Das AMNOG-Bewertungsverfahren des Zusatznutzens erschwert die GKV-Verschreibungsfähigkeit neuer Psychopharmaka


Das Beispiel von Esketamin (Spravato)

Hans-Jürgen Möller, München, und Jürgen Fritze, Pulheim

Psychopharmakotherapie 2023;30:170–3.

Auch wenn die Nationale Versorgungsleitlinie unipolare Depression den Stellenwert der medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva im Verhältnis zur Psychotherapie relativiert hat, so bleiben diese doch, auch aus pragmatischen Gründen und im Sinne der Versorgungsrealität, eine wichtige, wenn nicht die vorrangige Therapie-Säule im Behandlungsalltag Depressiver in Deutschland. Dies gilt insbesondere für den ambulanten Bereich [7, 8]. Es besteht weitgehender Konsens, dass die verfügbaren pharmakologischen Therapiemöglichkeiten im Bereich depressiver Erkrankungen unter mehreren Aspekten unbefriedigend sind, so z. B. hinsichtlich der zu niedrigen Wirkstärke, der zu niedrigen Remissionshäufigkeit, der unzureichenden Wirkung auf Subsyndrome [2] sowie hinsichtlich der für einzelne Substanzgruppen unterschiedlichen Verträglichkeitsprobleme. Weitere psychopharmakologische Forschung mit dem Ziel, möglichst innovative Antidepressiva bereitzustellen, ist deshalb wichtig.

Wenn dann ein Antidepressivum erfolgreich entwickelt werden konnte, das Zulassungsverfahren der europäischen Arzneimittelagentur EMA durchlaufen und die Zulassung erreicht hat, sehen viele Länder – so auch Deutschland mit dem „AMNOG-Verfahren“ der frühen Nutzenbewertung – weitere, auf Ausgabenbegrenzung zielende Hürden vor, mit denen der sogenannte „Nutzen“ sowie der „Zusatznutzen“ gegenüber den in Verwendung befindlichen Standard-Medikamenten für die gleiche Indikation (sog. zweckmäßige Vergleichstherapie) geprüft werden, was eine für die pharmazeutische Industrie unter Re-Investment-Aspekten günstige Preisgestaltung beeinträchtigt. Die schwierige Gesamtlage hat mehrere große pharmazeutische Unternehmen veranlasst, das Feld der Psychopharmaka-Entwicklung aufzugeben und auch das Inverkehrbringen zugelassener neuer Psychopharmaka in Deutschland zu beenden (sog. Opt-out, z. B. Vortioxetin). Deutschland, ehemals ein Land mit hoher Verfügbarkeit vieler alter und aller neuen Psychopharmaka, ist inzwischen ein Land der Restriktionen geworden.

Soweit es sich nicht um Orphan-Drugs handelt, beauftragt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Bewertung des Dossiers, das vom pharmazeutischen Unternehmen am Tag des Inverkehrbringens vorzulegen ist. Diese IQWiG-Bewertung bereitet die Entscheidung des G-BA über den Zusatznutzen vor, wobei der G-BA von der Bewertung des IQWiG abweichen kann.

