Sekundär progrediente multiple Sklerose

Therapieoption jetzt auch in der Spätphase der Erkrankung


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Patienten mit sekundär progredienter multipler Sklerose (SPMS) haben bislang nicht von den zahlreichen Neuzulassungen in der MS-Therapie profitiert. Seit Anfang 2020 ist jetzt mit Siponimod erstmals eine orale Therapie für erwachsene SPMS-Patienten mit Rest-Krankheitsaktivität EU-weit zugelassen. Eine weitere Neuerung ist die Maßgabe, dass sich die Eindosierung und Erhaltungsdosis von Siponimod nach der individuellen Metabolisierungsfähigkeit richtet. Sie wird durch eine Genotypisierung mittels Wangenabstrich bestimmt.

Die SPMS stand lange Jahre im Abseits der MS-Therapieforschung. Siponimod (Mayzent®) ist seit Anfang 2020 zugelassen zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit SPMS mit Krankheitsaktivität, nachgewiesen durch Schübe oder Bildgebung der entzündlichen Aktivität.

„Inflamm-aging“ und Immunseneszenz

Mit steigendem Lebensalter verschiebt sich das im jugendlichen Alter bestehende Gleichgewicht zwischen naiven und Memory-T-Zellen mit zunehmender Zahl von Antigenkontakten hin zu den Memory-T-Zellen, während der Pool an naiven T-Zellen immer geringer wird. Gleichzeitig ändert sich die Balance zwischen angeborenem und adaptivem Immunsystem zugunsten des angeborenen Immunsystems. Ursächlich hierfür sind neben der natürlichen Alterung des Immunsystems (Immunseneszenz) auch repetitive Entzündungsreaktionen („Inflamm-aging“). Die dadurch induzierte Veränderung der Entzündungsreaktion erfolgt nicht schlagartig; sie ist bereits subklinisch in frühen MS-Krankheitsstadien nachweisbar. Klinisch besteht kein zuverlässiger Zusammenhang mit dem Alter oder dem EDSS (Expanded disability status score) als Maß der MS-bedingten Behinderung.

Angesichts der geänderten Immunreaktion braucht man auch therapeutisch neue molekulare Mechanismen. Siponimod wurde aus einer Vielzahl von getesteten S1P-(Sphingosin-1-phosphat-)Modulatoren gezielt für die Therapie der SPMS entwickelt. S1P1-rezeptorvermittelt verhindert es die Migration von Lymphozyten aus den Lymphknoten. Aufgrund seiner Lipophilie ist Siponimod auch gehirngängig und bindet dort selektiv die S1P-Rezeptor-Subtypen 1 und 5. Diese werden von Neuronen, Mikroglia, Oligodendrozyten und Astrozyten exprimiert. Siponimod wirkt damit sowohl peripher als auch zentral immunmodulatorisch und besitzt direkte neuroprotektive Eigenschaften.

Die EU-Zulassung basiert auf Daten der randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Phase-III-Studie EXPAND, an der 1651 Patienten mit SPMS und einem EDSS-Score von 3,0 bis 6,5 teilnahmen. In der Studie reduzierte Siponimod das Risiko einer nach drei Monaten bestätigten Behinderungsprogression (primärer Endpunkt) gegenüber Placebo um 21 % (p = 0,013) [2].

Post hoc wurde eine Subgruppe von 779 Patienten mit entzündlicher Restaktivität (≥ 1 Schub in den zwei Jahren vor der Studie und/oder Kontrastmittel-anreichernde T1-Läsionen bei Studienbeginn) ausgewertet [1]. Für Patienten mit diesen Charakteristika ist Siponimod nun zugelassen. Bei den Patienten mit entzündlicher Restaktivität reduzierte Siponimod das Risiko einer nach drei Monaten bestätigten Behinderungsprogression um 31 % (p = 0,0094 vs. Placebo), das Risiko einer nach sechs Monaten bestätigten Behinderungsprogression um 37 % (p = 0,0040 vs. Placebo). Das Risiko für eine alltagsrelevante Abnahme der Kognition, gemessen mit dem Symbol Digit Modalities-Test (SDMT) und nach sechs Monaten bestätigt, verringerte sich unter Siponimod um 27 % (p 0,001 vs. Placebo). Das Sicherheitsprofil war vergleichbar mit Fingolimod.

Dosisfindung durch Genotypisierung

Siponimod wird überwiegend durch Cytochrom P4502C9 (CYP2C9), in geringerem Ausmaß auch durch CYP3A4 metabolisiert. CYP2C9 ist polymorph, das heißt, die individuelle Metabolisierungsfähigkeit hängt vom CYP2C9-Genotyp ab. Die Dosierung von Siponimod erfolgt deshalb entsprechend dem Ergebnis einer Genotypisierung, die vor Therapiebeginn an einem Wangenabstrich vorgenommen wird:

  • 2 mg Erhaltungsdosis empfohlen für schnelle (Genotypen *1*1 und *1*2) und intermediäre Metabolisierer (Genotyp *2*2)
  • 1 mg reduzierte Erhaltungsdosis empfohlen für intermediäre (Genotyp*1*3) und schlechte Metabolisierer (Genotyp*2*3)
  • Bei schlechten Metabolisierern vom Genotyp*3*3 (ca. 0,5 % der Patienten) ist Siponimod kontraindiziert

Frühe Umstellung bei SPMS-Progression

Der Progress beginnt fließend ohne klare Indexepisode. Die Diagnose der SPMS erfolgt rein klinisch; eine Progression sollte vor allem bei Patienten in Betracht gezogen werden, deren Behinderungsprogression nicht durch die klinische Krankheitsaktivität erklärbar ist. Bei Bestätigung der Verdachtsdiagnose sollte der Patient rasch auf Siponimod umgestellt werden, riet Prof. Dr. Lisa Klotz, Münster. Zur Diagnose-Unterstützung wurde der Fragebogen „MSProDiscuss“ entwickelt. Darin werden Kernvariablen aus den drei Hauptbereichen der Progression – Krankheitsaktivität, Symptome und klinische Auswirkungen in den letzten sechs Monaten – zur SPMS abgefragt und mit einem Scoring-Algorithmus bewertet. Die Ergebnisse werden durch ein Ampelsystem angezeigt: grün: keine Progression; gelb: möglicherweise eine Progression; rot: wahrscheinlich eine Progression.

Quelle

Prof. Dr. Lisa Klotz, Münster, Prof. Dr. Dr. Sven G. Meuth, Münster, Priv.-Doz. Dr. Olaf Hoffmann, Potsdam; Presseworkshop „Wir mischen die Karten in der SPMS-Therapie neu“, München, 10. Februar 2020, veranstaltet von Novartis Pharma GmbH.

Literatur

1. Gold R, et al. Efficacy of siponimod in secondary progressive multiple sclerosis patients with active disease: The EXPAND study subgroup analysis. ECTRIMS 2019; P750 [Poster].

2. Kappos L, et al., for the EXPAND clinical investigators. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet 2018;391:1263–73.

Psychopharmakotherapie 2020; 27(02):85-95