Neurologische Erkrankungen

Patientenindividuelle Therapie von Migräne und multipler Sklerose


Annika Harsch, Stuttgart

Die Therapieoptionen der multiplen Sklerose und Migräne haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Durch neue Wirkstoffklassen wie Anti-CGRP-Antikörper wachsen die Chancen einer personalisierten Therapie. Bei einem virtuellen Pressegespräch im Rahmen des Fortbildungsformats Neurocluster® wurden aktuelle Erkenntnisse zu diesen beiden neurologischen Erkrankungen diskutiert.

Anti-CGRP-Antikörper: Doppelter Effekt durch Linderung von Komorbiditäten

Komorbiditäten sind bei Migräne keine Seltenheit. Besonders häufig sind Begleiterkrankungen psychiatrischer Art: „Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass Kopfschmerzen und psychiatrische Erkrankungen miteinander assoziiert sind“, betonte Prof. Dr. med. Uwe Reuter, MBA, Greifswald, den Zusammenhang. Hier können Anti-CGRP(Calcitonin gene-related peptide)-Antikörper wirksam sein, die in den letzten fünf Jahren vermehrt in der Migränetherapie eingesetzt wurden. Zugelassen sind die Antikörper bei Patienten mit mindestens vier Migränetagen im Monat.

In der randomisierten Phase-IV-Studie UNITE aus dem Jahr 2023 bei Migränepatienten mit komorbider Depression führte der CGRP-Antikörper Fremanezumab zu einer signifikanten Verringerung der monatlichen Migränetage sowie zu einer deutlichen Verbesserung der Depressionssymptomatik [3]. Auf eine erhöhte CGRP-Konzentration im Liquor und Plasma von depressiven Patienten deuteten bereits Studien aus dem Jahr 1994 [4] bzw. 2008 [1] hin, was die Wirksamkeit von Anti-CGRP-Antikörpern bei psychiatrischen Komorbiditäten erklären könnte.

Liganden- oder Rezeptor-Antikörper?

Interessanterweise scheinen Antikörper gegen den CGRP-Rezeptor bei komorbider Depression weniger effektiv zu sein als Antikörper, die auf den Liganden abzielen. So führte der Liganden-Antikörper Fremanezumab in einer aktuellen Studien bei Patienten mit mehr als sechs monatlichen Migränetagen und Depression zu einer größeren Verbesserung der Depressionssymptomatik als der Rezeptor-Antikörper Erenumab [2]. Umgekehrt könnte die Depression daher ein negativer Prädiktor für die Wirksamkeit von Anti-CGRP-Rezeptor-Antikörpern sein.

Anhand der beschriebenen Daten wird klar, dass Komorbiditäten bei der Wahl der Migränetherapie durchaus relevant sind. Insbesondere durch die richtige Wahl des monoklonalen Antikörpers kann die Lebensqualität durch Linderung komorbiditätsbedingter Symptome verbessert werden. Zur Optimierung des Therapieansprechens wies Reuter weiterhin auf die Bedeutung einer frühen Anwendung von Antikörpern sowie einen Wechsel des Antikörpers bei Nichtansprechen hin.

MS als „Krankheit der 1000 Gesichter“

Dass eine patientenindividuelle Therapie auch bei der multiplen Sklerose (MS) immer mehr in den Fokus rückt, beschrieb Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Dresden. Auch als „Krankheit der 1000 Gesichter“ bezeichnet, besitzt die MS viele verschiedene Ausprägungsformen.

Passend dazu hat sich das Portfolio der MS-Therapieoptionen in den letzten 15 Jahren enorm vergrößert.

Die Masse an Studiendaten und zugelassenen Arzneimitteln bietet ein breites Spektrum an Möglichkeiten, macht die Therapieentscheidung aber auch komplizierter. Angefangen bei einer Eskalations- versus Induktionstherapie sind auch Komorbiditäten und Polymedikation wichtig für die Therapieentscheidung. Ziemssen betonte, dass über 50 % der MS-Patienten Polymedikation erhalten, was das Therapiemanagement zusätzlich erschwert. Essenziell sei außerdem die Beachtung von Lebensumständen, wie Kinderwunsch. Hier ist die Umstellung auf unbedenkliche Arzneimittel, beispielsweise Glatirameracetat gefragt, erläuterte Ziemssen.

Fazit

Mit der zunehmenden Anzahl an neuen Arzneimitteln bei Migräne und MS wachsen die Möglichkeiten einer personalisierten Behandlung. Gleichermaßen wird die Therapieentscheidung aber immer komplexer, wie anhand der MS-Therapie eindrücklich gezeigt werden kann. Aktuelle Studienergebnisse, beispielsweise zur komorbiden Depression bei Migräne, können dazu beitragen, Therapieentscheidungen dennoch evidenzbasiert zu treffen.

Quelle

Prof. Dr. med. Uwe Reuter, MBA, Greifswald, Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Dresden, virtuelles Pressegespräch: „Migräne und Multiple Sklerose: Patientenversorgung in der klinischen Praxis“, 11. März 2024, veranstaltet von der Firma Teva im Rahmen des Fortbildungsformats Neurocluster®.

Literatur

1. Cizza G, et al. Elevated neuroimmune biomarkers in sweat patches and plasma of premenopausal women with major depressive disorder in remission: the POWER study. Biol Psychiatry 2008;64:907–11.

2. de Vries Lentsch S, et al. Depression and treatment with anti-calcitonin gene related peptide (CGRP) (ligand or receptor) antibodies for migraine. Eur J Neurol 2024;31:e16106.

3. Lipton RB, et al. Poster P-231. Präsentiert auf dem 65. Annual Scientific Meeting of the American Headache Society (AHS), vom 15. bis 18. Juni 2023 in Austin, USA.

4. Mathé AA, et al. Increased concentration of calcitonin gene-related peptide in cerebrospinal fluid of depressed patients. A possible trait marker of major depressive disorder. Neurosci Lett 1994;182:138–42.

Psychopharmakotherapie 2024; 31(03):103-117