Aktuelles Beispiel Esketamin

Eines der jüngsten Bewertungsverfahren gilt erneut dem Zusatznutzen des 2019 in Deutschland eingeführten, intranasalen Esketamin (Spravato®) in der Behandlung therapieresistenter Depressionen. Es ist ein Beispiel für diese Entwicklung und ihre problematischen Folgen. Das IQWiG kam am 15. Juni 2023 zu dem Ergebnis, ein Zusatznutzen sei nicht belegt, weil „keine geeigneten Daten zur Bewertung des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie“ vorgelegt worden seien. Vorgelegt wurde die Studie ESCAPE-TRD, in der Esketamin mit Quetiapin randomisiert verglichen wurde. Die vom G-BA festgelegte zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT) lautete aber „Therapie nach ärztlicher Maßgabe unter Auswahl von einer Augmentation mit Lithium oder Quetiapin retard, einer Kombination mit einem zweiten Antidepressivum, einer elektrokonvulsiven Therapie, einem Wechsel der antidepressiven Monotherapie auf eine andere Substanzklasse“. Das IQWiG hat also – sehr wohl regelkonform – die „Chance genutzt“, sich die Sache einfach machen zu können, nämlich aus rein formalen Gründen – eine Multikomparator-Studie (Vergleich gegen alle angeblichen zVT) wurde nicht vorgelegt – keine Nutzenbewertung vornehmen zu können. Am 24. Juli 2023 fand die mündliche Anhörung gemäß § 35a Abs. 3 Satz 2 SGB V durch den G-BA statt. Soweit dem Wortprotokoll [4] zu entnehmen, bestand ziemlicher Konsens, dass eine solche Multikomparator-Studie undurchführbar wäre. Der Festlegung der zVT durch den G-BA lagen sorgfältige Literaturrecherchen des G-BA zugrunde [5]. Soweit dem Wortprotokoll der Anhörung [4] unwidersprochen zu entnehmen, soll die Festlegung der zVT während des Verlaufs des Verfahrens geändert worden sein. Jedoch entspricht sie zumindest der Festlegung im Jahr 2021 [3]. Damals allerdings hatte der G-BA seinen Beschluss, der Zusatznutzen in dieser (Teil-)Indikation sei nicht belegt, ausdrücklich mit Verweis auf die erwarteten Ergebnisse der Studie ESCAPE-TRD befristet, damit also zumindest implizit anerkannt, die Ergebnisse der Studie ESCAPE-TRD würden für die Bewertung des Zusatznutzens geeignet sein. Das hat das IQWiG nicht gewürdigt, konnte es allerdings aus formalen Gründen (gültige Definition der zVT) auch nicht würdigen. Naturgemäß muss das Anhörungsverfahren unerkennbar lassen, wie der G-BA mit den Stellungnahmen umgehen wird. Während laut Wortprotokoll Vertreterinnen des IQWiG Offenheit für eine Überprüfung der Nutzenbewertung signalisierten [4], bleibt dafür wohl kein Raum, denn gemäß gesetzlicher Frist und wie angekündigt muss der G-BA Anfang September 2023 über den Zusatznutzen beschließen, was keine erneute Beauftragung des IQWiG erlaubt. Das IQWiG kann sich nicht aus eigenem Entschluss korrigieren, sondern nur im Auftrag des G-BA.

Eine negative Entscheidung des G-BA über den Zusatznutzen wird, wenn Deutschland trotzdem noch Glück haben sollte, zur Folge haben, dass die Herstellerfirma das Wagnis eingeht, eine zweite Zusatznutzen-Studie gegenüber anderen zVTs durchzuführen. Leider ist es wegen der hohen Kosten einer solchen zweiten Studie und des auch dann noch immer ungewissen Ausgangs wahrscheinlicher zu erwarten, dass das intranasale Esketamin in Deutschland nicht weiter auf dem Markt bleibt. Würde der G-BA erneut für nicht ausreichend nachgewiesenen Zusatznutzen votieren, führte dies dazu, dass gemäß AMNOG-Verfahren nur das Preisniveau vergleichbarer, auf dem deutschen Markt verfügbarer Antidepressiva bzw. antidepressiv wirksamer Medikamente anderer Substanzklassen gleicher Indikation in den Preisverhandlungen nach § 130b erreicht werden könnte. Da alle diese Präparate auf dem Preisniveau von Generika, also auf Cent-Niveau sind, ist eine solche Lösung für einen pharmazeutischen Unternehmer ökonomisch nicht akzeptabel und er wird auf den deutschen Markt verzichten.

Dies wäre bedauerlich, da die therapieresistente Depression sehr häufig ist, mit großem Leid für die betroffenen Patienten und Angehörigen verbunden ist, und durch Arbeitsunfähigkeit, ambulante/stationäre Behandlung und vorzeitige Berentung hohe Kosten für Krankenversicherung, Rentenversicherung und sonstige soziale Unterstützungssysteme verursacht.

Das 2019 in Deutschland eingeführte intranasale Esketamin (Spravato) hat sich bisher in dieser Indikation gut bewährt, wenn auch die Verordnungshäufigkeit aus Preisgründen und wegen einschränkender Regulierungen (nur Anstaltspackungen wurden in den Verkehr gebracht) nicht dem medizinischen Bedarf entspricht [11]. Bei adäquater Preisfestlegung und weniger restriktiver Verordnungsregularien wäre es aber in Zukunft eine wichtige Stütze im Gesamt-Therapieprogramm für therapieresistente Depressionen.

