Medizinische Cannabinoide

Kaum Evidenz bei psychischen Störungen


Dr. Heike Oberpichler-Schwenk, Stuttgart

Die psychoaktiven Wirkungen von Cannabis mögen nahe legen, medizinische Cannabinoide auch bei verschiedenen psychischen Störungen einzusetzen. Die Studienlage für diesen Off-Label-Use ist allerdings dünn, wie ein umfangreicher systematischer Review zeigt.

Wirkstoffe aus Cannabis sativa – und nach regulatorischen Erleichterungen zunehmend auch die Droge (Cannabis-Blätter und -Blüten) – werden seit einigen Jahren vermehrt arzneilich genutzt. Zugelassen ist zum Beispiel die Anwendung verschiedener Präparate bei schmerzhaften Spastiken (z. B. im Rahmen einer multiplen Sklerose), bei therapierefraktären, v. a. neuropathischen Schmerzen oder zur Linderung von Chemotherapie-bedingter Nausea und Emesis bei Krebspatienten, die auf andere Antiemetika nicht ansprechen.

Die psychoaktiven Wirkungen von Cannabis können auch einen Einsatz bei verschiedenen psychischen Störungen nahe legen. Australische Forscher gingen nun in einem systematischen Review mit ergänzenden Metaanalysen der Frage nach, wie gut hier die Datenlage für medizinische Cannabinoide ist. Die Studie wurde aus öffentlichen Mitteln gefördert.

Studiendesign

In einer umfassenden Literatur- und Datenbankrecherche identifizierten die Forscher Studien aus den Jahren 1980 bis (April) 2018 zum Einsatz von medizinischen Cannabinoiden bei Erwachsenen (≥ 18 Jahre) zur Behandlung von depressiven Symptomen, Angst, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Tourette-Syndrom, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) oder Psychosen. Dabei konnten diese psychischen Störungen die Hauptdiagnose darstellen oder – was häufiger der Fall war – sekundär, zum Beispiel in Zusammenhang mit chronischen Schmerzen, vorliegen.

Die Definition „medizinisches Cannabinoid“ war breit und umfasste alle Darreichungsformen von Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), Cannabidiol (CBD), deren Kombination (Nabiximols), anderen Cannabinoiden (z. B. Cannabidivarin und die synthetischen THC-Derivate Dronabinol und Nabilon) sowie Cannabis sativa als Droge (Medizinalcannabis). Für differenzierte Analysen wurde unterschieden in pharmazeutisches THC/THC-CBD (alle standardisierten bzw. definierten THC-Präparate mit/ohne CBD), pharmazeutisches CBD und Medizinalcannabis.

Berücksichtigt wurden alle Studien, in denen mindestens ein primärer Endpunkt (Remission oder Symptombesserung) aus einer für den Review definierten Liste primärer und sekundärer störungsspezifischer Endpunkte berichtet wurde. In den Metaanalysen wurden je nach verfügbaren Daten standardisierte Mittelwertdifferenzen (SMD; bei kontinuierlichen Variablen) oder Odds-Ratios (OR; aus dichotomen Variablen) ermittelt. Zusätzlich wurde die Qualität der Evidenz jeweils gemäß GRADE (Grading of recommendations, assessment, development and evaluation) beurteilt (hoch, moderat, gering, sehr gering).

Studienergebnisse

Aus rund 4000 Fundstellen identifizierten die Forscher 83 auswertbare Studien; davon waren 40 randomisierte kontrollierte Studien (RCT; n = 3067). Die RCT waren typischerweise sehr klein und hatten eine kurze Beobachtungszeit (Studiendauer im Median 4 bis 5 Wochen). Ganz überwiegend wurde pharmazeutisches THC/THC-CBD eingesetzt. RCT mit pharmazeutischem CBD wurden nur zu Angststörungen und Psychosen gefunden.

Depression

Depressive Symptome standen in 42 Studien im Mittelpunkt, davon 23 RCT (n = 2551). Am häufigsten wurden die depressiven Symptome als Begleiterscheinung von chronischen Nicht-Tumorschmerzen (10 Studien) oder multipler Sklerose (7 Studien) behandelt. In keiner RCT war eine Depression die Hauptdiagnose. Primäre Indikation für das Cannabinoid war am häufigsten Analgesie (14 Studien) oder Spastizität (5 Studien), nur in zwei Studien explizit die depressiven Symptome.

Die Metaanalyse ergab keine signifikante Verbesserung depressiver Symptome durch pharmazeutisches THC/THC-CBD, weder im Vergleich mit einer aktiven Substanz noch mit Placebo. Die Qualität der Evidenz gemäß GRADE wurde als „sehr gering“ eingestuft.

