Verbessern Antidepressiva die Lebensqualität bei an Depressionen erkrankten Patienten?


Andreas Reif, Frankfurt a. Main

Psychopharmakotherapie 2022;29:108–9.

Kaum ein Thema auf dem Feld der Pharmakologie wird so intensiv und auch so kontrovers und leidenschaftlich diskutiert wie die Wirksamkeit von Antidepressiva. Auf der einen Seite gibt es einen internationalen Leitlinien-Konsens, dass bei mittelschweren und schweren Depressionen Antidepressiva eine angemessene und empfohlene Therapie darstellen; auf der anderen Seite werden von Kritikern randomisierte kontrollierte Studien (RCT) und andere Studiendesigns mit einer Skepsis interpretiert, die in der Medizin ihresgleichen sucht. In dieser Gemengelage sind große, insbesondere epidemiologische Studien, die sich der Frage der Antidepressiva-Effektivität widmen, sehr willkommen.

In diesem Kontext erregte eine aktuell in PLoS One veröffentlichte Studie [1] Aufsehen. Die überwiegend aus Saudi-Arabien stammenden Autoren werteten öffentlich erhältliche Daten des US-amerikanischen Medical Expenditures Panel Survey (MEPS) aus. Hierbei handelt es sich um eine nationale und bevölkerungsrepräsentative Datenbank, die auf Erhebungen des National Center for Health Statistics beruht, wobei in jährlich neu aufgenommenen Panels in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren fünf computergestützte Interviews durchgeführt werden. Die erhobenen Daten werden mit Krankenkassen- und Verordnungsdatenbanken zusammengeführt. Für die vorliegende Studie wurden Daten der Wellen zwischen 2005 und 2016 ausgewertet. Eingeschlossen wurden alle erwachsenen Patienten, bei denen eine Depression im ersten Jahr ihrer Teilnahme dokumentiert war (nach ICD-9 oder DSM-IV diagnostiziert). Nach zweijährigem Follow-up wurde als Haupt-Outcome die selbsterhobene Lebensqualität, erfasst mit dem SF-12-Fragebogen und aggregiert ausgewertet in eine somatische und eine psychische Komponente, ermittelt.

Insgesamt konnte so die zunächst eindrucksvolle Zahl von 17,47 Millionen Patienten analysiert werden, von denen 57,6 % mit antidepressiven Medikamenten behandelt wurden. Frauen wurden deutlich häufiger medikamentös behandelt als Männer; auch in anderen soziodemographischen Faktoren fanden sich, wenngleich geringere, Unterschiede zwischen der Antidepressiva- und der Nicht-Antidepressiva-Gruppe. In der uni- als auch multivariaten Analyse war der Wert der somatischen Komponente (PCS, physical component summary) mit circa 44 Punkten auch nach zwei Jahren unverändert und deutlich unter dem US-Amerikanischen Durchschnitt von 50 Punkten. Der Wert der psychischen gesundheitsbezogenen Lebensqualität (MCS, mental component summary) verbesserte sich zwar signifikant, aber nur leicht um 1,2 Punkte auf 43,3 Punkte (Durchschnitt ebenfalls 50 Punkte). Leider sind keine Standardabweichungen (SD) angegeben; legt man eine SD von 10 zugrunde, wie es in der amerikanischen Normalbevölkerung der Fall ist, entspräche das einer nicht relevanten Effektstärke von 0,1. Der Hauptbefund der Studie war, dass sich weder die somatische (PCS) noch die psychische (MCS) gesundheitsbezogene Lebensqualität zwischen den Patienten, die Antidepressiva erhalten hatten, und denen, bei denen dies nicht der Fall war, unterschied. In der multivariaten Analyse (Tabelle 2 im Paper, letzte Zeile) verbesserte sie sich bei Ersteren um 1,2 Punkte, bei Letzteren um 0,9 Punkte. Der Unterschied war nicht signifikant (p = 0,32). Die Schlussfolgerung der Autoren war, dass eine Antidepressiva-Behandlung im Echtwelt-Design nicht die gesundheitsbezogene Lebensqualität über die Zeit hinweg verbessert.

