Prof. Hans-Christoph Diener, Essen
Mit einem Kommentar des Autors
Bei vielen Frauen mit Epilepsie muss die antikonvulsive Therapie fortgesetzt werden, auch wenn sie schwanger werden. Einige der Antiepileptika erhöhen das Risiko für kindliche Missbildung. Eine weitere mögliche Konsequenz sind intellektuelle Entwicklungsstörungen, das gehäufte Auftreten einer Autismus-Spektrum-Störung oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Besonders die mütterliche Einnahme von Valproinsäure während der Schwangerschaft geht mit einem erhöhten Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern einher. Die vorliegenden Daten für Lamotrigin sprechen überwiegend gegen einen solchen Zusammenhang. Für die mütterliche Topiramat-Einnahme gibt es nur begrenzte und widersprüchliche Daten über das Risiko einer Autismus-Spektrum-Störung. Dies sollte in der vorliegenden Studie näher beleuchtet werden.
Studiendesign
Die Autoren identifizierten eine bevölkerungsbasierte Kohorte von schwangeren Frauen und ihren Kindern aus zwei großen Datenbanken zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens in den Vereinigten Staaten mit Daten aus den Jahren 2000 bis 2020. Die Exposition gegenüber bestimmten Antiepileptika wurde definiert auf der Grundlage von Verschreibungen ab der 19. Schwangerschaftswoche bis zur Entbindung. Kinder, die in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft Topiramat ausgesetzt waren, wurden mit Kindern verglichen, deren Mütter während der Schwangerschaft kein Antiepileptikum erhalten hatten. Erfasst wurde das Risiko einer Autismus-Spektrum-Störung. Valproinsäure diente als Positivkontrolle (erhöhtes Risiko) und Lamotrigin als Negativkontrolle (niedriges Risiko).
Ergebnisse
Von 4 292 539 infrage kommenden Schwangerschaften hatten 2469 Frauen in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft mindestens eine Verschreibung für Topiramat, 1392 für Valproinsäure und 8464 für Lamotrigin erhalten. 4 199 796 Frauen hatten keine Verordnungen von Medikamenten gegen Epilepsie in den 90 Tagen vor und während der Schwangerschaft eingelöst. Im Vergleich zu nicht exponierten Müttern hatten Mütter, die Topiramat erhielten, eine höhere Häufigkeit für Epilepsie, bipolare Störung, Migräne, neuropathische Schmerzen, Angst, Depression und ADHS. Sie waren auch häufiger als nicht exponierte Mütter Weiße, hatten einen Diabetes mellitus oder eine Adipositas, Tabakkonsum, Alkohol- oder Drogenkonsumstörungen. Außerdem nahmen sie häufiger Antidepressiva, Anxiolytika oder Opioide ein.
Bei dem Nachwuchs betrug die geschätzte kumulative Inzidenz von Autismus-Spektrum-Störungen im Alter von acht Jahren
- 1,9 % für die Gesamtpopulation der Kinder, die nicht Antiepileptika ausgesetzt waren (4 199 796 Kinder).
- 4,2 % bei Kindern von Müttern mit Epilepsie ohne Exposition gegenüber Antiepileptika (8815 Kinder),
- 6,2 % bei Exposition mit Topiramat (1030 Kinder),
- 10,5 % bei Exposition mit Valproinsäure (800 Kinder)
- 4,1 % bei Exposition mit Lamotrigin (4205 Kinder).
Nach Propensity-Score-Bereinigung betrugen die Hazard-Ratios für den Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Antiepileptika-Exposition 0,96 (95%-Konfidenzintervall [KI] 0,56–1,65) für die Exposition gegenüber Topiramat, 2,67 (95%-KI 1,69–4,20) für die Exposition gegenüber Valproinsäure und 1,00 (95%-KI 0,69–1,46) für die Exposition gegenüber Lamotrigin.
Kommentar
Diese große Studie aus den Vereinigten Staaten identifizierte aus über vier Millionen Schwangerschaften 12 325 Frauen, die während der Schwangerschaft mit Valproinsäure, Topiramat oder Lamotrigin behandelt wurden. Das erste Ergebnis war bereits bekannt: Kinder von Müttern mit Epilepsie, die keine Antiepileptika erhalten, haben ein erhöhtes Risiko für eine Autismus-Spektrum-Erkrankung. Die Studie zeigte auch den bereits bekannten Zusammenhang zwischen der Einnahme von Valproinsäure und dem erhöhten Risiko einer Autismus-Spektrum-Erkrankung. Für Topiramat war das Risiko numerisch ebenfalls erhöht. Wenn aber für alle konkurrierenden Faktoren, Begleiterkrankungen und Begleitmedikationen korrigiert wurde, bestand kein erhöhtes Risiko mehr. Die Studie bestätigte zudem, dass eine Exposition gegenüber Lamotrigin während der Schwangerschaft das Risiko einer Autismus-Spektrum-Erkrankung nicht erhöht.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist die neue Erkenntnis, dass das Risiko für eine Autismus-Spektrum-Erkrankung auch dann erhöht ist, wenn der Kindsvater in der Zeit der Konzeption Valproinsäure einnimmt [1, 2].
Quelle
Hernández-Díaz S, et al. Risk of autism after prenatal topiramate, valproate, or lamotrigine exposure. New Engl J Med 2024;390:1069–79.
Literatur
1. Medicines & Healthcare products Regulatory Agency, London. MHRA update on new study on risk in children born to men taking valproate. January 2024.www.gov.uk/government/news/mhra-update-on-new-study-on-risk-in-children-born-to-men-taking-valproate (Zugriff am 09.04.2024).
2. Medicines & Healthcare products Regulatory Agency, London. Safety of valproate—new study on risks in children of men taking valproate. August 2023. www.gov.uk/government/news/safety-of-valproate-new-study-on-risks-in-children-of-men-taking-valproate (Zugriff am 09.04.2024).
Psychopharmakotherapie 2024; 31(03):103-117