Umbrella-Review zur Serotonin-Theorie der Depression: Kritik aus neurobiochemischer Sicht


Peter Riederer, Würzburg

Psychopharmakotherapie 2022;29:190–1.

Der Umbrella-Review von Moncrieff et al. zur Serotonin-Theorie der Depression [9] wirft aus Sicht des Neurobiochemikers vor allem eine Reihe von methodologischen Fragen auf: So wundert man sich zum Beispiel über die statistische Einbeziehung von Arbeiten zu Serotoninbestimmungen im Plasma oder 5-Hydroxyindolessigsäure(5-HIAA)-Bestimmungen im Liquor. Serotonin im Plasma zeigt keine Korrelation zu depressiven Symptomen, da es an der Blut-Hirn-Schranke von Monoaminoxidase A metabolisiert wird [7] und daher den Serotoninmetabolismus im Gehirn nicht widerspiegelt. Bestimmungen der 5-HIAA im Liquor geben keine Auskunft über die Umsatzrate Serotonin zu 5-HIAA, sodass die Aussagekraft der solitären 5-HIAA-Bestimmungen mehr als zweifelhaft erscheint. Zudem wurde bei Abnahme von lumbalem Liquor die Körpergröße/Länge der Wirbelsäule der Patienten oft nicht in das Ergebnis eingerechnet. Dies ist aber wichtig, da es einen 5-HIAA Gradienten von subokzipital nach „ lumbal“ – mit abnehmender 5- HIAA Konzentration im lumbalen Bereich – gibt [2, 6, 8, 10].

Die Frage, ob Tryptophan-Depletionsstudien einen Beitrag zur Entscheidung liefern, ob ein Serotonindefizit „Depression“ auslöst oder nicht, ist wenigstens als schwierig einzustufen. Die Autoren weisen auf einige der Imponderabilien hin, ohne daraus kritische Schlüsse für die Umbrella-Metaanalyse zu ziehen. Die Anmerkung, dass Tryptophan-Depletion innerhalb von 5 bis 7 Stunden den Serotoninspiegel senkt, ist zweifelhaft. Dies deswegen, weil im Plasma etwa 90 % von Tryptophan in albumingebundener Form vorliegt und nur etwa 10 % in freier Form. Tryptophan-Depletion muss also in der Frühphase der Depletion sämtliches gebundenes Tryptophan freisetzen, was den Plasmaspiegel zunächst erhöht und damit zu einer verstärkten Aufnahme dieser Aminosäure ins Gehirn führt, verbunden mit verstärkter Serotoninsynthese und -metabolismus. Erst in der Folge würde sich die Tryptophan-Depletion im Gehirn negativ auf den Serotoninmetabolismus auswirken. In dieser Phase würden aber andere neutrale Aminosäuren (Tyrosin, Valin, Leucin, Isoleucin), die den gleichen Aminosäuretransportmechanismus zur Passage der Blut-Hirn-Schranke nutzen [1, 3, 4], verstärkt in Gehirnregionen aufgenommen werden und zu Intensivierung ihrer speziellen Metabolismen, einschließlich verstärktem Catecholamin-Metabolismus führen. Wie sich diese grundlegenden metabolischen Veränderungen auf das depressive Geschehen auswirken, ist allerdings fraglich. Die Autoren zitieren korrekterweise Young (2013) [11], der die Probleme von Depletionsstudien ausführlich darlegt, ziehen aber nicht den Schluss, dass solche Studien bei der von ihnen gestellten Frage keinen Lösungsbeitrag bringen und daher nicht in die Umbrella-Statistik einbezogen werden sollten.

Berücksichtigt man die unterschiedliche Symptomatik von Patienten mit „Depression“ und die damit verbundenen und betroffenen Gehirnregionen, erscheint es auch mehr als fraglich, ob PET(Positronenemissionstomographie)-Untersuchungen zu speziellen Rezeptorsubtypen, Transporterproteinen usw. an einer undifferenzierten Patientengruppe signifikante Schlussfolgerungen zu einer speziellen Hypothese, hier der Serotonin-Hypothese, zulassen.

Diese Beispiele sollen nur zeigen, dass es nicht verwunderlich ist, dass Moncrieff et al. keinen Zusammenhang von „Serotonin und Depression“ nachweisen konnten. Die Lösung dieser Frage wird nur möglich sein, wenn man Subgruppen-orientiert vorgeht, das heißt, wenigstens die bestehende Hauptsymptomatik (z. B. Denkstörungen, Antriebslosigkeit, Angst sowie auch Bio-Rhythmusstörungen [5]) entsprechenden Gehirnregionen zuordnet und diese mit Bildgebung-gestützter Analytik auf Rezeptoraktivität (Rezeptorbindung bzw. -affinität), Serotonin-Transporter und andere Parameter des Serotoninstoffwechsels untersucht.

Artikel wie jener von Moncrieff et al. sind wegen fraglicher Einschlusskriterien in die Umbrella-Metaanalyse kaum hilfreich, entscheidende Schlussfolgerungen zur Gültigkeit der Serotonin-Hypothese zuzulassen.

Literatur

1. Ashley D V, Curzon G. Effects of long-term low dietary tryptophan intake on determinants of 5-hydroxytryptamine metabolism in the brains of young rats. J Neurochem 1981;37:1385–93.

2. Blennow K, Wallin A, Gottfries CG, et al. Concentration gradients for monoamine metabolites in lumbar cerebrospinal fluid. J Neural Transm Gen Sect 1993;5:5–15.

3. Hargreaves K M, Pardridge WM. Neutral amino acid transport at the human blood-brain barrier. J Biol Chem 1988;263:19392–7.

4. Hawkins RA, O’Kane RL, Simpson IA, Viña JR. Structure of the blood-brain barrier and its role in the transport of amino acids. J Nutrition 2006;136(1 Suppl):218S–26S. https://doi.org/10.1093/jn/136.1.218S.

5. Hawkins R A, O’Kane RL, Simpson IA, Viña JR. Investigation of the circadian rhythm and rostrocaudal concentration gradient. Neurochem Int 2006;128:154–62.

6. Janssens J, Atmosoerodjo SD, Vermeiren YA, Anthony R, den Daas I, De Deyn PP. Sampling issues of cerebrospinal plasma monoamines: Investigation of circadian rhythm and rostrocaudal concentration gradient. Neurochem Int 2019;128:154–62.

7. López de Pablo AL, Ajubita M, Criado MC, Marco EJ. MAO activity in serotonergic endings of rat major cerebral arteries. J Physiol Biochem 2004;60:23–9. https://doi.org/10.1007/BF03168217.

8. López de Pablo AL, Ajubita M, Criado MC, Marco, et al. Concentration gradients of monoamine metabolites in human cerebrospinal fluid. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1975;38:666–8. doi: 10.1136/jnnp.38.7.666.

9. Moncrieff J, et al. The serotonin theory of depression: a systematic umbrella review. Mol Psychiatry 2022; https://doi.org/10.1038/s41380-022-01661-0.

10. Sjöström R, Ekstedt J. Anggard E. Concentration gradients of monamine metabolites in human cerebrospinal fluid. J Neurosurg Psychiatry 1975;38:666–8.

11. Young SN. Acute tryptophan depletion in humans: a review of theoretical, practical and ethical aspects. JPN 2003;38:294–305. https://doi.org/10.1503/jpn.120209.

 

Prof. Dr. Peter Riederer, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg, Margarete-Höppel-Platz 1, 97080 Würzburg, E-Mail: peter.riederer@mail.uni-wuerzburg.de

Psychopharmakotherapie 2022; 29(05):190-191