Entwicklungen der Psychopharmakotherapie auf ungewöhnlichen Wegen zu neuen Ufern


Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München

Die Entwicklung der Psychopharmakotherapie geht in den letzten beiden Jahrzehnten nicht so schnell voran, wie wir alle es erhofft hätten. Es fehlt an der Entwicklung wirklich neuer/innovativer Substanzen, die den Nachweis erbringen, dass sie in einem bestimmten Indikationsfeld wirksamer sind als die bisherigen Standardmedikamente, und das bei gleicher oder besserer Verträglichkeit. Besonders enttäuschend zeigt sich die Entwicklung von neuen Antidementiva, und das trotz der Tatsache, dass gerade in dieses Forschungsfeld so viele Milliarden investiert wurden. Aber auch die Antidepressiva und die Antipsychotika machen nur geringe Fortschritte.

Wenn ein neues Medikament bzw. eine neue Applikationsform endlich alle komplizierten Hürden der aufwendigen Wirksamkeits- und Verträglichkeitsprüfung mit positivem Ergebnis genommen hat und schlussendlich sogar die extrem restriktiven Formalitäten der Zulassung erfüllt wurden, dann kommen gemäß dem Selbstverständnis unseres um ständige Aufklärung bemühten Fachs schnell kritische Gegenstimmen, die auf diese oder jene, zum Teil gravierende Problematik hinweisen. So erleben wir es gerade mit der intranasalen Applikationsform von Esketamin, die sowohl von der FDA wie auch der EMA für die Therapie der behandlungsresistenten Depression zugelassen wurde und von vielen Kollegen als wichtiger Durchbruch in diesem Indikationsgebiet angesehen wird. Einige für ihre kritische Einstellung bekannte Kliniker kommentieren, dass die Studienergebnisse unter Wirksamkeitsaspekten nicht voll überzeugend sind und dass verschiedene Verträglichkeitsprobleme nicht ausreichend gewürdigt wurden [1, 2]. Das NICE (National Institute for Health and Care Excellence, UK) stimmt, wie so oft, gern in den Chor der kritischen Stimmen mit ein, ganz besonders wie immer auf das Problem von „clinical and cost-effectiveness“ hinweisend. Die Zurückweisungen dieser kritischen Kommentare durch „letters“ sachkundiger Experten sind schon in Vorbereitung, werden aber die so eingeleitete negative Stimmung nicht völlig kompensieren können, und das Gefühl bleibt bestehen, dass es eigentlich nicht so richtig vorangeht. Kurzum: Die traditionelle Psychopharmakologie ist trotz aller methodischen Exzellenz ein schwieriges Gebiet.

Wie viel leichter scheint das nachfolgend dargestellte Feld, das derzeit so große Aufmerksamkeit erregt und von vielen gar als eine Art Befreiung der Psychopharmakotherapie aus einer unkreativen Starre gesehen wird, als interessanter Weg zu neuen Ufern. So manche dieser neuen Entwicklungen der Psychopharmakotherapie wäre in den letzten Jahrzehnten nicht denkbar gewesen oder es wurde sogar vor ihnen gewarnt. Jetzt regen hochkarätige Experten und Institutionen zur Öffnung des Denkens und Handelns in diese Richtung an.

Im letzten Heft berichtete die PPT in mehreren Beiträgen über den schon fast zur Gewohnheit gewordenen therapeutischen Einsatz von Cannabis bzw. Cannabinoiden im Rahmen der Schmerztherapie. Aber auch bei mehreren psychischen Erkrankungen wurden Cannabinoide untersucht, wenn auch nur an kleinen Fallzahlen, meistens ohne stringentes Prüfdesign und ohne klare Schlussfolgerungen. Das Feld scheint für viele Patienten, noch mehr aber für die Anbieter attraktiv zu sein, da die Verordnung dem Arzt ohne nennenswerte Einschränkungen überlassen wird und das sonst mandatorische formale Prüf- und Zulassungsverfahren eigenartigerweise für Cannabis/Cannabinoide vom Gesetzgeber nicht verlangt wird, es also somit auch, zumindest im Bereich psychiatrischer Erkrankungen, keine klar definierten Indikationsgebiete gibt.

