Multiple Sklerose

Serum-Neurofilament ermöglicht Vorhersage des Krankheitsverlaufs


Sonja Zikeli, Stuttgart

In der vorliegenden Studie untersuchten die Autoren, ob Serum-Neurofilament light chain (sNfL) auf Patientenebene als Biomarker für eine Langzeitvorhersage des Krankheitsverlaufs fungieren könnte. Dazu entwickelten sie eine Referenz-Datenbank und evaluierten diese im Anschluss in einer Kohortenstudie.

Derzeitige klinische Messmethoden und Bildgebungsverfahren sind unzureichend für die Identifikation subklinischer Krankheitsaktivität bei MS-Patienten. Letztere ist jedoch hauptverantwortlich für den Behinderungsverlauf. Anhand mehrerer Kohortenstudien untersuchten die Autoren daher, ob ein neuer Biomarker eine Langzeitvorhersage des Krankheitsverlaufs ermöglicht.

Leichtketten-Neurofilament (NfL) ist ein neuroaxonales, zytoskelettales Protein, das bei neuronaler Schädigung in den Liquor und in das Blut abgegeben wird [1]. Es ist der erste Serumbiomarker, der in klinischen Studien Hinweise über den Krankheitsverlauf und das therapeutische Ansprechen von Arzneimitteln geben konnte. Die Konzentration von NfL im Serum (sNfL) ermöglicht eine unabhängige Quantifizierung der Intensität andauernder neuronaler Schäden und einen objektiven Vergleich der krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) untereinander [2].

Studiendesign

Um herauszufinden, ob die Messung der sNfL-Konzentration die zukünftige Krankheitsaktivität voraussagen kann, entwickelten die Autoren eine Datenbank mit sNfL-Referenzwerten. Die Daten dafür stammten aus vier europäischen und amerikanischen Kohortenstudien, die einen Zeitraum von sechs Jahrzehnten umfassten. Die Teilnehmer in diesen Kohorten hatten keine dokumentierte ZNS-Erkrankung (Kontrollgruppe). Zunächst wurde für die Referenzdatenbank eine Verteilung der sNfL-Werte unter Bezug auf Alter und Body-Mass-Index (BMI) modelliert und für diese Verteilung wurden Z-Scores (Infokasten) berechnet. Anschließend werteten die Forscher die Messwerte von MS-Patienten unter Bezug auf die Referenzdatenbank aus. Anhand von 4532 Blutproben der Kontrollgruppe und aller MS-Patienten ermittelten die Autoren die sNfL-Konzentrationen mittels quantitativem Immunassay (Quanterix®). Die erhobenen Daten wurden an das Alter und den BMI adaptiert und als Z-Werte ausgedrückt, die als Messparameter und Prädiktoren für die zukünftige Krankheitsaktivität bei MS-Patienten herangezogen wurden. Die Autoren definierten sNfL ≤ 10 pg/ml als willkürlichen Cut-off-Wert einer nicht pathologischen sNfL-Konzentration, was einem normalen Z-Score von 0–1,5 entsprach.

Z-Score

Der „Z-Score“ gibt an, um wie viele Standardabweichungen ein Messwert vom erwarteten Mittelwert abweicht.

Die Autoren testeten die Referenz-Datenbank an1313 MS-Patienten der Swiss Multiple Sclerosis Cohort (SMSC), einer Kohortenstudie an acht akademisch-medizinischen Zentren in der Schweiz. In SMSC eingeschlossen waren Patienten mit einem Rezidiv oder sekundär progredienter MS. Durch den Vergleich der sNfL-Z-Scores mit klinischen und Magnetresonanztomographie(MRT)-Charakteristika zogen die Autoren Rückschlüsse auf die individuelle Krankheitsprogression.

Die Ergebnisse wurden in einer unabhängigen Gruppe mit MS-Patienten (n = 4341) aus dem schwedischen MS-Register validiert. Darüber hinaus analysierten die Autoren mit der Datenbank, ob sNfL als Endpunkt für Gruppenvergleiche zwischen DMT geeignet ist, um deren Langzeitwirksamkeit quantifizieren und vergleichen zu können.

sNfL als Prädiktor für die Krankheitsprogression

Die Autoren beobachteten einen altersabhängigen exponentiellen Anstieg der sNfL-Konzentration sowohl bei MS-Patienten als auch in der Kontrollgruppe. Dieser war nach dem 50. Lebensjahr besonders stark ausgeprägt.

