufsmodifizierende Therapie bei hoher Krankheitsaktivität als schnellwirksame Add-on-Therapeutika ergänzen.
Zilucoplan
Zilucoplan (Zilbrysq®) ist ein Inhibitor der Komplementfaktors C5 und ist zugelassen bei AChR-AK-positiver gMG. Der Komplementfaktor C5 zerfällt nach Aktivierung in die Untereinheiten C5a und C5b. C5b aktiviert anschließend den Faktor C6 und spielt im Wesentlichen eine Rolle bei Bildung des Membranangriffskomplex (MAC) des Komplementsystems. Zilucoplan ist ein kleines, 15 Aminosäuren langes, makrozyklisches Peptid mit dualem Wirkungsmechanismus:
- Inhibition der Dissoziation des Komplementfaktors C5 in seine aktiven Untereinheiten C5a und C5b durch hochaffine und selektive Bindung des Proteins.
- Bindung an die C5b-Untereinheit und dadurch sterische Hinderung der Bindung von C5b an C6, resultierend in einer verminderten Bildung und Aktivität des MAC.
Die bereits zugelassenen C5-Inhibitoren Eculizumab und Ravulizumab binden an einer anderen Stelle des C5-Faktors und hemmen so zwar die Dissoziation, nicht jedoch die Bindung an C6. Vergleichende Studien der Wirksamkeit der drei Substanzen sind derzeit nicht verfügbar.
RAISE-Studie
In der zulassungsrelevanten RAISE-Studie (Tab. 1) erhielten die Patienten über einen Zeitraum von zwölf Wochen einmal täglich 0,3 mg/kg Körpergewicht (KG) des Wirkstoffs oder Placebo. Nach Ende des Studienzeitraums wurde die Studie verlängert (RAISE-XT) und alle Patienten erhielten offen den Wirkstoff. Die Applikation des Arzneimittels erfolgte mittels Fertigspritze zur subkutanen Injektion nach Schulung der Patienten selbstständig.
Tab. 1. Studiendesign RAISE
Erkrankung |
Generalisierte Myasthenia gravis |
Studientyp/-phase |
Multizentrische, randomisierte, verblindete, Placebo-kontrollierte Phase-III-Interventionsstudie |
Einschlusskriterien |
|
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Änderung im MG-ADL-Score |
Sponsor |
Ra Pharmaceuticals |
Studienregisternummer |
NCT04115293 (ClinicalTrials.gov) |
AChR-AK: Acetylcholinrezeptor-Antikörper; MGFA: Myasthenia Gravis Foundation of America; MG-ADL: Myasthenia gravis activities of daily living; QMG: Quantitative Myasthenia gravis
Myasthenia gravis activities of daily living (MG-ADL)
Der MG-ADL-Score ist ein acht Aktivitäten (z. B. Reden, Kauen, Schlucken) umfassender Patientenfragebogen, mit dem die Einschränkung der Aktivitäten des täglichen Lebens durch die Krankheitssymptome gemessen wird. Jede Aktivität kann mit 0 („normal“) bis 3 („starke Einschränkung“) Punkten bewertet werden. Daraus ergibt sich ein möglicher Wert von 0 bis 24 Punkten. 24 stellt dabei die stärkste Einschränkung in allen Aktivitäten dar [1].
Studienergebnisse
Die Überlegenheit von Zilucoplan hinsichtlich des primären Endpunkts war signifikant (Tab. 2). In der Verum-Gruppe konnte nach zwölf Wochen eine Abnahme des MG-ADL-Scores um durchschnittlich 4,39 Punkte erreicht werden, in der Placebo-Gruppe waren es 2,30 Punkte.
Tab. 2. Studienergebnisse RAISE
Endpunkt |
Zilucoplan 0,3 mg/kg KG |
Placebo |
Differenz (95%-Konfidenzintervall; p-Wert) |
Primärer Endpunkt |
|||
Änderung des MG-ADL-Scores |
–4,39 |
–2,30 |
–2,09 (–3,24 bis –0,95; p = 0,0004) |
Sekundäre Endpunkte |
|||
Änderung des QMG-Scores |
–6,19 |
–3,25 |
–2,94 (–4,39 bis –1,49; p < 0,0001) |
Änderung des MGC-Scores |
–8,62 |
–5,42 |
–3,20 (–5,24 bis –1,16; p = 0,0023) |
KG: Körpergewicht; MGC: Myasthenia gravis composite; MG-ADL: Myasthenia gravis activities of daily living; QMG: Quantitative Myasthenia gravis
In der Verum-Gruppe trat bei 77 % der Teilnehmer und in der Placebo-Gruppe bei 70 % mindestens ein unerwünschtes Ereignis auf. Am häufigsten waren Blutergüsse an der Injektionsstelle (16 % und 9 %), Kopfschmerzen (15 % und 16 %) und Diarrhö (10 % und 2 %).
In der offenen Verlängerungsstudie zeigte die Behandlung weiterhin eine Verbesserung der Scores im Vergleich zum Studienbeginn.
