COVID-19 – eine Zwischenbilanz


Prof. Dr. Andreas Reif, Frankfurt a. Main

Foto: Thomas Ecke/Berlin

Vor ein klein wenig mehr als einem Jahr – genau genommen am 26.12.2020 – wurde am Uniklinikum Frankfurt mit der SARS-CoV-2-Impfung von medizinischem Personal begonnen. Damals war ich, auch angesichts der vorliegenden Daten, ausgesprochen zuversichtlich, dass der Jahreswechsel 2021/22 nicht mehr durch Corona, sondern allenfalls durch zu viel verspeiste Weihnachtsplätzchen getrübt wird. Weit gefehlt! Wieder stehen wir kurz vor einem Lockdown, viele Kliniken und Intensivstationen arbeiten am Limit, und jeden Tag versterben so viele Menschen an COVID-19, wie in ein Verkehrsflugzeug passen. Dass neue Varianten auftreten, gegen die der Impfstoff weniger effektiv ist: damit war zu rechnen. Dass der Impfstoff nicht vollständig wirkt: das war auch vor einem Jahr schon klar. Dass sich aber so viele Menschen der Impfung verweigern, das hätte ich mir damals in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.

Ich möchte hier gar nicht von den Hardcore-Leugnern sprechen, die vielfach eine eigene, meist populistische Agenda haben und in manchen Fällen auch eine klinisch relevante Psychopathologie unterschiedlichster ICD-10-F-Kategorien. Was mich vielmehr besorgt, ist die große Zahl von „eigentlich“ vernünftigen, auch nicht ungebildeten Mitbürgern, die übertrieben impfskeptisch sind. Die Ursache scheint mir hier unter anderem in einer unzulänglichen Fähigkeit zur rationalen Risikoabwägung, aber auch in einem unzureichenden wissenschaftlichen Grundverständnis zu liegen. Die Abwägung von passiv in Kauf genommenen Risiken (einer COVID-19-Infektion) gegenüber aktiv in Kauf genommenen Risiken (Impfung) ist bei diesen Menschen irrational verschoben mit einer Übergewichtung der aktiv wahrgenommenen Risiken; eine kognitive Verzerrung, die schon Kahneman beschrieben hat und die dem Endowment-Effekt verwandt ist. Kahneman äußert sich ebenfalls zur Übergewichtung von seltenen Ereignissen (in unserem Kontext beispielsweise Impfnebenwirkungen). Beide Mechanismen können zu einer Ablehnung der COVID-19-Impfung beitragen; die aktuelle gesellschaftliche Situation ist also ein guter Grund, um „Schnelles Denken, langsames Denken“ (wieder) zu lesen … Sehr viel schwieriger als die Ursachen für diese letztlich irrationalen Entscheidungen zu identifizieren ist es, etwas dagegen zu tun, zumal sich Emotion besser vermarktet als Vernunft. Eine bessere und breitere Bildung in naturwissenschaftlichem Denken und Zahlenverständnis in der Schule wäre ein Anfang, der sich dann aber auch im Studium entsprechend fortsetzen muss (so manche Frage im Rigorosum nach der Bedeutung des p-Werts bringt Erschütterndes zutage). Ein Zeichen der Hoffnung ist, dass Wissenschaftskommunikation auch zunehmend populärer wird, wie man zum Beispiel an der gerade und vollkommen zu Recht mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichneten YouTuberin und Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim sehen kann.

Dass uns das Thema COVID-19 auch in der Neurologie und Psychiatrie noch lange beschäftigen wird, kann als ausgemacht gelten. Long-COVID wird hier eine erhebliche Rolle spielen; depressive und Angstsymptome steigen weltweit, und auch wenn noch nicht klar ist, ob sich dies auch in tatsächliche Erkrankungen übersetzen wird, steht zu befürchten, dass es zu einer Zunahme insbesondere von affektiven Störungen kommen wird.

Mitten in diese sowieso schon kritische Gemengelage hinein kommen nun die Folgen des BVG-Urteils zum assistierten Suizid. Die gesetzliche Umsetzung dieses Urteils und vor allem die erforderlichen Schutzkonzepte sind noch vollkommen offen, und während in einem der vorliegenden Gesetzentwürfe zwar weit verbreitete Beratungsstellen zur Durchführung des assistierten Suizids vorgeschlagen werden, sind keinerlei Bestrebungen zur systematischen Suizidprävention, Datenerfassung oder Folgenabschätzung erkennbar, was ich für eine fatale Lücke halte. Den Artikel zum Thema „assistierter Suizid“ unseres Mitherausgebers Prof. Möller möchte ich Ihnen sehr ans Herz legen – auch wenn dies kein klassisch pharmakologisches Thema ist, so berührt er doch Kerninhalte unseres ärztlichen Handelns über die Fachgrenzen hinweg.

Ich wünsche Ihnen einen guten Beginn des neuen Jahres und, dieses Jahr mehr denn je, Glück und Gesundheit!

Psychopharmakotherapie 2022; 29(01):1-1