Genese des AMNOG-Bewertungsverfahrens

Noch vor etwa 20 Jahren genügte es in Deutschland, dass ein Psychopharmakon auf der Basis eines positiven Wirksamkeits- und Verträglichkeitsnachweises die Zulassung erreicht hatte, um von den Ärzten zulasten der GKV verschrieben werden zu können, und zwar gemäß den Preisvorstellungen des pharmazeutischen Unternehmers. Transparenzkommissionen, wie sie in vielen anderen europäischen Staaten schon lange üblich waren, um die Preise nach unten zu regulieren, gab es nicht. Dafür wurden zunehmend andere Mechanismen der indirekten Preis- und Verschreibungskontrolle entwickelt mit dem Ziel, Kosten des Gesundheitssystems im Arzneimittel-Sektor nicht explodieren zu lassen, u. a. indem neue Medikamente im Verlauf ihrer Marktentwicklung mit älteren Standardpräparaten, die zu dem Zeitpunkt schon generisch und damit preisgünstig waren, verglichen und über die Kassenärztlichen Vereinigungen zur primären Verordnung empfohlen wurden oder indem über die vom G-BA initiierten Verfahren (u. a. Gruppenbildung mit Festpreisen orientiert am günstigsten Generikapreis) eine Preisreduktion erfolgte.

Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (2004) wurde dieser Reglementierungsansatz verstärkt, indem der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit diesem Gesetz den Auftrag erhielt, unter Einbeziehung des dafür geschaffenen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den „Nutzen“ von Arzneimitteln zu prüfen. Mit der Gesundheitsreform des Jahres 2007 wurden durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) die Aufgaben des IQWiG erweitert: Bislang konnte es Arzneimittel nur in Hinblick auf ihren medizinischen Nutzen bewerten, künftig sollte das Institut auch die Kosten in ein Verhältnis zu dem zuvor ermittelten Nutzen setzen. Laut Gesetz sollten diese Kosten-Nutzen-Bewertungen zum einen dazu dienen, Höchstbeträge für bestimmte Arzneimittel festzulegen. Zum anderen sollten sie den G-BA dabei unterstützen, die Wirtschaftlichkeit medizinischer Verfahren zu beurteilen. Verschiedene methodische Verfahren wurden vom IQWiG, entwickelt, um die Kosten-Nutzen-Bewertung [2, 9] in einer vermeintlich transparenten und rationalen Weise durchzuführen. Über diese Methoden wurde aber immer wieder heftig gestritten, insbesondere zwischen den Kontrahenten – IQWiG/G-BA/GKV auf der einen Seite und pharmazeutischen Unternehmern und z. T. medizinischen Fachgesellschaften auf der anderen Seite. Unter diesem Druck und auch z. T. aus selbstkritischer Überzeugung musste das IQWiG Methodenpapiere erheblich revidieren. Neben methodischen Aspekten im engeren Sinne standen hinter dem Dissens der beiden Lager auch erhebliche Interessenkonflikte. So wollten die pharmazeutischen Unternehmer, insbesondere die forschende Industrie, nicht den Return of Investment für neue Arzneimittel minimiert sehen und die medizinischen Fachgesellschaften wollten sicherstellen, dass weiterhin innovative Arzneimittel auf den deutschen Arzneimittelmarkt kommen und den Patienten verschrieben werden können.

Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) [2, 9] aus dem Jahre 2010, in Kraft seit 1. Januar 2011, wurde diese Problematik noch verschärft. Für jedes neue Arzneimittel wurde nun die Nachweispflicht eines Zusatznutzens gefordert, der in einem vom pharmazeutischen Hersteller zu erstellenden Nutzen-Dossier bereits früh nach Markteinführung („frühe Nutzenbewertung“) darzulegen ist. Das Nutzen-Dossier soll spätestens mit dem Inverkehrbringen des neuen Medikaments vorliegen. Das Verfahren soll nach sechs Monaten beendet sein. Der „Zusatznutzen“ muss in dem Verfahren gegenüber einer „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ (zVT) ermittelt werden. Der G-BA legt den Zusatznutzen auf Basis der Bewertung des Nutzendossiers durch das IQWiG fest, soweit es sich nicht um ein Orphan-Drug handelt. Während im Rahmen der früheren Verfahren das IQWiG auf der Basis der eingereichten Studienunterlagen eigene statistische Bewertungen durchführte, wurde nun die arbeitsreiche Hauptaufgabe dem pharmazeutischen Unternehmer abverlangt.

