Verordnung von Neuro-Psychopharmaka


Jürgen Fritze, Pulheim

Wegen methodischer Probleme auch des Arzneiverordnungs-Reports (AVR) 2018 als Quelle pharmakoepidemiologischer Daten rechtfertigen sich Analysen auf Wirkstoffebene nur näherungsweise, dies insbesondere bei den Antidementiva. Seit Jahren imponiert das Wachstum der Verordnungszahlen von Antidepressiva und Antikonvulsiva. Die Gründe für die über die Jahre recht stabile und erhebliche Variabilität insbesondere der Verordnung von Psychopharmaka zwischen den Bundesländern bleiben unklar und warten auf Detailanalysen der – öffentlich nicht zugänglichen – Rohdaten.
Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Antidementiva, Antiepileptika, Parkinsonmittel, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2020;27:57–61.

In Fortsetzung langjähriger Tradition werden hier die dem Arzneiverordnungs-Report 2019 [5] zugrunde liegenden Daten des Berichtsjahres 2018 für Zwecke die Pharmakoepidemiologie der Neuro-Psychopharmaka und die regionalen Daten der GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (http://www.gkv-gamsi.de) bezogen auf die regionale Zahl der GKV-Versicherten (KM6-Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit) als Benchmarking der Bundesländer herangezogen.

Wie beschrieben [1, 2], verhindern seit 2013 bestehende methodische Probleme des AVR, die im Wesentlichen aus der Beschränkung auf die 3000 am häufigsten verordneten Fertigarzneimittel resultieren, pharmakoepidemiologische Auswertungen der Daten zu den Neuro-Psychopharmaka auf Ebene der einzelnen Wirkstoffe und insbesondere ihrer Kosten, weshalb nur die – näherungsweisen – Verteilungen der Verordnungen (definierte Tagesdosen [DDD]) einiger Wirkstoffgruppen gezeigt werden können.

Verordnungsspektren

Die verordneten Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva haben erneut – um etwa 1,6 % – zugenommen (Abb. 1) und sind damit seit 1990 mehr als 9fach gestiegen, wobei der Trend abzuflauen scheint. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – angeführt von Citalopram – dominieren mit 45,4 %, gefolgt von Trizyklika (15,7 %, rückläufig), Venlafaxin (13,5 %) und Mirtazapin (12,5 %) (Abb. 2). Die Verordnungen von Lithium (Abb. 3) sind in den letzten Jahren leicht rückläufig mit 2018 21,2 Mio. DDD und erreichen damit kaum 10 % des entsprechend den Krankheitsprävalenzen nominal möglichen Volumens.

Abb. 1. Verordnungen (definierte Tagesdosen [DDD]) von Psychopharmaka zulasten der GKV (AVR 1995–2019)

Abb. 2. Verteilung der Antidepressiva-Verordnungen (DDD) zulasten der GKV (AVR 1995–2019)

Abb. 3. Verordnungen (DDD) von Neuro-Psychopharmaka zulasten der GKV (AVR 1995–2019)

Die Verordnungen (DDD) von Antipsychotika (Abb. 1) stiegen zwischen etwa 2005 und 2015 jährlich um 2 bis 5 % vermutlich infolge von Indikationserweiterungen moderner Antipsychotika auf bipolare Störungen und Off-Label-Use. Der Off-Label-Use der Antipsychotika zeigte allerdings große Streuungen von 5 % bei Benperidol bis 92 % bei Fluspirilen, bei den modernen Antipsychotika im Bereich von etwa 40 % [3, 4]. 2017 lag die Zunahme noch bei 0,6 % gegenüber dem Vorjahr, 2018 haben die Verordnungen (DDD) um 0,3 % abgenommen. Die sogenannten atypischen Antipsychotika der 2. Generation machten 61,3 % aus, darin führend Quetiapin mit inzwischen 18,4 %, gefolgt von Olanzapin (13,7 %) und Risperidon (10,9 %). Auf Clozapin entfielen – über die Jahre weitgehend stabil – nur 4,8 % (Abb. 4).

Abb. 4. Verteilung der Verordnungen (DDD) von Neuroleptika zulasten der GKV (AVR 1995–2019)

Nach dem Einbruch 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel (hier Ginkgo biloba) durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG 2004) sind die verordneten DDD der Antidementiva bis 2015 wieder gestiegen (Abb. 1), 2016 aber nur um 0,9 % gegenüber dem Vorjahr, 2017 und 2018 gar nicht. Dies steht in Kontrast mit der infolge des demographischen Wandels zu erwartenden steigenden Prävalenz der Demenzen. Mit etwa 57 % der DDD führen die Cholinesterasehemmer (hierin etwa 65 % Donepezil, 22 % Rivastigmin, 13 % Galantamin), gefolgt von Memantin (31 %), Piracetam (6 %), Ginkgo biloba (5 %), Nicergolin (1 %).

Die Entwöhnungsmittel Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen werden weiterhin kaum verordnet (Abb. 3); kaum 5 % der geeigneten Zielgruppe dürften erreicht werden. Naltrexon, Nalmefen und nun auch Acamprosat werden vom AVR nicht berichtet, weil nicht zu den 3000 meistverordneten Fertigarzneimitteln gehörend.

Bei den Psychostimulanzien – hier mit 78 % Methylphenidat zwar abnehmend, aber dominant – scheint der seit 2008 zu beobachtende Sättigungseffekt seit 2017 gebrochen (Abb. 3).

