Quo vadis Arzneimittelkommission?


Univ.-Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt/Worms

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Die unipolare Depression ist die häufigste psychiatrische Erkrankung mit etwa fünf Millionen Betroffenen in der BRD (Einjahresprävalenz) mit einer erheblichen Belastung und Leid für Betroffene und Angehörige und enormen Kosten für unser Gesundheitssystem. Die zur Verfügung stehenden Therapien sind alle nicht optimal (antidepressive Medikamente und Psychotherapie) und erfordern einen kompetenten therapeutischen Umgang im Sinne einer wenn möglich multimodalen Therapie unter Einbeziehung aller Therapiemöglichkeiten. Dies ist sehr ausführlich in den aktuellen, fast 300 Seiten langen S3-Leitlinien „Unipolare Depression“ beschrieben.

Die psychiatrischen Fachvertreter der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft erlauben sich hier fast traditionell seit vielen Jahren, eine abweichende Position zu beziehen mit der Meinung einer fast nicht vorhandenen Wirksamkeit der Antidepressiva. Insofern war der Artikel von Baier und Bschor im ersten Heft 2019 der Arzneiverordnung in der Praxis [2] nichts Neues, zumal der Erstautor Ähnliches schon mehrfach publiziert hat, beispielsweise in einem Pro-und-Kontra-Artikel vor einigen Jahren [1]. Auch im aktuellen Artikel geht es wieder um methodische Fragen der Antidepressiva-Studien und den Placebo-Effekt, also ein eher akademisches Problem, wo die Autoren eine sehr persönliche Meinung vertreten, die von vielen Fachleuten, besonders auch in dieser Überzeichnung als falsch angesehen wird und die durch ständiges Wiederholen alter Argumente auch nicht überzeugender wird. Leider kann man diesen Disput nicht mehr nur als ein akademisches Problem abhandeln, schon gar nicht in der Arzneiverordnung in der Praxis (AVP), da die primäre Aussage der Autoren einer fast nicht vorhandenen therapeutischen Wirkung der Antidepressiva bei einem Großteil der depressiven Patienten ein verheerendes Signal in die therapeutische Praxis der Depressionsbehandlung gibt, wo Ablehnung der Therapie und schlechte Adhärenz ein riesiges Problem darstellen, nicht nur in der Akuttherapie, besonders aber auch in der in ihrer Wirksamkeit zweifelsfrei belegten Langzeittherapie (Rückfall- und Rezidiv-Prävention). Der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft würde es vielmehr im Interesse der Patienten gut anstehen, bestens bekannte Mängel im Umgang mit Antidepressiva in der täglichen Praxis (unzureichende Dosis bei den alten TCA, viel zu kurze Therapiedauer, keine Rückfall- bzw. Rezidiv-Prophylaxe) zu thematisieren und zu verbessern.

Wie hat es angefangen? Die antidepressive Wirksamkeit wurde von R. Kuhn vor über 50 Jahren eher zufällig an nur wenigen Patienten bei der offenen klinischen Prüfung von Imipramin entdeckt und bald enthusiastisch in die Therapie der Depression übernommen. Viele ähnliche Trizyklika wurden in den Folgejahren entwickelt und eingeführt. Schon in den frühen Placebo-kontrollierten klinischen Prüfungen beispielsweise mit Amitriptylin wurde eine etwa gleichstarke Wirkung der Substanz und von Placebo gesehen [14]. Schon damals wurde beschrieben, dass bei sehr leichten Depressionen eher kein Unterschied zwischen Verum und Placebo vorhanden war. In einer späteren, vom NIMH initiierten Studie wurde diese Beobachtung für Imipramin bestätigt (keine signifikante Placebo-Verum-Differenz bei den leichteren sondern erst bei den stärker ausgeprägten Depressionen). Das gleiche Phänomen wurde in dieser Arbeit auch für die beiden Psychotherapiearme beschrieben (IPT, KVT) [6], ein Befund der auch später bestätigt wurde [4], gerne aber in der heutigen Diskussion verschwiegen wird. Dies ist Schnee von vorgestern und jeder angehende Psychiater hat daher gelernt, dass die leichteren Depressionen keinesfalls immer leichter einer Therapie zugängig sind. Dieses sehr alte Problem wurde vor einigen Jahren von einer Gruppe von Psychologen [11] aufgegriffen mit der Auswertung einiger (weniger als 100) Studien und der nicht haltbaren Aussage, bei leichteren Depressionen wären Antidepressiva global nicht besser als Placebo, ungeachtet der Tatsache, dass andere Metaanalysen, beispielsweise Melander et al. [12], klar zeigen, dass bei Betrachtung der individuellen Studien die Placebo-Verum-Differenz unabhängig vom Schweregrad ist. Auch eine neuere Metaanalyse bestätigt diesen Befund [8]. Die Studie von Hegerl et al. [9] aus dem Deutschen Netzwerk Depression zeigt darüber hinaus eine signifikante Differenzierung zwischen Verum (Sertralin) und Placebo bei leichten Depressionen. Auch KVT war hier wirksam, aber nicht besser als die Placebo-Gruppe im Sertralin-Vergleich. Alle diese Daten werden von Baier und Bschor nicht erwähnt.

