Ein ganz außergewöhnliches Buch – nicht nur für Neurologen


Gabriel Eckermann, Berlin

Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen

Von H.-Ch. Diener, Ch. Gerloff, M. Dieterich, M. Endres (Hrsg.). Kohlhammer, Stuttgart 2023. 8., erw. und überarb. Auflage. 1704 Seiten, 117 Abbildungen, 352 Tabellen. Auch als E-Book erhältlich. Gebunden 249,00 Euro. ISBN 978-3-17-039966-2. E-Book (PDF) 229,99 Euro. ISBN 978-3-17-039967-9.

Käufer der Printausgabe erhalten 12 Monate kostenfreien Zugriff auf die Online-Ausgabe.

Unter der Federführung der Herausgebergruppe und der Mitarbeit von über 150 Fachexperten liegt das sehr umfangreiche Standardwerk zur klinischen Neurologie jetzt als erweiterte und komplett überarbeitete Neuauflage vor.

Das Buch bietet die aktuellen Erkenntnisse zum Stand von Klinik, Verlauf und Therapie neurologischer Erkrankungen für häufige wie auch seltene Krankheitsbilder – systematisch zusammengefasst und für die praktische Anwendung gewichtet, mit evidenzbasierten und in ihrer Relevanz abgestuften Therapieempfehlungen sowie klinischen Pfaden zur Veranschaulichung der Best Practice. Dabei wird der Versuch einer neuen Konzeption und Didaktik gemacht mit dem Ziel, den aktuellen Anforderungen des zunehmend auch digital geprägten Klinikalltags gerecht zu werden. Es gibt eine größere Vereinheitlichung der Gliederung der Krankheitskapitel, eine stärkere Nutzung didaktischer (Kasten-)Elemente für einen besseren Überblick sowie häufige Querverweise mit Links in den elektronischen Formaten.

An wichtigen Neuerungen in dieser Auflage sind beispielsweise die Kapitel zu funktionellen Bewegungsstörungen, zu dissoziativen Anfällen, zu spinaler Muskelatrophie sowie zu neurologischen Nebenwirkungen von Tumortherapien zu nennen.

Ganz außerordentlich hilfreich sind die Rubriken „Das Wichtigste auf einen Blick“. So stellt das Kapitel C4 in wunderbar übersichtlicher, knapper Weise die „Dissoziativen Anfälle“ vor. Ein Kapitel, das auch für die Psychiatrie relevant ist, denn immer wieder haben wir es auch in unseren psychiatrischen Kliniken mit solchen Patienten zu tun.

Generell ist festzuhalten, dass dieser Klassiker auch für die Psychiatrie höchst relevant ist, da auch Patienten mit schweren neurologischen Erkrankungen, etwa der Huntington-Erkrankung (Huntington’s disease; HD) – die ja auch viele psychopathologische Symptome aufweisen kann –, in psychiatrische Kliniken aufgenommen werden. In manchen Fällen sogar noch, bevor die neurologische Diagnostik gestellt ist. Die HD kann sich bekanntlich auch mit psychiatrischen Störungen, vor allem Psychosen, Depressionen, Zwangsstörungen und Sucht manifestieren.

Der Abschnitt A diskutiert Schmerzstörungen in den verschiedensten Differenzialdiagnosen. Die Schmerzmedikamente werden in übersichtlichen Tabellen zusammengefasst mit den entsprechenden Indikationen, Dosierungen, UAW und Kontraindikationen. Für die Psychiatrie wichtig, man denke nur an die Kombination aus Tramadol und einem SSRI-Präparat, welche zum Serotoninsyndrom führen kann.

In Bezug auf die Psychiatrie ist auch als sehr wichtiges Kapitel „Demenzen“ inklusive therapeutischer Möglichkeiten besonders zu nennen. In Kapitel D 7.1 ist wieder hervorragend „Das Wichtigste auf einen Blick“ zusammengefasst. Die Psychiater müssen beispielsweise unbedingt die Symptomatik der Lewy-Körper-assoziierten Demenzen kennen, denn bei dieser Gruppe müssen wir mit einer neuroleptischen Medikation extrem vorsichtig sein. Die klinische Symptomatik ist hier sehr gut dargestellt.

Für die psychopharmakologische Therapie ist in diesem Buch auch die Darstellung des „Malignen neurolepetischen Syndroms“ (MNS) mit entsprechend wichtigen Differenzialdiagnosen hervorzuheben (siehe unter G 4.1 „Das Wichtigste auf einen Blick“). Damit müssen sich Psychiater sehr genau beschäftigen und ad hoc rasch nachsehen können. Wird das MNS zu spät erkannt, kann dies zu einem fatalen Ausgang führen.

Des Weiteren hilfreich ist das „Medikamente-Verzeichnis“. Hier ist es gerade in der Online-Ausgabe auf die einfachste und schnellste Weise möglich, zu den verschiedenen Indikationen der jeweiligen Substanzen zu gelangen. Das ist sehr übersichtlich gemacht.

Allerdings gibt es zum Stichwort „Polypharmazie“ nur einen einzigen Hinweis in der Suchfunktion, und zwar unter „Harninkontinenz“, welche häufig als multifaktorielles Syndrom aufzufassen ist, auch in Kombination mit Multimorbidität und Polypharmazie. Zu den direkten Folgen und Komplikationen einer Harninkontinenz zählen unter anderem Stürze mit Frakturfolgen. Da Multimorbidität mit konsekutiver Polypharmazie ein sehr häufiges Problem mit potenziell erheblichen Folgen ist, fände der Rezensent es angebracht, wenn auch in diesem großen Standardwerk zur neurologischen Therapie ein kleiner Abschnitt zur Polypharmazie zu lesen wäre, wie mit den Schwierigkeiten der Polypharmazie, die natürlich auch in der Neurologie tagtäglich auftauchen, umzugehen ist (s. Online-Interaktionsdatenbanken) und wo z. B. das „Deprescribing“ eines der besten Hilfsmittel darstellt.

Leider fehlt bei der Suchfunktion der oben genannten Online-Ausgabe die Seitennavigation, die in E-Books ein wertvolles Hilfsmittel ist, um rasch und flüssig sukzessive vorangehen zu können.

Natürlich weist dieses extrem umfangreiche Werk noch sehr viele andere, auch für die Psychiatrie wichtige Inhalte auf. In dieser kurzen Rezension ist das nicht vollumfänglich aufzuführen.

Doch zusammenfassend ist als Schlussbewertung festzuhalten: Dieses Buch ist eine inhaltliche und didaktische Meisterleistung, auf das auch unbedingt jeder Psychiater Zugriff haben sollte. Es ist eigentlich das Handbuch der neurologischen Therapie, es gibt nichts Vergleichbares. Es gehört ganz gewiss auch in jede Hausbibliothek einer psychiatrischen/psychosomatischen Klinik.

Psychopharmakotherapie 2024; 31(03):101-102