Entkopplung von Zulassung und Nutzenbewertung

Die Erstellung des sehr detailreichen und umfangreichen Dossiers ist mit hohen Kosten (in der Regel Millionenbeträge) verbunden, da unter anderem eine Fülle statistischer Analysen notwendig wird. Viel bedrohlicher ist es allerdings für den pharmazeutischen Hersteller, wenn die der Zulassung geltenden Placebo-kontrollierten Phase-III-Studien nicht ausreichen, um den Zusatznutzen zu belegen, da der G-BA gemäß § 35a SGB V eine andere – vermeintlich zweckmäßige – Vergleichstherapie verlangt. Insgesamt ist die Entkopplung von Zulassung und Nutzenbewertung ein problematisches Faktum, das dringend der Korrektur im Sinne einer Harmonisierung mit Einbeziehung des BfArM und der EMA bedarf. Die Europäische Kommission (EC) hat eine europäische Harmonisierung und Kooperation des Health-Technology-Assessment (HTA) eingeleitet [1], wobei der G-BA eine bedeutsame Koordinierungsaufgabe übernommen hat [6]. Ein besonders kritisches Problem in dem Kontext ist die Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT).

Welche zweckmäßige Vergleichstherapie ist die Richtige?

In einer 2013 vom Bundestag verabschiedeten Änderung des AMNOG wurde erfreulicherweise festgelegt, dass der pharmazeutische Hersteller, entgegen früheren Festlegungen einer zVT durch den G-BA, nun entscheiden kann, welche zweckmäßige Vergleichstherapie er für seine Analysen wählt, sofern der G-BA mehrere zVTs definiert hat. Mit dieser Regelung soll in dem schwierigen Balance-Akt zwischen den durch den G-BA vertretenen Interessen der Allgemeinheit und den Interessen der pharmazeutischen Unternehmer erreicht werden, dass der G-BA nicht nur die preisgünstigste zVT als Vergleichsmaßstab festlegt und damit das finanzielle Anreizniveau für den pharmazeutischen Unternehmer maximal nach unten nivelliert wird. Diese Regelung gibt dem pharmazeutischen Unternehmer grundsätzlich die Möglichkeit, ein weniger niedrigpreisiges/neueres Medikament als zVT auszuwählen, sofern dieses neben anderen vom G-BA als mögliche zVT definiert wird.

Vom pharmazeutischen Unternehmer wurde für Esketamin nach entsprechender Beratung durch den G-BA Quetiapin für die AMNOG-bezogene, sorgfältige Vergleichsstudie ausgewählt.

Sie zeigte einen Zusatznutzen von Esketamin. Die Darstellung der Ergebnisse wurde wegen ihrer hohen wissenschaftlichen Qualität und Relevanz im international hochkarätigen New England Journal of Medicine (Impact-Faktor 176) zur Publikation angenommen [10]. Im Gutachten des IQWiG (und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft AkdÄ, finanziert aus den Kammerbeiträgen der Ärzteschaft, die sich zu zahlreichen Nutzenbewertungsverfahren meint äußern zu sollen) wurde die Wahl von Quetiapin als zVT als nicht ausreichend für den Beweis des Zusatznutzens beurteilt, sondern ein Vergleich mit weiteren zVTs gefordert und somit eine Multikomparator-Studie. Dies würde zu einer weiteren Restriktion der GKV-verschreibungsfähigen Antidepressiva führen.

Eine aussagefähige, also randomisierte, wenn schon nicht randomisiert-verblindete Studie gegen multiple Komparatoren „nach Maßgabe des Arztes“ ist formallogisch schlicht undurchführbar, abgesehen davon, dass schon eine Multikomparator-Studie praktisch nicht realisierbar wäre. „Nach Maßgabe des Arztes“ bedeutet ja, dass der Arzt eine explizite Empfehlung aus der „Auswahl von einer Augmentation mit Lithium oder Quetiapin retard, einer Kombination mit einem zweiten Antidepressivum, einer elektrokonvulsiven Therapie, einem Wechsel der antidepressiven Monotherapie auf eine andere Substanzklasse“ gibt. Daraus ergibt sich formallogisch und zwingend die aus der „Maßgabe des Arztes“ resultierende Selektions-Bias, die eine Randomisierung unmöglich macht. Das ist insofern von grundsätzlicher Bedeutung, als der G-BA die „Maßgabe des Arztes“ in der Vergangenheit gern festzulegen pflegte.