Von fünf Studien mit Medizinalcannabis konnte nur eine metaanalytisch ausgewertet werden; sie zeigte keinen Effekt.

Angst

Zur Behandlung von Angst wurden 31 Studien identifiziert, davon 17 RCT (n = 605). In drei RCT waren Angststörungen die Hauptdiagnose. Am häufigsten wurden Ängste als Begleiterscheinung chronischer Nicht-Tumorschmerzen behandelt (7 Studien).

In sieben Placebo-kontrollierten Studien (n = 252) wurde der Effekt der Behandlung mit pharmazeutischem THC/THC-CBD als Änderung der Angstsymptome angegeben. Die Metaanalyse dieser Studien ergab eine signifikante Besserung der Angstsymptome (SMD –0,25; 95%-Konfidenzintervall [KI] –0,49 bis –0,01). Die Qualität der Evidenz war allerdings auch hier sehr niedrig, unter anderem weil keine Studien mit der Hauptdiagnose Angststörungen eingeschlossen werden konnten, da die Daten der drei vorliegenden Studien unvollständig waren. (Nur eine dieser 3 Studien zeigte einen signifikanten Effekt gegenüber Placebo.)

Zwei Studien mit Cannabidiol zeigten keine Wirkung auf soziale Angst.

ADHS

Zu ADHS wurden lediglich drei Studien identifiziert, davon eine RCT (n = 30). In dieser zeigte Nabiximols gegenüber Placebo keine Wirkung.

Tourette-Syndrom

Von acht Studien zum Tourette-Syndrom waren zwei RCT (n = 36). In diesen wurde THC-Extrakt zur Linderung der Tics eingesetzt, allerdings ohne signifikanten Effekt gegenüber Placebo.

PTBS

Unter zwölf Studien zu PTBS gab es nur eine RCT mit lediglich zehn Teilnehmern. Nabilon zeigte hier gegenüber Placebo nur auf sekundäre Endpunkte (globale Funktion, Albträume) einen gewissen Effekt.

Psychosen

Von elf Studien zu Psychosen waren sechs RCT (n = 281), davon fünf mit pharmazeutischem Cannabidiol.

Die CBD-Studien ergaben im Vergleich mit Placebo keinen signifikanten Effekt auf die psychotischen Symptome (Positiv-, Negativ-, Gesamtsymptome). In einer entsprechend auswertbaren Studie (n = 86) zeigte sich nur beim sekundären Endpunkt Globalfunktion eine Besserung (SMD –0,62; 95%-KI –1,14 bis –0,09).

Eine kleine Placebo-kontrollierte Studie mit THC-Extrakt (n = 24) zeigte keinen Effekt auf Positivsymptome, aber eine Verschlechterung der Negativsymptome (SMD +0,36; 95%-KI 0,10 bis 0,62).

Verträglichkeit

Nebenwirkungen und Studienabbrüche wurden über alle Indikationen hinweg gepoolt ausgewertet. Für pharmazeutisches THD/THC-CBD zeigte sich gegenüber Placebo ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Ereignisse (OR 1,99; 95%-KI 1,20 bis 3,29; 10 Studien) und für nebenwirkungsbedingte Studienabbrüche (OR 2,78; 95%-KI 1,59 bis 4,86; 11 Studien).

Fazit

Es gibt derzeit keine ausreichend wissenschaftlich gesicherte Grundlage für den Einsatz medizinischer Cannabinoide bei depressiven Symptomen, Angststörungen, ADHS, Tourette-Syndrom, PTBS oder Psychosen. (Vor allem bei Letzteren muss der Einsatz mit besonderer Vorsicht betrachtet werden, weil Cannabiskonsum, vor allem im Jugendalter, die Entstehung von Psychosen begünstigt.) Lediglich für pharmazeutisches THC/THC-CBD gibt es Hinweise auf eine Besserung von Ängsten als Begleiterscheinung anderer Erkrankungen; dabei kann es sich auch um einen indirekten Effekt (z. B. infolge einer Besserung chronischer Schmerzen) handeln. Die Qualität der Evidenz wurde bei allen betrachteten Störungen überwiegend als niedrig oder sehr niedrig eingestut. Insgesamt besteht zum therapeutischen Einsatz von Cannabinoiden bei psychischen Störungen noch großer Forschungsbedarf.

Quelle

Black N, et al. Cannabinoids for the treatment of mental disorders and symptoms of mental disorders: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry 2019; E-pub October 28, 2019. https:doi.org/10.1016/S2215-0366(19)30401-8 (Zugriff am 07.01.2020).

Psychopharmakotherapie 2020; 27(01):33-40