Rozanolixizumab
Rozanolixizumab (Rytiggo®) ist zugelassen bei AChR- und MuSK-AK-positiver gMG. Der monoklonale Antikörper bindet an den neonatalen Fc-Rezeptor (FcRn), welcher physiologisch die Plasmakonzentration und das Recycling von IgG-Antikörpern reguliert. Der FcRn ist auf vielen Körperzellen exprimiert, darunter Endothel-, Epithel- und phagozytotischen Zellen. Wird der FcRn blockiert, steigt der IgG-Katabolismus und die Plasmakonzentration von IgG-Antikörpern sinkt.
MycarinG-Studie
In der Zulassungsstudie MycarinG erhielten die Patienten einmal wöchentlich für sechs Wochen (= ein Zyklus) 1 : 1 : 1 randomisiert 7 mg/kg KG Rozanolixizumab, 10 mg/kg KG Rozanolixizumab oder Placebo (Tab. 3). Danach folgte ein achtwöchiger Beobachtungszeitraum, in dem untersucht wurde, ab wann es zur Verschlechterung der Symptomatik kam.
Tab. 3. Studiendesign MycarinG
Erkrankung |
Moderate bis schwere generalisierte Myasthenia gravis |
Studientyp/-phase |
Multizentrische, randomisierte, verblindete, Placebo-kontrollierte Phase-III-Interventionsstudie |
Einschlusskriterien |
|
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Änderung im MG-ADL-Score |
Sponsor |
UCB Biopharma SRL |
Studienregisternummer |
NCT03971422 (ClinicalTrials.gov) |
Studienergebnisse
Auch Rozanolixizumab zeigte im Vergleich zu Placebo eine signifikante Überlegenheit hinsichtlich des primären Studienendpunkts. So kam es unter Rozanolixizumab-Therapie bei den Patienten mit 7 mg/kg KG zu einer Abnahme des MG-ADL-Scores um 3,37 Punkte, bei 10 mg/kg KG waren es 3,40 Punkte und unter Placebo 0,78 Punkte. Auch bei den sekundären Studienendpunkten, Änderung im QMG- und MGC-Score, war die Überlegenheit bei beiden Dosierungen signifikant. Hinsichtlich der Plasmakonzentration an IgG-AK kam es unter der 7-mg-Dosierung zu einer maximalen Reduktion von 73 % im Vergleich zum Ausgangswert und bei der 10-mg-Dosierung von 79 %. Nach Ende des Behandlungszeitraums kam es während der Observationsphase in allen Studiengruppen wieder zum Anstieg der Score-Werte und IgG-Plasmakonzentration in Richtung des Ausgangswerts zu Studienbeginn.
Mindestens ein unerwünschtes Ereignis trat unter Placebo bei 45 % der Patienten auf, unter der 7-mg-Dosierung bei 52 % und unter 10 mg bei 57 %. Das häufigste Ereignis war Kopfschmerz (13 %, 29 % und 26 %), gefolgt von Diarrhö (9 %, 16 % und 11 %) und Fieber (1 %, 8 % und 14 %). In einer gepoolten Analyse zur Langzeitwirksamkeit und -sicherheit konnte die Wirksamkeit und Sicherheit der Anwendung von Rozanolixizumab über mehrere Behandlungszyklen hinweg bestätigt werden.
Fazit
Beide Wirkstoffe konnten gegenüber Placebo überzeugen. Ob sie auch gegenüber den bereits zugelassenen Wirkstoffen überlegen sind, bleibt abzuwarten. So obliegt es auch zunächst dem Therapeuten, welchen Wirkstoff er zur Behandlung seiner Patienten wählt. Ein Vorteil von Zilucoplan (bei AChR-AK-positiven Patienten) wäre jedoch, dass es nach Schulung der Patienten selbst appliziert werden kann, während Rozanolixizumab ambulant infundiert werden muss. Zudem ist für Rozanolixizumab noch kein Zeitfenster für das Intervall zwischen den Behandlungszyklen definiert, dies erfolgt bisher patientenindividuell. Dennoch ist Rozanolixizumab aufgrund seines Wirkungsmechanismus universeller einsetzbar. Dr. Andreas Meisel von der Charité, Berlin, sprach zudem die Vermutung aus, dass aufgrund des Mechanismus auch eine Wirksamkeit bei seronegativen Patienten erwartet werden kann, und hofft, dass Untersuchungen für dieses Patientenkollektiv folgen.
Quelle
Prof. Dr. med. Andreas Meisel, Berlin, Prof. Dr. med. Christiane Schneider-Gold, Bochum. Launch-Presseveranstaltung „Zilucoplan und Rozanolixizumab – Neue Therapieoptionen in der Behandlung von Erwachsenen mit generalisierter Myasthenia gravis“, 7. März 2024, veranstaltet von UCB Pharma.
Literatur
1. Canadian Agency for Drugs and Technologies in Health. Clinical Review Report: Eculizumab (Soliris): Alexion Pharma Canada Corporation. 2020.
Psychopharmakotherapie 2024; 31(03):103-117