Die Kritik an den Antidepressiva beginnt bei Baier und Bschor mit der Erwähnung hoher Verordnungszahlen von Antidepressiva in den USA, verschweigt aber, dass über 50 % der depressiven Patienten in Deutschland nicht behandelt werden. Dass im Pool nicht publizierter Studien eher auch negative Studien (Verum nicht besser als Placebo) zu finden sind [15], ist auch nicht neu und gilt genauso für Psychotherapiestudien [5], was aber von Baier und Bschor auch nicht erwähnt wird. Der eigentlich erfreuliche Befund, dass die multimodale Therapie in den Antidepressiva-Studien zu einer Zunahme der globalen Wirksamkeit geführt hat (von Baier und Bschor in Abb. 3 gezeigt), wird auch von den Autoren nicht bewertet. Dass für den deutlichen Anstieg der Placebo-Wirkung methodische Unterschiede der Studien eine wichtige Rolle spielen, wurde schon immer vermutet und ist jetzt metaanalytisch bestätigt [7]. Dass aber auch andere Faktoren eine Rolle spielen, zeigt beispielsweise die Auswertung der klinischen Daten zu Vortioxetin, wo Studien mit exakt gleichem Design und Durchführung sehr unterschiedlichen Ausgang gezeigt haben [13]. Dass bei zunehmender Placebo-Response die Verum-Response stabil geblieben ist, zeigt Abbildung 3 in der Arbeit von Baier und Bschor sehr deutlich. Hier eine Abnahme der Wirksamkeit der Antidepressiva ableiten zu wollen, ist mir nicht verständlich, zumal die aktuelle große Netzwerkanalyse [3] für alle untersuchten Antidepressiva eine über die Placebo-Response gehende Wirksamkeit bestätigt.

Wenn die Autoren wie immer Pharmainteressen für die unterschiedlichen Daten ins Spiel führen, möchte ich ihnen den Blick in den Spiegel empfehlen, vor dem Hintergrund der in ihren Publikationen fehlenden Auseinandersetzung mit der Kritik an Validität und Aussagekraft vieler Psychotherapiestudien, beispielsweise in der Pro-und-Kontra-Diskussion [1], und der Tatsache, dass die Klinik des Letztautors laut Homepage einen Psychotherapieschwerpunkt aufweist. Offensichtlich haben die Autoren Probleme anzuerkennen (belegt in der Arbeit von Hegerl et al. [9]), dass der Placebo-Arm in Antidepressiva-Studien eine sehr wirksame Therapie darstellt, fast so gut wie KVT, was vor dem Hintergrund neuerer Daten nicht verwunderlich ist, die zeigen, dass die Wirksamkeit der Psychotherapie wenig vom Typ der psychotherapeutischen Intervention bestimmt wird [10]. Als Pharmakologe habe ich darüber hinaus ein Problem, wenn ein Psychiater, der mit Psychotherapie direkt Geld verdient, Psychotherapie, wenn auch indirekt, in der AVP propagieren darf.

