Migräneprophylaxe

Leitlinie der Europäischen Kopfschmerzgesellschaft zur Verwendung monoklonaler Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor


Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

Mit einem Kommentar des Autors
Die monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor sind in der Prophylaxe der Migräne wirksam und gut verträglich. Die Europäische Kopfschmerzgesellschaft (EHF) hat ihre Empfehlungen zum Einsatz dieser neuen Migräneprophylaktika aktualisiert.

Patienten mit häufigen und schweren Migräneattacken benötigen eine medikamentöse Migräneprophylaxe. Bis vor einigen Jahren standen hierfür unspezifisch wirksame Arzneimittel wie die Betablocker Propranolol und Metoprolol, Flunarizin, Valproinsäure, Topiramat sowie Amitriptylin und in der Prophylaxe der chronischen Migräne zusätzlich OnabotulinumtoxinA zur Verfügung. Diese Arzneimittel sind ähnlich gut wirksam, haben aber das Problem, dass häufig die Behandlung aufgrund unerwünschter Arzneimittelwirkungen abgebrochen wird. Die monoklonalen Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) Eptinezumab, Fremanezumab und Galcanezumab sowie der monoklonale Antikörper gegen den CGRP-Rezeptor Erenumab sind in der Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne wirksam [1]. Sie haben ein günstigeres Nebenwirkungsprofil als die bisher verwendeten Migräneprophylaktika. Die Europäische Kopfschmerzgesellschaft hat jetzt ihre Empfehlungen zum Einsatz dieser neuen Migräneprophylaktika aktualisiert.

Methodik

Die Autoren führten eine systematische Literaturrecherche durch und berechneten Metaanalysen für die wichtigsten Fragestellungen. Die Empfehlungen folgten den GRADE (Grading of Recommendation, Assessment, Development, and Evaluation)-Vorgaben. In Fällen, in denen nicht genügend wissenschaftliche Evidenz vorlag, wurden Expertenempfehlungen formuliert.

Ergebnisse

  • Bei Migränepatienten, die eine Migräneprophylaxe benötigen, sind monoklonale Antikörper, die auf den CGRP-Signalweg abzielen, eine Behandlungsoption der ersten Wahl.
  • Bei Personen mit episodischer oder chronischer Migräne gibt es nicht genügend Evidenz für die Kombination von monoklonalen Antikörpern mit anderen Medikamenten zur Prophylaxe der Migräne.
  • Bei Personen mit episodischer oder chronischer Migräne, die mit monoklonalen Antikörpern behandelt werden, wird empfohlen, die Wirksamkeit nach mindestens drei aufeinanderfolgenden Behandlungsmonaten zu überprüfen.
  • Bei Personen mit Migräne, die mit monoklonalen Antikörpern behandelt werden, wird empfohlen, nach 12–18 Monaten kontinuierlicher Behandlung die Therapie zu unterbrechen.
  • Bei Personen mit Migräne, die eine Behandlungspause einlegen, wird empfohlen, die Behandlung wiederaufzunehmen, wenn sich die Migräne nach Absetzen der Behandlung verschlimmert.
  • Bei Personen mit Migräne und übermäßigem Medikamentengebrauch sollten monoklonale Antikörper eingesetzt werden.
  • Bei Migränepatienten, die nicht ausreichend auf einen monoklonalen Antikörper ansprechen, gibt es keine ausreichenden Belege für den potenziellen Nutzen eines Antikörperwechsels, ein Wechsel könnte jedoch eine Option sein.
  • Monoklonale Antikörper sollen nicht verwendet werden bei schwangeren oder stillenden Frauen. Eine Fall-zu-Fall-Entscheidung und besondere Vorsicht sind bei Vorliegen von Gefäßerkrankungen oder Risikofaktoren oder einem M. Raynaud notwendig.
  • Zur Vorsicht bei der Anwendung von Erenumab bei Personen mit Migräne und schwerer Verstopfung in der Vorgeschichte wird geraten.

