Therapie der schubförmigen und sekundär progredienten MS

Zu lange zuwarten ist ein schlechter Ratgeber


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Um den Erhalt der neurologischen Funktionen und die Langzeitprognose von MS-Patienten entscheidend zu beeinflussen, sollte eine adäquate Therapie der schubförmigen MS (RMS) frühzeitig beginnen. Auf einer Pressekonferenz der Firma Novartis wurden die vorliegenden Daten diskutiert, die für einen frühen Einsatz von Ofatumumab bei therapienaiven RMS-Patienten sprechen. Eine frühe Therapieanpassung ist auch bei der sekundär progredienten MS (SPMS) entscheidend für den Langzeit-Outcome. Dies ergaben Langzeitdaten über sieben Jahre für den S1P-Rezeptor-Modulator Siponimod.

Derzeit wird intensiv über den therapeutischen Nutzen und die Risiken des frühen Einsatzes hochwirksamer krankheitsmodifizierender Therapien (DMT) als Erstlinientherapie bei Patienten mit aktiver RMS diskutiert [8, 9]. Ofatumumab (Kesimpta®) zeigte in den Phase-III-Studien ASCLEPIOS I und II (n = 1882) eine überlegene Wirksamkeit im Vergleich zu Teriflunomid [5]. In einer Subgruppenanalyse bei therapienaiven RMS-Patienten reduzierte Ofatumumab das Risiko einer nach sechs Monaten bestätigten Behinderungsprogression (6M-CDW) gegenüber Teriflunomid um 46 %, während der Unterschied in der Gesamtpopulation [5] nur 32,5 % betrug, berichtete Dr. Daniela Rau, Ulm. Die Gruppe der therapienaiven Patienten wurde deutlich früher behandelt als der Durchschnitt der Gesamtpopulation (Zeit seit MS-Diagnose: im Median 0,35 Jahre vs. 5,63 Jahre) und hatte einen niedrigeren Expanded Disability Status Score (EDSS; im Mittel 2,3 vs. 2,9). Diese Daten aus den randomisierten, kontrollierten Studien ASCLEPIOS I und II wurden nun kürzlich publiziert [4]. Sie werden durch Auswertungen aus MS-Registern und durch nichtinterventionelle Beobachtungsstudien unterstützt [7].

1367 Patienten (72,6 %) der Population von ASCLEPIOS I und II wurden in der offenen Phase-IIIb-Extensionsstudie ALITHIOS entweder weiter mit Ofatumumab behandelt oder von Teriflunomid auf Ofatumumab (Switch-Gruppe) umgestellt. In einer Interimsanalyse nach vier Jahren lag die jährliche Schubrate der kontinuierlich mit Ofatumumab behandelten Patienten um 43,4 % niedriger als in der Vergleichsgruppe. Das Sicherheitsprofil von Ofatumumab entsprach demjenigen der Phase-III-Studien ohne neue Signale. Die Serum IgG-Spiegel blieben im Gruppendurchschnitt in beiden Therapiearmen stabil. Es bestand keine Assoziation zwischen erniedrigten IgM bzw. IgG-Spiegeln und dem Risiko ernster Infektionen [6].

Die Rate und der Schweregrad von COVID-19-Infektionen unter Ofatumumab-Therapie entsprechen derjenigen in der Gesamtbevölkerung [2]. In der in Deutschland durchgeführten, offenen, prospektiven KYRIOS-Studie wird derzeit die Immunantwort nach Impfung mit einer SARS-CoV-2-mRNA-Vakzine bei zwei Kohorten – Patienten vor Therapiebeginn mit Ofatumumab im Vergleich zu stabil auf Ofatumumab eingestellten Patienten – untersucht. Erste, noch sehr vorläufige Daten zeigen bei den bisher ausgewerteten Patienten eine SARS-CoV-2-spezifische Immunantwort.

SPMS: kognitive Defizite als Warnsignal

Die Diagnose einer SPMS erfolgt heute meist erst retrospektiv, denn der Verlauf ist eher subtil und insbesondere durch zunehmende kognitive Beeinträchtigungen gekennzeichnet. Ein Signal für erhöhte Aufmerksamkeit ist laut Priv.-Doz. Dr. Antonio Bayas, Augsburg, wenn die Patienten über zunehmende Konzentrationsschwierigkeiten als Zeichen kognitiver Defizite klagen.

Siponimod (Mayzent®) ist zur Behandlung erwachsener Patienten mit aktiver SPMS zugelassen. Seine Wirksamkeit und Sicherheit bei SPMS wurde in der Placebo-kontrollierten EXPAND-Studie nachgewiesen. Eine Post-hoc-Analyse der EXPAND-Kernstudie unterstreicht die Bedeutung einer frühen Therapieanpassung bei Anzeichen für eine SPMS. Über zwei Jahre hinweg zeigten in der Siponimod-Gruppe mehr Patienten Verbesserungen als in der Placebo-Gruppe, sowohl hinsichtlich der nach sechs Monaten bestätigten Behinderungsprogression (6M-CDP) (Verbesserung bei 11,1 % vs. 8,5 % der Patienten; p = 0,029) als auch beim Erhalt der Gehfähigkeit (Verbesserung bei 14,9 % vs. 10,6 %; p = 0,0053) [3].

Langzeitdaten über sieben Jahre zeigten für die Subgruppe der Patienten mit aktiver SPMS eine Reduktion des Risikos einer nach sechs Monaten bestätigten Behinderungsprogression gegenüber einem virtuellen Placebo-Arm, gebildet aus der früheren EXPAND-Placebo-Gruppe, um 42 % (p < 0,0001); die mittlere Dauer bis zu einer 6M-CDP verlängerte sich um 79 % [1].

Quelle

Dr. med. Daniela Rau, Ulm, Priv.-Doz. Dr. med. Antonios Bayas, Augsburg, digitales Pressegespräch „Navigieren im MS-Kontinuum: Ein Daten-Update zu Ofatumumab und Siponimod“, 27. April 2022, veranstaltet von Novartis Pharma GmbH.

Literatur

1. Cree B, et al. Estimating long-term effect of siponimod on disability progression versus virtual placebo in SPMS using RPSFT model: EXPAND data up to 7 years. AAN 2022; Poster P6.004.

2. Cross AH, et al. COVID-19 outcomes and vaccination in people with relapsing multiple sclerosis treated with ofatumumab. Neurol Ther 2022;11:741–58.

3. D’Souza M, et al. Effect of siponimod on disability progression as measured by the ambulation score, a subscore of the neurostatus-EDSS: Post hoc analysis of the EXPAND trial in SPMS. AAN 2022; Poster P6.001.

4. Gaertner J, et al. Efficacy and safety of ofatumumab in recently diagnosed, treatment-naive patients with multiple sclerosis: Results from ASCLEPIOS I and II. Mult Scler 2022;28:1562–75.

5. Hauser SL, et al. Ofatumumab versus teriflunomide in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2020;383:546–57.

6. Hauser SL, et al. Long-term safety of ofatumumab in patients with relapsing multiple sclerosis. AAN 2022; Oral Session S14.004.

7. He A, et al. Timing of high efficacy therapy for multiple sclerosis: a retrospective observational cohort study. Lancet Neurol 2020;19:307–16.

8. Kotelnikova E, et al. Dynamics and heterogeneity of brain damage in multiple sclerosis. PLoS Comput Biol 2017;26:e1005757.

9. Wiendl H, et al. Multiple Sclerosis Therapy Consensus Group (MSTCG): position statement on disease-modifying therapies for multiple sclerosis (white paper). Ther Adv Neurol Disord 2021;14:17562864211039648.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(05):192-203