Erhöhte sNfL-Z-Scores (> 1,5) gingen bei allen MS-Patienten eindeutig mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine Krankheitsaktivität im Folgejahr einher (Odds-Ratio [OR] 3,15; 95%-Konfidenzintervall [KI] 2,35–4,23; p < 0,0001). Gleiches galt für Patienten, die als stabil (keine Anzeichen von Krankheitsaktivität) betrachtet wurden (OR 2,66; 95%-KI 1,08–6,55; p = 0,034). Auch das Rezidivrisiko war bei sNfL-Z-Scores > 1,5 erhöht (OR 1,41; 95%-KI 1,30–1,54; p < 0,0001).

Pharmakotherapien im Vergleich

Von den 1313 SMSC-Teilnehmern erhielten zu Studienbeginn 303 (23,1 %) eine Antikörpertherapie und 453 (34,5 %) eine orale Therapie. Auf Interferon beta oder Glatirameracetat (GLAT) waren 169 (12,9 %) der Probanden eingestellt, insgesamt 376 Teilnehmer (28,6 %) waren unbehandelt. Über ein medianes Follow-up von 5,6 Jahren blieben 121 Probanden weiterhin unbehandelt, 788 (60,0 %) wurden mit einer DMT behandelt und 404 Patienten (30,8 %) erhielten mindestens zwei DMTs. Im Vergleich zu unbehandelten Personen war eine Hierarchie in der Therapieeffektivität erkennbar, die nachfolgend in absteigender Reihenfolge dargestellt ist:

  • Monoklonale Antikörper: Alemtuzumab, Natalizumab, Ocrelizumab und Rituximab
  • Orale Therapie mit Dimethylfumarat, Fingolimod, Siponimod und Teriflunomid
  • Interferon beta und GLAT
  • Unbehandelt

Im ersten Jahr nach Therapieeinleitung sanken die sNfL-Z-Scores bei allen behandelten Patienten rasch, wohingegen sie bei Unbehandelten nur marginal abnahmen. Besonders schnell erfolgte die Abnahme unter Antikörpertherapie (p < 0,0001), etwas langsamer unter oraler Therapie mit krankheitsmodifizierenden Wirkstoffen und am geringsten ausgeprägt war sie bei Patienten mit Interferon beta oder GLAT. Innerhalb von vier Jahren näherten sich die sNfL-Konzentrationen der Patienten unter Antikörpertherapie an das Kontrollgruppen-Niveau an. Im Gegensatz dazu blieben die Werte unter Interferon beta und GLAT erhöht, und zwar auf dem Level unbehandelter Patienten. Die geschätzte Reduktion der sNfL-Z-Scores betrug –0,14 (95%-KI –0,23 bis 0,05; p = 0,0018) unter Antikörpertherapie versus oraler Therapie und –0,23 (95%-KI –0,36 bis 0,10; p < 0,0001) für die orale Therapie versus Interferon beta und GLAT.

Fazit der Studienautoren

Die Autoren konnten zeigen, dass erhöhte sNfL-Z-Scores mit einem erhöhten Risiko für zukünftige akute (Rezidiv, Ausbildung von Läsionen) und chronische (zunehmender Behinderungsgrad) Krankheitsaktivität assoziiert sind. Neben der Vorhersage der individuellen zukünftigen Krankheitsprogression ermöglichte die Anwendung der sNfL-Z-Scores auch (Langzeit-)Wirksamkeitsvergleiche zwischen DMTs. Vor allem die Antikörpertherapie war im Vergleich zu allen anderen Therapien hocheffektiv und nachrangig eine orale Therapie gegenüber Interferon beta und GLAT überlegen. sNfL besitzt das Potenzial, als Biomarker und Prädiktor die diagnostische Lücke in der Detektion subklinischer Krankheitsaktivität bei MS-Patienten zu schließen und Ärzten eine zielgerichtete Therapieauswahl zu ermöglichen. Um den Gebrauch von sNfL-Z-Scores in der klinischen Praxis zu erleichtern, steht die Referenz-Datenbank in Form einer App zur Verfügung.

Quelle

Benkert P, et al. Serum neurofilament light chain for individual prognostication of disease activity in people with multiple sclerosis: a retrospective modelling and validation study. Lancet Neurol 2022;21:246–57.

Literatur

1. Khalil M, Teunissen CE, Otto M, et al. Neurofilaments as biomarkers in neurological disorders. Nat Rev Neurol 2018;14:577–89.

2. Sormani MP, et al. Blood neurofilament light as a potential endpoint in Phase 2 studies in MS. Ann Clin Transl Neurol 2019;6:1081–9.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(03):112-119