Kommentar

Die Leitlinien der europäischen Kopfschmerzgesellschaft entsprechend weitgehend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft [2]. Neu ist, dass der Zeitraum bis zu einer Therapiepause zur Überprüfung, ob die Therapie noch notwendig ist, auf 12 bis 18 Monate verlängert wurde. Leider wurde nicht explizit erwähnt, dass es in der Zwischenzeit eine direkte Vergleichsstudie zwischen Topiramat und Erenumab gibt, in der sich zeigte, das Erenumab nicht nur besser wirksam ist, sondern deutlich besser vertragen wird [3]. Das Hauptproblem beim Einsatz der monoklonalen Antikörper ist allerdings nicht die Wirksamkeit und Verträglichkeit, sondern die Einschränkung in der Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen. Als Voraussetzung für die Erstattung müssen in Deutschland nach wie vor bei Patienten mit episodischer Migräne zunächst vier Therapien (Betablocker [Metoprolol oder Propranolol], Flunarizin, Amitriptylin, Topiramat) und bei Patienten mit chronischer Migräne fünf Therapien (zusätzlich OnabotulinumtoxinA) dokumentiert sein, die entweder nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder kontraindiziert sind. Andernfalls muss der Verordner mit Regressforderungen rechnen. Hier wären deutlich weniger restriktive Regelungen wünschenswert, die es erlauben würden, Patienten, bei denen zwei oder drei Therapien nicht wirksam waren, mit einem monoklonalen Antikörper zu behandeln. Unverständlich ist die Vorgabe für Patienten mit chronischer Migräne und Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln. Diese Patienten haben einen sehr hohen Leidensdruck und belasten auch das Gesundheitssystem erheblich. Hier wäre es besonders wünschenswert, zu einem frühen Zeitpunkt monoklonale Antikörper einsetzen zu können.

Verordnung von Anti-CGRP(-Rezeptor)-Antikörpern

Für Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab wurden nach erfolgter Nutzenbewertung Erstattungsbeträge vereinbart, zu denen sie zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden können. Sie sind als bundesweite Praxisbesonderheit anerkannt, unter der Voraussetzung, dass Patienten mindestens vier Migränetage pro Monat aufweisen und dass die bei der Nutzenbewertung genannten zweckmäßigen Vergleichstherapien als Vortherapie dokumentiert sind. Der gegenüber anderen Migräneprophylaktika höhere Erstattungsbetrag soll dann bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 106b SGB V unberücksichtigt bleiben.

Gleichwohl können die Krankenkassen im Rahmen von Einzelfallprüfungen der Frage nachgehen, ob bei den Verordnungen das Wirtschaftlichkeitsgebot eingehalten wurde. Dementsprechend appellierte zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg in einem Rundschreiben vom Mai 2021 an ihre Mitglieder, dafür Sorge zu tragen, dass die entsprechenden Vortherapien durchgeführt und dokumentiert sind.

Die Arzneimittelvereinbarung für das Jahr 2022 nach § 84 Abs. 1 SGB V zwischen der KV Baden-Württemberg und den Vertragspartnern enthält mit Bezug auf monoklonale Antikörper in der Migränetherapie die Passage: „Aufgrund der hohen Jahrestherapiekosten und dem Vorhandensein von langfristig erprobten Wirkstoffen empfehlen wir einen zurückhaltenden Einsatz der Präparate. Obgleich die erneute frühe Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen von Erenumab feststellt, ist eine patientenindividuelle Abwägung gegenüber dem Einsatz langfristig erprobter Wirkstoffe zu empfehlen.“

(Red.)

Quelle

Sacco S, et al. European Headache Federation guideline on the use of monoclonal antibodies targeting the calcitonin gene related peptide pathway for migraine prevention – 2022 update. J Headache Pain 2022;23:67.

Literatur

1. Diener HC, Gaul C. Behandlung der akuten Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. MMW Fortschr Med 2021;163:38–42.

2. Diener H, et al. Prophylaxe der Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor, Ergänzung der S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. 2019. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (Zugriff 19.07.22).

3. Reuter U, et al. Erenumab versus topiramate for the prevention of migraine – a randomised, double-blind, active-controlled phase 4 trial. Cephalalgia 2021:3331024211053571.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(05):192-203