Schwere neurodegenerative Erkrankungen

Neue Wege in der Therapie


Dr. Maja M. Christ, Stuttgart

Neurodegenerative Erkrankungen zu behandeln, ist herausfordernd. Während es für die multiple Sklerose (MS) bereits zahlreiche Therapieoptionen gibt, ist der „unmet medical need“ z. B. für Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) oder spinale Muskelatrophie (SMA) weiterhin hoch. Einige Entwicklungen stellten Experten am 27. September 2019 auf einem von der Firma Roche veranstalteten Pressegespräch im Rahmen des 92. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vor.

Multiple Sklerose: Ocrelizumab

Der multiplen Sklerose liegt eine Dauerinflammation zugrunde: Auch außerhalb der Schübe finden sich Entzündungszellen im Gewebe. Um Patienten eine Hirnbiopsie ersparen zu können, werden weiterhin aussagekräftige Biomarker gesucht. Ein interessanter Kandidat für die Überwachung des Behandlungseffekts sind Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Köln, zufolge Neurofilamente im Liquor (NfL). Der gegen CD20 auf B-Lymphozyten gerichtete monoklonale Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®) reduziert die NfL-Spiegel signifikant. Dieser Biomarker ist zwar nicht spezifisch für MS, eignet sich Limmroth zufolge aber für die Verlaufskontrolle von Patienten, die keine weiteren Erkrankungen haben.

Für Ocrelizumab liegen inzwischen die 6-Jahres-Daten der Studien ORATORIO und OPERA vor. Für die primär progrediente MS (PPMS) ergab sich nach 6,5 Jahren Beobachtungszeit für Patienten mit einem früheren Therapiebeginn und einer kontinuierlichen Ocrelizumab-Gabe eine geringere Behinderungsprogression als bei späterer Einstellung auf den Antikörper (Hazard-Ratio [HR] inkl. offene Verlängerungsphasen 0,72; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,58–0,89; p = 0,002). Auch bei der schubförmigen MS (RRMS) führte ein früher Therapiestart auf lange Sicht zu einer signifikanten Reduktion der Behinderungsprogression.

Mit der CASTING-Studie wurde ein Wechsel auf Ocrelizumab bei Patienten mit unzureichendem Therapieansprechen untersucht. Die Interimsanalyse nach einem Jahr ergab für sechs von sieben RRMS-Patienten Freiheit von Krankheitsaktivität (NEDA). Das Sicherheitsprofil war konsistent zu vorherigen Studien. Insgesamt blieb die Rate schwerwiegender Infektionen gering.

NMOSD: Satralizumab

Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen umfassen mehrere Erkrankungen, die – so Limmroth – in der Zukunft sicher als eigenständige Erkrankungen beschrieben werden. Es werden Prävalenzen von 0,05–13 pro 100 000 Personen berichtet. In Asien sind NMOSD häufiger vertreten und machen ein Drittel der immunoneurologischen Erkrankungen aus.

Die NMOSD ist durch Anti-Aquaporin-4(AQP4-)Antikörper getriggert – etwa 73 % der Patienten haben einen positiven Anti-AQP4-Antikörper-Status. Die Behinderung schreitet schneller voran als bei MS, progrediente Verläufe sind selten. Symptome wie Sehstörungen, Mobilitätseinschränkung, Schmerzen, Fatigue und Inkontinenz reduzieren die Lebensqualität.

Der „unmet medical need“ ist hoch. Da die Progression abhängig von akuten entzündlichen Ereignissen ist, sollte das primäre Therapieziel das Verhindern von Schüben sein – etwa über eine Interleukin(IL)-6-Blockade. Einer der monoklonalen Antikörper in der Entwicklung ist Satralizumab. Seine Wirksamkeit und Sicherheit werden im SAkura-Studienprogramm untersucht.

In der randomisierten, Placebo-kontrollierten SAkuraStar-Studie erhielten 95 Patienten als Monotherapie 2 : 1 randomisiert Verum oder Placebo. Unter Satralizumab reduzierte sich das Schubrisiko um 55 % (HR 0,45; 95%-KI 0,23–0,89; Log-Rank p = 0,0184). Unter AQP4-positiven Patienten war die Reduktion größer, die Studie war jedoch nicht für Subpopulationsanalysen gepowert, so Limmroth. Das Sicherheitsprofil bezeichnete der Neurologe als gut. Er sieht die Entwicklung als „echte Bereicherung“ für betroffene Patienten.

SMA: Risdiplam

Prof. Dr. med. Dirk Fischer, Basel, stellte eine neue Entwicklung für Patienten mit spinaler Muskelatrophie vor. Die schwere neuromuskuläre Erkrankung wird durch eine Mutation im SMN1-Gen hervorgerufen. Ein zweites Gen, das SMN2, kann das fehlende SMN1-Genprodukt – ein Protein in den motorischen Rückenmarkzellen – nicht komplett kompensieren. Grund dafür ist die recht hohe Instabilität des SMN2-Genprodukts, die Schwere und Zeitpunkt des Auftretens der SMA bestimmt. Es werden drei Typen unterschieden: Typ 1 betrifft Babys in den ersten sechs Monaten, die nie sitzen oder gehen können. Bei Typ 2 setzen die Symptome mit 6 bis 18 Monaten ein. Die Patienten lernen zwar sitzen, aber nicht gehen. Milder ist der Verlauf bei Typ 3; der Symptombeginn liegt hier ab 18 Monaten.

Ein Therapieansatz ist es, mehr SMN2-Protein in eine stabile Form zu bringen. Dies scheint mit dem „small molecule“ Risdiplam zu funktionieren: In den ersten Studien erhöhte der Spleißmodifikator konsistent die Protein-Level. Ein Vorteil gegenüber Nusinersen, das per Lumbalpunktion in den Liquorraum appliziert wird, ist die orale Gabe. Aufgrund der Schwere der Krankheit gibt es allerdings keine Placebo-kontrollierten Studien.

Kein in den Studien behandelter Patient verlor bislang die Fähigkeit, zu schlucken oder selbst zu atmen, so Fischer. „Wir werden durch die Behandlung eine andere Erkrankung haben als vorher“, sagte er. Kinder des Typs 1 könnten so möglicherweise zu Typ 2 werden.

Fazit

Ein wichtiges Ziel in der Therapie neurodegenerativer Erkrankungen ist es, die Neurodegeneration und Krankheitsprogression frühzeitig zu bremsen oder gar zu stoppen. Auch für seltenere Erkrankungen als die MS sind derzeit vielversprechende, verlaufsmodifizierende Therapieansätze in der Entwicklung.

Quelle

Prof. Dr. med. Volker Limmroth, Köln, Prof. Dr. med. Dirk Fischer, Basel, Pressegespräch „Neue Wege in der Neurologie? Chancen in der Therapie schwerer neurogenerativer Erkrankungen wie MS, NMOSD und SMA“ veranstaltet von Roche Pharma im Rahmen des DGN-Kongresses, 27. September 2019, Stuttgart.

Psychopharmakotherapie 2019; 26(06):341-349