Stellungnahme der Arbeitsgruppe „Kinder- und jugendpsychiatrische Pharmakologie“ der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) e. V. zur Kombinationstherapie von Psychostimulanzien und Guanfacin


Manfred Gerlach, Ralf W. Dittmann, Karin Egberts, Alexander Häge, Michael Kölch, Claudia Mehler-Wex, Tobias Renner, Marcel Romanos, Erik Trott und Susanne Walitza

Psychopharmakotherapie 2021;28:76–8.

Gemäß der gültigen S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ sollen unter Beachtung des aktuellen Zulassungsstatus Psychostimulanzien (Methylphenidat, Amphetamin, Lisdexamphetamin), Atomoxetin und Guanfacin als mögliche Optionen zur Behandlung der ADHS in Betracht gezogen werden, wenn eine medikamentöse Behandlung indiziert ist [1]. Das von den Zulassungsbehörden genehmigte Anwendungsgebiet von Guanfacin ist die „Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 17 Jahren, für die eine Behandlung mit Stimulanzien nicht infrage kommt oder unverträglich ist oder sich als unwirksam erwiesen hat“ [2].

Aufgrund der höheren Effektstärken und der guten Verträglichkeit gelten Psychostimulanzien als Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung der Kernsymptome, deren Wirksamkeit in zahlreichen doppelblinden, randomisierten, Placebo-kontrollierten klinischen Studien belegt ist [1, 3, 4]. Eine volle Remission der Symptomatik kann jedoch nicht immer im erforderlichen Maße erreicht werden. Zudem zeigen viele ADHS-Patienten im Laufe der Entwicklung weitere psychiatrische Störungen, die die Prognose und die psychosoziale Anpassung im negativen Sinne beeinflussen können und gegebenenfalls auch spezifischer therapeutischer Interventionen bedürfen [4]. Im Kindesalter besteht die höchste Komorbiditätsrate (50 %) mit oppositionellen Störungen des Sozialverhaltens, bei 30 bis 50 % der von ADHS Betroffenen findet sich auch eine ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens [1]. Eine Tic-Störung tritt komorbid bei bis zu 30 % der Kinder mit ADHS auf [1]. Bis zu 70 % der Patienten mit einem Tourette-Syndrom haben eine ADHS, die zeitlich der Entwicklung der Tic-Störung vorausging [1].

Kombinationstherapie von Psychostimulanzien und Guanfacin ist eine evidenzbasierte Option

Um schwerwiegende psychosoziale Folgen einer nicht ausreichend behandelten ADHS zu vermeiden, können Kombinationstherapien eine wirksame Strategie sein. Aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich klinischer Studiendaten und Arzneimittelwechselwirkungen ist eine Kombinationstherapie von Guanfacin mit Psychostimulanzien eine wirksame und sichere Option, wenn eine Monotherapie keine ausreichende Wirkung auf die Kernsymptome oder komorbide Störungen gezeigt hat.

So wurde in einer doppelblinden, Placebo-kontrollierten, neunwöchigen Studie gezeigt, dass eine morgendliche oder abendliche zusätzliche Gabe von Guanfacin (≤ 4 mg) zu einer Verbesserung der ADHS-Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen führt, die suboptimal auf Psychostimulanzien (Methylphenidat, Amphetamin) eingestellt waren [5]. In die Studie wurden 461 Patienten im Alter von sechs bis 17 Jahren eingeschlossen. Alle Studienteilnehmer erhielten zusätzlich zu der bisherigen Medikation randomisiert entweder optimierte Dosen von Guanfacin (1 bis 4 mg/Tag) oder ein Placebo, am Morgen bzw. Abend. Am Studienende wurde für alle Verumgruppen im Vergleich zu Placebo eine signifikant höhere Verbesserung (Gesamtpunktzahl der „ADHD Rating Scale IV“) gefunden und mittlere Effektstärken von 0,38 (morgendliche Gabe) und 0,45 (abendliche Gabe) berechnet. Eine achtwöchige, doppelblinde, dreiarmige Vergleichsstudie belegte, dass eine Kombinationstherapie von Guanfacin (1 bis 3 mg/Tag) und retardiertem Methylphenidat (5 bis 20 mg/Tag) in der Behandlung von 7- bis 14-jährigen Kindern mit ADHS den beiden jeweiligen Monotherapien überlegen ist [6].