Dieser Befund mag auf den ersten Blick sehr ernüchternd wirken. Während es wenig Grund gibt, die Zahlen an sich anzuzweifeln, so skeptisch muss man jedoch die Schlussfolgerungen der Studie betrachten, die eine Vielzahl von methodischen Einschränkungen aufweist:

  • Am wichtigsten ist der Confounding-by-indication-Effekt, das heißt die Möglichkeit, dass diejenigen Patienten, die medikamentös behandelt wurden, schwerer krank waren als diejenigen, bei denen das nicht der Fall war. Einen Hinweis darauf gibt der durchschnittliche MCS-Score in den beiden Gruppen (40,3 vs. 43,0); der Unterschied ist doppelt so groß ist wie die gesamte Veränderung des MCS-Scores über die zwei Jahre. Allerdings eignet sich der MCS-Score nur bedingt, um den Schweregrad der Depression einzuschätzen, was uns zum zweiten Problem bringt:
  • Generelle gesundheitsbezogene Lebensqualitätsskalen, die sehr auch auf physische Funktionen abheben, sind zur Erfassung von Lebensqualität bei Depressionen nur bedingt geeignet (der geneigte Leser kann sich unter https://orthotoolkit.com/sf-12/ selbst ein Bild machen); insbesondere die ausschließliche Verwendung von Selbstbeurteilungsskalen ist aufgrund der depressionsbedingt negativen Kognitionen problematisch.
  • Eine Verschreibung von Antidepressiva bedeutet nicht automatisch, dass diese auch (bestimmungsgemäß) eingenommen wurden; zudem verbleibt vollkommen unklar, ob eine einmalige Verschreibung bereits ausreichte, um in die „Antidepressiva-Klasse“ eingereiht zu werden (der Methodenteil ist am ehesten so zu interpretieren, als dass dies der Fall war). Insofern dürfte nur ein Bruchteil der Patienten in dieser Klasse überhaupt suffizient therapiert gewesen sein.
  • Es wurde nicht erfasst, ob sich die Häufigkeit anderer Depressionstherapien – insbesondere Psychotherapie – zwischen den beiden Klassen unterschied; hier handelt es sich jedoch um eine sehr relevante intervenierende Variable.
  • Zu guter Letzt handelt es sich bei der Depression in rund 90 % der Fälle um eine episodische Erkrankung, die im Mittel nach etwa neun bis zwölf Monaten remittiert. Die verwendete Zeitskala von zwei Jahren (der SF-12 erfragt retrospektiv die letzten vier Wochen) ist daher zur Erfassung der Effektivität von Antidepressiva vollkommen ungeeignet.

Zusammengefasst kann man aus den erwähnten Einschränkungen keinerlei Ableitungen über die Auswirkungen von Antidepressiva auf die Lebensqualität machen. Es handelt sich um einen zwar großen, aber leider relativ wenig aussagekräftigen Datensatz, der vor allem zwei Dinge belegt: Mehr als ein Drittel der Patienten mit einer Depressionsdiagnose in den USA erhielten niemals einen medikamentös-antidepressiven Therapieversuch, was auf eine Unterversorgung hinweisen könnte. Dies wird durch den Befund gestützt, dass Verheiratete, Privatversicherte, Vermögende und Weiße eine höhere Wahrscheinlichkeit hatten, medikamentös behandelt zu werden. Auch der Globalbefund, dass sich die reduzierte gesundheitsbezogene Lebensqualität von Patienten mit Depression sich nicht relevant innerhalb von zwei Jahren ändert, ist besorgniserregend.

Diese Aspekte wurden jedoch leider nicht in den Medien aufgegriffen, sondern lediglich die (falsche) Schlussfolgerung, dass Antidepressiva keine positiven Effekte hätten. Dies ist umso bedauerlicher als wieder einmal Patienten, aber auch Ärzte und Psychologen durch tendenziöse Darstellung der Daten im Abstract und der Berichterstattung verunsichert werden, mit möglicherweise fatalen Folgen.

Literatur

1. Almohammed OA, et al. Antidepressants and health-related quality of life (HRQoL) for patients with depression: Analysis of the medical expenditure panel survey from the United States. PLoS ONE 2022;17(4):e0265928. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0265928

 

Prof. Dr. med. Andreas Reif, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt am Main, E-Mail: andreas.reif@kgu.de

Psychopharmakotherapie 2022; 29(03):108-109