Für den Mediziner ist der aus der Gesundheitsökonomie kommende Nutzenbegriff bzw. Zusatznutzenbegriff, wie er in der G-BA-Verfahrensordnung – gemäß Arzneimittelnutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) verwendet wird – ungebräuchlich. Deshalb sei hier die Definition kurz erwähnt: Der Nutzen eines Arzneimittels ist der patientenrelevante therapeutische Effekt, insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustandes, der Verlängerung des Überlebens, der Verringerung von Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der Lebensqualität. In analoger Weise wird der Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie definiert und dann zusätzlich hinsichtlich des Ausmaßes und der Sicherheit der Feststellung graduiert. Auf der Basis wird nach § 130b SGB V der Preis auf dem Verhandlungsweg mit dem pharmazeutischen Unternehmer ausgehandelt oder nach Scheitern der Verhandlungen vom Schlichtungsausschuss festgesetzt.

Transparenz und Planbarkeit gefordert

Das Verfahren zeigt, wie schon nach Einführung des AMNOG-Verfahrens als Befürchtung zum Ausdruck gebracht [9], dass durch das AMNOG nicht nur eine zweite „Zulassungshürde“ aufgebaut und damit die Einführung neuer Arzneimittel als GKV-verschreibungsfähig zusätzlich reglementiert wird, sondern dass durch das AMNOG-Verfahren außerdem im Rahmen der Festlegung zweckmäßiger Vergleichstherapien (einseitige) Festschreibungen bzgl. Standardtherapien erfolgen, die oft weit über die wesentlich offener formulierten Leitlinienempfehlungen hinausgehen. Wichtig wäre ausreichende Transparenz und Planbarkeit in dem Verfahren, u. a. in dem Sinne, dass die zVT einvernehmlich a priori, also vor der Durchführung der AMNOG-bezogenen Studie festgelegt wird und nach Fertigstellung der Studie nicht mehr durch den G-BA oder die dem G-BA zuarbeitenden Institutionen infrage gestellt werden darf. Gleiches gilt für die oft und auch in diesem Fall nachträglich vorgebrachten Argumente, z. B. bezüglich einer Psychotherapie-Behandlung/Mitbehandlung in der Vorgeschichte der in die Studie einbezogenen Patienten – eine Vorbedingung, die entgegen der dieser Forderung zugrunde liegenden leitlinienbezogenen Behauptung nicht den Standardgegebenheiten der Depressionsbehandlung in Deutschland entspricht [7, 8]. Solche Festlegungen würden für den pharmazeutischen Unternehmer das Glücksspielartige des derzeitigen Verfahrens beenden und für die Patienten die Chance auf neue Antidepressiva erhöhen.

Nur bei einer in diesem Sinne ausreichend fairen und wertschätzenden Betrachtung, in der das AMNOG-Verfahren nicht wie in einem Vabanquespiel einseitig und ggf. ex post durch den G-BA und seine zuarbeitenden Institutionen dominiert und reglementiert wird, kann die Motivation pharmazeutischer Unternehmer gestärkt werden, neue Psychopharmaka zu entwickeln und auf den deutschen Markt zu bringen. Dies wäre zweifelsohne ein Nutzen für die Psychopharmakotherapie und für die betroffenen Patienten in Deutschland.

Interessenkonflikterklärung

Es besteht kein Interessenkonflikt.