Während die obigen Kommentare zur Arbeit von Baier und Bschor trotz aller Kritik immer noch den Charakter einer wissenschaftlichen Diskussion haben, ist meine Toleranzgrenze beim letzten Absatz deutlich überschritten. Wenn hier gebetsmühlenartig die Wirksamkeit neuerer Antidepressiva angezweifelt wird und mehrfach die „gute“ Wirkung von Amitriptylin herausgestellt wird, dann ist dies nicht mehr akzeptabel, besonders im Mitteilungsblatt der Arzneimittelkommission. Hier muss der Vorwurf des bewussten Weglassens klar formuliert werden, denn die Autoren wissen, dass Amitriptylin so ziemlich das toxischste Arzneimittel ist, das für eine so häufige Indikation eingesetzt wird, dass fatale Intoxikationen nicht selten sind, und dass es viele gravierende sehr häufige UAWs gibt, die in der Vergangenheit immer wieder dazu führten, dass gerade bei leichter depressiv kranken Patienten keine ausreichend wirksame Dosis durchgesetzt werden konnte, was zu wochen- bis monatelangen nicht erfolgreichen unterdosierten Therapien führte, und schließlich, dass gerade die besonders ausgeprägten anticholinergen UAWs die Substanz zu einem absoluten „No go“ bei den vielen älteren Patienten machen (hier hat die Priscus-Liste uneingeschränkt recht). Trotzdem Amitriptylin unkommentiert hier so positiv darzustellen, ist schlicht unverantwortlich, zumal in der von den Autoren zitierten aktuellen großen Metaanalyse [3] die Unterschiede der Effektivität zwischen Amitriptylin (weitgehend ältere Studien) und Mirtazapin und Duloxetin (weitgehend neuere Studien) nicht sehr groß sind. Bei der gemeinsamen Bewertung von Effektivität und Verträglichkeit in der gleichen Übersicht im Lancet 2018 steht interessanterweise Vortioxetin mit deutlichem Vorsprung vorn, gefolgt von Escitalopram, Mirtazapin und Bupropion (alles von den Autoren als wenig wirksam bezeichnete neuere Antidepressiva). Pikanterweise hat der G-BA den beiden ersten Substanzen keinen Vorteil zuerkannt. Escitalopram hat sich die Anerkennung über ein Gerichtsurteil erstritten, der Spitzenreiter Vortioxetin ist in vielen Ländern der Welt verfügbar, aber nicht bei uns. Dass das in dieser Übersicht [3] mit Abstand beste Antidepressivum für die deutschen Patienten nicht zur Verfügung steht, wurde von Baier und Bschor nicht erwähnt. Absicht?

Literatur

1. Baghai TC, Lieb M, Möller JK, Bschor T, et al. Antidepressiva bei leichten Störungen. Psychiat Prax 2011;38:270–3.

2. Baier A, Bschor T. Warum Antidepressiva Studien scheitern: Zunehmender Placeboeffekt oder abnehmende Wirksamkeit? Arzneiverordnung in der Praxis 2019;46:55–8.

3. Cipriani A, Furukawa TA, Salanti G, et al. Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2018;391:1357–66.

4. Cuijpers P, Koole S, van Dijke A, Roca M, et al. Psychotherapy for subclinical depression: meta-analysis. Br J Psychiat 2014;205:268–74.

5. Driessen E, Hollon SD, Bockting CLH, Culijpers P, et al. Does publication bias inflate the apparent efficacy of psychological treatment for major depressive disorder? A systematic review and meta-analysis of US national institutes of health-funded trials. PLOS one 2015; DOI:101371.

6. Elkin I, Shea MT, Watkins JT, Imber SD, et al. National Institute of Mental Health Treatment of Depression Collaborative Research Program. General effectiveness of treatments. Arch Gen Psychiat 1989;46:971–82.

7. Furukawa TA, Cipriani A, Leucht S, Atkinson LZ, et al. Is placebo response in antidepressant trials rising or not? A reanalysis of datasets to conclude this long-lasting controversy. Evid Based Ment Health 2018;21:1–3.

8. Furukawa TA, Maruo K, Noma H, Tanaka S, et al. Initial severity of major depression and efficacy of new generation antidepressants: Individual participant data meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2018;137:450–8.

9. Hegerl U, Hautzinger M, Mergl R, et al. Effects of pharmacotherapy and psychotherapy in depressed primary-care patients: a randomized, controlled trial including a patient’s choice arm. Int J Neuropsychopharmacol 2010;13:31–44.

10. Khan A, Faucett J, Lichtenberg P, Kirsch I, et al. A systematic review of comparative efficacy of treatments and controls for depression. PLOS One 2012;7:e1778.

11. Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, et al. Initial severity and antidepressant benefits: A meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLOS Med 2008;5:e45.

12. Melander H, Salmonson T, Abadie E, van ZwietenBoot B. A regulatory apologia – a review of placebo-controlled studies in regulatory submissions of new-generation antidepressants. Eur Neuropsychopharmacol 2008;18:623–7.

13. Möller HJ. Das Problem der Heterogenität zwischen in den USA und nicht in den USA durchgeführten Antidepressiva-Studien. Psychopharmakotherapie 2014;21:211–8.

14. Paykel ES, Hollyman JA, Freeling P, Sedgwick P. Predictors of therapeutic benefit from amitriptyline in mild depression: a general practice placebo-controlled trial. J Affect Dis 1988;14:83–95

15. Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, et al. Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008;358:252–60.

Psychopharmakotherapie 2019; 26(03):115-116