Die Studienlage hat dazu geführt, dass von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA Guanfacin explizit auch in der Kombination mit Psychostimulanzien zugelassen ist [7]. Bemerkenswert ist, dass in der deutschen Fachinformation zu Guanfacin [2] unter „Anwendungsgebiete“ weder der Begriff Monotherapie noch Kombinationstherapie erwähnt wird und unter „Gegenanzeigen“ eine Kombinationstherapie mit Psychostimulanzien auch nicht ausgeschlossen wird.

Aufgrund seiner pharmakodynamischen Eigenschaften (α2-Adrenozeptor-Agonist) kann angenommen werden, dass Guanfacin auch bei der Behandlung von durch Psychostimulanzien nur unzureichend verbesserten Symptomen wie Impulsivität, Verhaltensstörungen, Desorganisation und Tic-Störungen wirksam ist [8]. Aufgrund klinischer Erfahrungen kann eine Kombinationstherapie mit Guanfacin auch sinnvoll sein, um die eingeschränkte Selbstorganisation am Morgen oder auch Rebound-Phänomene am Abend zu verbessern.

Insbesondere bei der Behandlung von primären Tic-Störungen und dem Vorliegen einer komorbiden ADHS erscheint eine Komedikation von Psychostimulanzien mit Guanfacin besonders sinnvoll, da dadurch die mit ADHS assoziierten Symptome wie Reizbarkeit, verringerte Frustrationstoleranz, gestörte Impulskontrolle und aggressive Anspannung gelindert werden [9]. Eine Metaanalyse konnte zeigen, dass Guanfacin nur bei Vorliegen einer zusätzlichen ADHS einen nennenswert positiven Effekt auf die Tic-Symptomatik hat [10].

Die Kombinationstherapie von Psychostimulanzien und Guanfacin ist verordnungsfähig

In Deutschland ist die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) grundsätzlich von einer Zulassung abhängig. Diese ist im Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt und erfolgt für spezifische Indikationen (Anwendungsgebiete) anhand von klinischen Studien, in der die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels nachgewiesen wurde.

Die freie Kombination von zugelassenen Psychostimulanzien-Präparaten und Guanfacin ist eine evidenzbasierte und sichere Option des ärztlichen Handelns, wenn eine Monotherapie mit Psychostimulanzien keine ausreichende Wirkung gezeigt hat und bestimmte komorbide Störungen therapiert werden müssen. Nach unserer Auffassung ist diese Kombinationstherapie nicht als zulassungsüberschreitender Einsatz eines Arzneimittels (Off-Label-Anwendung, Synonym Off-Label-Use) anzusehen. Entsprechend der Definition des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), der nationalen Zulassungsbehörde, versteht man unter Off-label-Use die Anwendung eines zugelassenen Fertigarzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen) [11].

Die Kombinationstherapie ist auch bei einer engeren Auslegung der Zulassungsindikation (wie Änderung der Art des therapeutischen Einsatzes, z. B. als Mono- oder Kombinationstherapie) [12] zulasten der GKV verordnungsfähig. Grundsätzlich ist es dem Arzt/der Ärztin im Rahmen der Therapiefreiheit immer erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen auch off Label zu verordnen. Wichtige rechtliche und ethische Hinweise, die bei der Off-Label-Verordnung von Neuro-/Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter zu beachten sind, sind in der Literatur beschrieben [13, 14].

Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln ist nach einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00 R) unter folgenden Voraussetzungen zulässig und eine Leistung der GKV:

  • Vorliegen einer schwerwiegenden, lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung, für die keine andere Therapie verfügbar ist.
  • Aufgrund der Datenlage muss eine begründete Aussicht bestehen, dass mit dem Arzneimittel ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden kann, beispielsweise durch Ergebnisse einer Phase-III-Studie oder anderweitig erlangter Erkenntnisse von gleicher Qualität, die einen relevanten Nutzen oder eine relevante Wirksamkeit mit einem vertretbaren Risiko belegen.