Die PPT sieht sich verpflichtet, sich diesen und ähnlichen Entwicklungen auch weiterhin, trotz erkennbarer Vorbehalte vieler Kollegen, mit der notwendigen Offenheit, aber auch der Notwendigkeit zur kritischen Beurteilung zuzuwenden. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Analyse von neurobiologischen Mechanismen auf der einen Seite und der Untersuchung der Wirksamkeit in verschiedenen Indikationsgebieten auf der anderen Seite.

Diesen Überlegungen folgend widmet sich dieses Heft mit einer großen narrativen Übersichtsarbeit dem Thema „Klassische Psychedelika als Therapeutika in der Psychiatrie“, kompetent und engagiert verfasst von den Autoren Lea Mertens und Gerhard Gründer (Abt. für Molekulares Imaging, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim), die selbst seit einigen Jahren auf diesem Forschungsgebiet tätig sind. Für den mit der Thematik Psychedelika nicht vertrauten Leser wird es eine Überraschung sein, wie viele Substanzen des Gesamtspektrums zu berücksichtigen sind und wie unterschiedlich die neurobiologischen Wirkungsmechanismen sind. Schwerpunkt der Wirkung der klassischen Psychedelika ist die (partial-)agonistische Wirkung am Serotonin-5-HT2A-Rezeptor. Die dadurch induzierten psychotischen Effekte veranlassten Paul Janssen, den 5-HT2A-Antagonismus als Wirkprinzip einer Reihe von Antipsychotika zu entwickeln, unter anderem Ritanserin und das daraus abgeleitete Risperidon (ein D2-5-HT2A-Antagonist).

Die psychedelischen Substanzen, die in verschiedenen Kulturen eine lange Tradition rituellen Gebrauchs haben, haben aber ein weit über die Induzierung psychotischen Erlebens hinausgehendes Wirkspektrum, ja, man kann, bei angemessener Dosierung, ganz andere psychische Wirkungen erzeugen, ohne dass es zu psychotischem Erleben kommt. Das ist der Grund, warum in neuerer Zeit so viele Psychopharmakologen an diesen Substanzen großes Interesse zeigen, in der Hoffnung, neben der Aufklärung grundsätzlicher neurobiologischer Wirkungsmechanismen der Substanzen und der Psychose-Entstehung mit der weiteren Entwicklung dieser Substanzen verschiedene „unmet needs“ in den klassischen psychiatrischen Indikationsgebieten zu erfüllen und darüber hinaus noch weitere Indikationsgebiete zu erschließen.

So gibt es neuere Studien bei depressiven Patienten, insbesondere solchen mit therapieresistenter Depression, bei kombinierter depressiver und ängstlicher Symptomatik im Rahmen von lebensbedrohlichen Erkrankungen (z. B. Krebserkrankungen), in der Behandlung von Suchterkrankungen und eine Studie in der Behandlung von Zwangsstörungen. Diese Studien geben insgesamt Hinweise auf Wirksamkeit und Verträglichkeit, keinesfalls aber Beweise. Sie sind größtenteils methodisch auf einem niedrigen Niveau, gekennzeichnet durch kleine Fallzahlen, meistens fehlende Verblindung, oft fehlende Kontrollgruppe, meistens unpräzise/unstandardisierte diagnostische Einordnung, vorrangige Anwendung von Selbstbeurteilungsskalen und Ähnlichem. Keine dieser Studien wäre geeignet für eine Zulassung im Rahmen des FDA- oder EMA-Verfahrens. Es gibt aber zurzeit eine Reihe von bereits laufenden oder geplanten Studien, vorrangig in der Indikation Depression, die diese methodischen Mängel zumindest zum Teil vermeiden und klare wissenschaftliche Aussagen im Sinne von Phase-I- oder Phase-II-Studien machen wollen bzw. neurobiologische Wirkungsmechanismen aufklären wollen. Es ist bemerkenswert, dass diese Studien größtenteils an hochrangigen US-amerikanischen oder europäischen Universitätskliniken durchgeführt werden.