Das Wachstum der Antikonvulsiva (hier auch als Mood-Stabilizer) hat sich 2018 fortgesetzt (Abb. 3); angeführt von Pregabalin (24,6 %), Levetiracetam (21,3 %), Valproinsäure (12,1 %, sinkend), Gabapentin und Lamotrigin (10,5 %) und Carbamazepin (7,6 %, sinkend). Pregabalin wurde in den Jahren 2010 und 2011 bei 11 % des In-Label-Use bei generalisierter Angststörung eingesetzt, bei unter 10 % bei Epilepsien, ansonsten bei chronischen Schmerzsyndromen [3, 4]. Carbamazepin wurde in den Jahren 2010 und 2011 nur bei 8 % des In-Label-Use bei bipolaren Störungen eingesetzt [3, 4], Valproinsäure bei etwa einem Drittel bei bipolaren Störungen.

Bei den Parkinsonmitteln (Abb. 3) zeigt sich nach jahrelangem Wachstum ein möglicher Sättigungseffekt; es führt Levodopa (mit Decarboxylasehemmer; 46 %) gefolgt von Pramipexol (15 %), Anticholinergika (8,5 %), Entacapon (6,8 %), Ropinirol (6,5 %), Amantadin (4,7 %), Rotigotin (5,4 %) und Rasagilin (nur noch 1,2 %).

Der Rückgang der Verordnung (DDD) von Tranquillanzien (Lorazepam führend mit 42 %, gefolgt von Diazepam mit 23 %) und Hypnotika (77 % Zopiclon und Zolpidem) setzt sich fort (Abb. 1).

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Das Benchmarking der Bundesländer gibt Hinweise, inwieweit der gesetzliche Anspruch der gesetzlich Versicherten auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§ 70 SGB V) eingelöst wird. Obwohl die Datenbasis übereinstimmt, erlauben nur die Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) und nicht der AVR Vergleiche der Bundesländer. Diese berichten aber nur aggregiert über die jeweils 30 umsatzstärksten Indikationsgruppen. Von 2014 auf 2015 wurde von den Indikationsgruppen der „Roten Liste“ auf die amtliche ATC-Klassifikation umgestellt, wodurch ab 2015 nicht ohne weiteres mit den Vorjahren verglichen werden kann.

Das GAmSi berichtet über Psychoanaleptika (N06: Antidepressiva, Psychostimulanzien, Nootropika, Antidementiva) und Psycholeptika (N05: Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika, Sedativa), hier zusammengefasst als Psychopharmaka. Danach gab es im Jahr 2018 ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern), wenn auch weniger klar als in den Vorjahren – mit den höchsten Verordnungsraten im Saarland (Abb. 5). Die Variabilität zwischen den Bundesländern (Variationskoeffizient [VK] 8,2 % für die Tagesdosen je GKV-Versicherten) liegt seit Jahren in ähnlicher Größenordnung. Dahinter scheint keine generelle Affinität zur Arzneimittelverordnung zu stehen, denn die Verordnung aller Arzneimittel je Versicherten (VK = 14,1 %) zeigt eher ein Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle (Abb. 6), das mit dem Anteil der über 64-Jährigen zusammenzuhängen scheint. Dies gilt ähnlich für die Parkinsonmittel (Abb. 7; VK = 18,3 %). Auch die Variabilität der Antiepileptika (Abb. 8; VK = 14 %) ähnelt der Altersverteilung, wobei sich hier ein kausaler Zusammenhang nicht ohne weiteres aufdrängt.

Abb. 5. Verordnungen von Psychopharmaka (DDD je GKV-Versicherten) [GAmSi 12/2018]

Abb. 6. Verordnungen aller Pharmaka (DDD je GKV-Versicherten) [GAmSi 12/2018]

Abb. 7. Verordnungen von Antiparkinsonmitteln (DDD je GKV-Versicherten) [GAmSi 12/2018]

Abb. 8. Verordnungen von Antiepileptika (DDD je GKV-Versicherten) [GAmSi 12/2018]

Interessenkonflikterklärung

J. Fritze erhielt in den letzten fünf Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Nestlé, Teva, St. Jude Medical, Sanvartis, Verband der privaten Krankenversicherung e. V.

Literatur

1. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Daten und Kritik zum Arzneiverordnungsreport 2014. Psychopharmakotherapie 2015;22:250–2.

2. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2013. Psychopharmakotherapie 2014;21:153–66.

3. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Neuroleptika und Lithium: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2018;25:S1–30, Psychopharmakotherapie 2018;25:58–68.

4. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Antikonvulsiva: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2018;25:177–94.

5. Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2019. Berlin–Heidelberg: Springer-Verlag, 2019.


Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Prescribing patterns of psychotropic and neurotropic drugs in Germany

Due to ongoing methodological issues the prescribing data presented by the Drug Prescription Report 2018 allow for only limited pharmacoepidemiological reporting especially on the level of individual active compounds, in particular for antidementia drugs. Prescriptions (DDD) especially of antidepressants and anticonvulsants have again increased. The medical rational of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany as revealed by the – although aggregated – reports of GAmSi (reporting by the federal association of sick funds) is unclear where in depth analyses of the raw data are warranted which are not available to the public.

Key words: psychotropic drugs, anti-dementia, anti-epileptic drugs, drugs against Parkinson’s disease, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2020; 27(02)