Alle diese Voraussetzungen sind für die Kombinationstherapie von Psychostimulanzien und Guanfacin erfüllt. Eine schwergradige ADHS, aber auch die Komorbiditäten von ADHS verursachen deutliches Leiden und/oder Einschränkungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit [1]. Langzeituntersuchungen zeigen, welche schwerwiegenden psychosozialen Folgen und Beeinträchtigungen der Lebensqualität eine nicht ausreichend behandelte ADHS nach sich ziehen kann [1]. Wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich klinischer Studiendaten und Arzneimittelwechselwirkungen belegen, dass eine Kombinationstherapie von Guanfacin und Psychostimulanzien eine wirksame und sichere Option ist, wenn eine Monotherapie mit Psychostimulanzien keine ausreichende Wirkung auf die Kernsymptome oder komorbide Störungen gezeigt hat. Die in der Praxis häufig angewandte Kombinationstherapie von Psychostimulanzien und Antipsychotika wie Risperidon bei nicht ausreichender Monotherapie zur Behandlung komorbider Symptome, muss aufgrund der problematischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen von Risperidon (relativ hohes Risiko für extrapyramidal-motorische Störungen, metabolisches Syndrom mit Gewichtszunahmen, Prolactinspiegel-Erhöhung) kritisch abgewogen werden. Eine Kombinationstherapie von Psychostimulanzien und Guanfacin ist aufgrund des günstigeren Nutzen-Risiko-Verhältnis gerechtfertigt.

Fazit

Die freie Kombination von zugelassenen Psychostimulanzien-Präparaten und Guanfacin ist eine evidenzbasierte und sichere Option des ärztlichen Handelns, wenn eine Monotherapie mit Psychostimulanzien keine ausreichende Wirkung auf die Kernsymptome der ADHS oder komorbide Störungen gezeigt hat. Nach unserer Auffassung ist diese Kombinationstherapie nicht als zulassungsüberschreitender Einsatz eines Arzneimittels anzusehen und deshalb zulasten der GKV verordnungsfähig.

Literatur

1. S3-Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter: Stand 02.05.2017 (AWMF-Registernummer 028–045).

2. Fachinformation Intuniv® Retardtabletten (Stand der Information Juni 2020).

3. Walitza S, Romanos M, Renner T, Gerlach M. Psychostimulanzien und andere Arzneistoffe, die zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) angewendet werden. In: Gerlach M, Mehler-Wex C, Walitza S, Warnke A, et al. (Hrsg.). Neuro-/Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen und Therapie. 3., aktualisierte Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer, 2016: 289–331

4. Häge A, Hohmann S, Millenet S, Banaschewski T. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Aktueller Forschungsstand. Nervenarzt 2020;91:599–603.

5. Wilens TE, Bukstein O, Brams M, Cutler AJ, et al. A controlled trial of extended-release guanfacine and psychostimulants for attention-deficit/hyperactivity disorder. J Am Acad Child Psychiatry 2012;51:74–85.

6. McCracken JT, McGough JJ, Loo SK, Levitt J, et al. Combined stimulant and guanfacine administration in attention-deficit/hyperactivity disorder: A controlled, comparative study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2016;55:657–66.

7. INTUNIV® (guanfacine) extended-release tablets, for oral use (https://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2019/022037s019lbl.pdf) (Zugriff am 10.02.2021).

8. Arnsten AF, Scahill L, Findling RL. Alpha-2 adrenergic receptor agonists for the treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder: Emerging concepts from new data. J Child Adol Psychopharmacol 2007;17:393–406.

9. Gerlach M, Warnke A. Pocket Guide Neuro-/Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer, 2020.

10. Weisman H, Qureshi IA, Leckman JF, Scahill L, et al. Systematic review: pharmacological treatment of tic disorders – efficacy of antipsychotic and alpha-2 adrenergic agonist agents. Neurosci Biobehav Rev 2013;37:1162–71.

11. Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereiches https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelzulassung/Zugelassene_Arzneimittel/Expertengruppen_OffLabel/AllgemeineInformationen/_node.html (Zugriff am 10.02.2021).

12. Methodenpapier zur Erarbeitung von Bewertungen der Expertengruppen Off-Label (Stand 22.02.2016). http://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/BereitsZugelAM/offlabel/Methodenpapier/MethodenpapierAnlage1.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff am 25.01.2021).

13. Gerlach M, Warnke A. Medikamentöse Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland zwischen ethischen, sozial- und haftungsrechtlichen Konflikten. Z Kinder-Jugendpsychiatr Psychother 2016;44:249–55.

14. Gerlach M. Pharmakologische und rechtliche Grundkenntnisse der Psychopharmakotherapie. PSYCH up2date 2021;15:71–84.


Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Manfred Gerlach, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Margarete-Höppel-Platz 1, 97080 Würzburg, E-Mail: manfred.gerlach@uni-wuerzburg.de

Psychopharmakotherapie 2021; 28(02):76-78