Ergänzung vor Drucklegung

Am 21. September 2023 hat der G-BA für Esketamin auf einen „Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen“ entschieden, und zwar aufgrund einer gebotenen Anpassung der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT); als eine solche wurde nun die Augmentation mit Lithium oder Quetiapin retard (jeweils als Add-on zur zuletzt gegebenen antidepressiven Monotherapie) oder die Kombination zweier Antidepressiva zugrunde gelegt. Die bisher gültige zVT wurde dadurch hinfällig. Im Ergebnis geht also das IQWiG-Gutachten jetzt ins Leere. Darin offenbart sich i) ein Systemfehler und ii) begrenzte Wissenschaftlichkeit der jeweiligen Auftragsvergabe an das IQWiG durch den G-BA (indem eben die Auftragserledigung an die formalen Vorgaben des G-BA hier zur zVT gebunden ist, während wissenschaftliche Analyse „eigentlich“ frei von Vorgaben, nämlich Vorurteilen, zu bleiben hat) sowie iii) Vergeudung der Ressourcen des IQWiG. Systemfehler, indem Vergleichsstudien gegen Komparatoren „nach Maßgabe des Arztes“ undurchführbar und anfällig für Bias sind. Systemfehler, indem bisher IQWiG an die Definition der zVT durch den G-BA gebunden ist. Der G-BA verhält sich also – wie bei Esketamin nun erneut exemplifiziert – wissenschaftlicher, als es dem IQWiG ermöglicht wird. Dies obwohl die Aufgabe der Wissenschaftlichkeit beim IQWiG liegt, während die Aufgabe der grundsätzlich unwissenschaftlichen, bürokratischen Schlussfolgerungen beim G-BA liegt (wobei es ausdrücklich anzuerkennen ist, dass das G-BA seinen Entscheidungen Wissenschaftlichkeit zugrunde legt).

Literatur

1. EC (2021) Regulation (EU) 2021/2282 of the European Parliament and of the Council of 15 December 2021 on health technology assessment and amending Directive 2011/24/EU. https://eur-lex.europa.eu/eli/reg/2021/2282/oj (Zugriff am 09.08.2023).

2. Fritze J. Frühe Nutzenbewertung gemäß AMNOG: Rekapitulation und Update. Psychopharmakotherapie 2015;22:47–58.

3. G-BA (2021). Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM RL): Anlage XII – Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V. Esketamin (Depression, therapieresistent, in Kombination mit SSRI oder SNRI). https://www.g-ba.de/downloads/40-268-7780/2021-08-19_AM-RL-XII_Esketamin-TRD_D-658_TrG.pdf (Zugriff am 09.08.2023).

4. G-BA (2023). Mündliche Anhörung gemäß § 35a Abs. 3 Satz 2 SGB V des Gemeinsamen Bundesausschusses. Hier: Esketamin (D-930) Videokonferenz im Hause des Gemeinsamen Bundesausschusses in Berlin am 24. Juli 2023. https://www.g-ba.de/downloads/91-1031-931/2023-07-24_Wortprotokoll_Esketamin_D-930.pdf (Zugriff am 09.08.2023).

5. G-BA (2023b). Kriterien zur Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und Recherche und Synopse der Evidenz zur Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie nach § 35a SGB V und Schriftliche Beteiligung der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zur Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie nach § 35a SGB V. Vorgang: 2023-B-141-z Esketamin. https://www.g-ba.de/downloads/92-975-6459/2023-03-15_Informationen-zVT_Esketamin_D-930.pdf (Zugriff am 09.08.2023).

6. G-BA (2023c). EU-HTA: G-BA koordiniert ab September parallele wissenschaftliche Beratungen für Hersteller. https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1117/ (Zugriff am 09.08.2023).

7. Laux G. Antidepressiva Therapie in der „real world“. Psychopharmakotherapie 2023;30:120–4.

8. Möller HJ. Realität der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Kontrast zur Nationalen Versorgungsleitlinie Depression. Psychopharmakotherapie 2014;21:12–20.

9. Möller HJ. Zusatznutzen Bewertung: Probleme für Entwicklung/Inverkehrbringen GKV-verschreibungsfähiger neuer Psychopharmaka. Psychopharmakotherapie 2015;22:59–64.

10. Reif A, Bitter I, Buyze J, et al Esketamin nasal spray versus quetiapine for treatment resistant depression. New Eng J Med 2023. Im Druck.

11. Reif A, Hasler G, Kasper K. Klinische Anwendung von Esketamin im Rahmen der aktuellen Therapieoptionen. Psychopharmakotherapie 2023;(Suppl 20):2–12.

 

Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, Psychiatrische Klinik und Poliklinik der LMU, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: Hans-Juergen.Moeller@med.uni-muenchen.de

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Psychopharmakotherapie 2023; 30(05):170-173