Zu betonen ist, dass sich inzwischen nicht mehr irgendwelche Außenseiter mit diesem Gebiet beschäftigen, sondern Experten in hochrenommierten Institutionen. Umso mehr verwundert es, dass auch die von diesen geplanten neuen Projekte der Phase II auf einem relativ bescheidenen Forschungsstandard – z. B. größtenteils kleine Fallzahlen, Parallelgruppendesign ohne Verblindung und Ähnliches – zu sein scheinen. Das mag mit dem Phase-II-Ansatz zusammenhängen, eventuell noch mehr mit Limitierung der Finanzmittel bei diesen Studien im akademischen Kontext. Das könnte sich sehr schnell ändern, wenn große Investoren einsteigen sollten. Dass es schon jetzt einen Markt für Psychopharmaka jenseits der klassischen Psychopharmaka gibt, auf dem entsprechende Firmen derartige Substanzen mit Erfolg anbieten – wie auf dem Gebiet der Cannabis-Substanzen in Deutschland erkennbar –, könnte in die Richtung wachsenden kommerziellen Interesses hinweisen. Dieses wird sich umso leichter einstellen, je weniger restriktiv etwaige Zulassungsbedingungen sind. Derzeit sind allerdings die klassischen Psychedelika in Anlage I des Betäubungsmittelgesetzes gelistet und gelten somit nicht als verkehrsfähig. Man kann sich kaum vorstellen, dass hinsichtlich der Psychedelika in Deutschland in naher Zukunft eine ähnliche lockere Vermarktung, das heißt ohne Zulassung, möglich ist wie derzeit bei den Cannabis-Präparaten praktiziert.

Allerdings ist die Frage, ob eine solche „freie“ Vermarktung und Verschreibung wünschenswert ist. Man sollte aus meiner Sicht die vielen Vorteile eines geordneten Psychopharmaka-Wesens mit geordneter Zulassung und klar regulierter Verschreibung, mit dem wir unter allen Aspekten gute Erfahrungen gesammelt haben, nicht aus fragwürdigen Gründen aufgeben.

Bleibt zum Schluss die Frage, warum die Psychedelika derzeit bei einigen Forschern so großes Interesse erregen. Ist dies Folge der oben geschilderten Frustrationen auf dem Gebiet der klassischen Psychopharmakologie? Ist es die Freude am Rekurs auf alte rituelle und volksmedizinische Traditionen? Ist es die Faszination der ursprünglich intendierten Hauptwirkung der „Bewusstseinserweiterung“ und damit die Öffnung für psychotherapeutische Zugänge? Ist es die Infragestellung einiger seit Beginn der modernen Psychopharmakotherapie etablierter Paradigmen, beispielsweise dass psychische Erkrankungen mit spezifischen neurobiologischen/molekularen Dysfunktionen verbunden sind, die dann entsprechend mit einer Dauertherapie korrigiert werden müssen? Die Psychedelika folgen einem anderen Konzept. Sie sind gewachsen auf dem Erfahrungswissen einer Jahrhunderte alten Tradition und sind Substanzen, die gegebenenfalls schon nach einmaliger Applikation oft langdauernde therapeutische Wirkungen entfalten. Allerdings bedarf gerade letztere Hypothese der Bestätigung im Rahmen von nach modernen Standards der Arzneimittelforschung durchgeführten Prüfdesigns. Diese bittere Pille kann den von den Psychedelika so begeisterten Forschern nicht erspart bleiben! Vielleicht ergeben sich dann nach Erfüllung dieser Voraussetzung für uns Ärzte, ganz besonders aber für die Patienten, völlig neue Perspektiven der Therapie mit Psychopharmaka.

Literatur

1. Gastaldon C, Papola D, Ostuzzi G, Barbui C. Esketamine for treatment-resistant major depression: a trick of smoke and mirrors? Epidemiol Psychiatr Sci 2019;29:e79. https://doi.org/10.1017/S2045796019000751 (Zugriff am 04.07.2020).

2. Horowitz MA, Moncrieff J. Are we repeating mistakes of the past? A review of the evidence for esketamine. Br J Psychiatry 2020 May27;1–4. doi: 10.1192/bjp.2020.89. Online ahead of print.

Psychopharmakotherapie 2020; 27(04):169-170