Multiple Sklerose

Selektive Immun-Rekonstitutions-Therapie mit Cladribin-Tabletten


Martin Wiehl, Königstein-Falkenstein

Die Behandlung der multiplen Sklerose (MS) ist seit Herbst 2017 um einen neuen Therapieansatz bereichert worden. Mit der europäischen Zulassung von Cladribin-Tabletten (Mavenclad®) bei hochaktiven Verlaufsformen der schubförmigen MS (RMS) steht ein Behandlungsweg zur Verfügung, der gezielt, selektiv und nachhaltig in den pathologischen Autoimmunprozess eingreift. Beim 5. MS-Presseclub von Merck nahm Prof. Dr. Aiden Haghikia eine Einordnung vor und ging dabei auch auf das Thema Familienplanung von MS-Patienten ein.

Cladribin reduziert gezielt T- und B-Lymphozyten und mindert somit die zellulär vermittelte Krankheitslast, ohne die Immunzellen radikal zu depletieren und ohne wichtige Abwehrfunktionen des Immunsystems zu untergraben. Diese selektive Beeinflussung des erworbenen Immunsystems und die erwiesenermaßen hohe Sicherheit von Cladribin-Tabletten in der MS-Therapie ergeben sich aus dem speziellen Wirkprofil der Substanz. Cladribin (2-Chlor-2’-dexoxyadenosin) ist ein Analogon des DNA-Bausteins Desoxyadenosin. Es stellt ein Prodrug dar, das erst durch dreifache Phosphorylierung in seine aktive Form überführt wird. Inaktives Cladribin wird unverändert innerhalb von 24 Stunden überwiegend renal ausgeschieden.

Die Aktivierung des Prodrugs geschieht bevorzugt in T- und B-Lymphozyten, da diese eine hohe Phosphorylierungsrate dank einer hohen Aktivität des Enzyms Deoxycytidinkinase aufweisen. Zugleich ist in diesen Immunzellen der enzymatische Abbau von Phosphatverbindungen vermindert (geringe Aktivität der Phosphatase 5’-Nucleotidase). Ein hoher Kinase/Phosphatase-Quotient ist somit charakteristisch für Lymphozyten; bei anderen Körperzellen, und damit auch bei Immunzellen des angeborenen Abwehrsystems, ist dieses Verhältnis umgekehrt. Daraus resultiert die relativ selektive Aktivierung von Cladribin in Lymphozyten, während die anderen Körperzellen mit niedrigem Kinase/Phosphatase-Quotienten allenfalls geringfügig tangiert werden. Die Anreicherung des aktivierten Cladribins in den Lymphozyten mündet schließlich in deren Apoptose, während Zellen des angeborenen Immunsystems weitgehend erhalten bleiben.

Cladribin-Tabletten werden in Form von Behandlungszyklen angewendet (siehe Kasten). In den Zyklen fällt die Reduktion der B-Zellen deutlicher aus als die eher moderate Apoptose der T-Zellen. In diesem Unterschied liegt möglicherweise ein Grund für die Selektivität, die auch bei der Rekonstitution des Immunsystems beobachtet wird. Nach der nicht radikal depletierenden Reduktion von B-Zellen und der nur moderaten Reduktion von T-Zellen unter Beibehaltung der regulatorischen T-Zellen kommt es zu einer kontrollierten Repopulation der Immunzellen. Der nachhaltige Therapieeffekt der korrigierten Autoimmunität wird somit nicht durch vermehrtes Auftreten von sekundären Autoimmunerkrankungen konterkariert, wie es nach radikaler Depletion von Immunzellen häufig zu beobachten ist.

Dosierung von Cladribin

Cladribin wird körpergewichtsadaptiert dosiert. Die Einnahme der Gesamtdosis von 3,5 mg/kg Cladribin für zwei Jahre erfolgt verteilt auf vier Zyklen (jeweils in der ersten Woche des ersten und zweiten Monats von Jahr 1 und Jahr 2), wobei in jedem Zyklus 0,875 mg/kg in Form von 10-mg-Tabletten verteilt über vier bis fünf Tage eingenommen werden.

Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit

Die klinische Wirksamkeit von Cladribin-Tabletten bei hochaktiver RMS wurde in der CLARITY-Studie nachgewiesen. Sie zeigte nach zwei Jahren Therapie gegenüber Placebo eine Reduktion der jährlichen Schubrate um 58 % und eine Reduktion der nach sechs Monaten bestätigten Behinderungsprogression um 47 %. Eine aktuelle Auswertung der Studie brachte zudem zutage, dass mit 44 % fünfmal so viele Patienten mit hochaktiver MS unter Cladribin-Tabletten frei von Krankheitsaktivität waren wie unter Placebo.

Zum Nachweis der Nachhaltigkeit der Therapie können die Daten der CLARITY-EXTENSION-Studie herangezogen werden, denen zufolge die Behandlungseffekte weit über das Therapieende hinaus fortbestanden. So blieb die Halbierung der jährlichen Schubrate von 0,33 auf 0,14 nach weiteren zwei Jahren mit 0,15 auch ohne weitere Tabletten-Einnahme nahezu identisch erhalten.

Familienplanung bei Cladribin-Therapie

Vor dem Hintergrund des gut charakterisierten Sicherheitsprofils und der begrenzten Therapiedauer hielt Haghikia Cladribin-Tabletten insbesondere auch für Patientinnen mit Kinderwunsch geeignet. Lediglich während der jeweils einwöchigen Therapieeinnahme in den Monaten 1 und 2 im ersten und im zweiten Behandlungsjahr sowie sechs Monate nach der letzten Dosis sollte aus Sicherheitsgründen eine Schwangerschaft vermieden werden. Weil es unter einer Therapie mit einem Purin-Analogon wie Cladribin theoretisch zu Missbildungen des Feten kommen kann, wird sowohl Frauen als auch Männern in diesen Therapiephasen eine sichere Kontrazeption angeraten. Mittel- und langfristig ist eine Familienplanung hingegen ohne weiteres möglich, wenn eine Therapie mit Cladribin-Tabletten in Erwägung gezogen wird. Eine bestehende Schwangerschaft ist umgekehrt eine klare Kontraindikation für eine Cladribin-Behandlung.

Schwangerschaften, die bislang innerhalb von sechs Monaten nach Einnahme der letzten Cladribin-Tablette dennoch eingetreten sind, wurden im Rahmen eines Vigilanz-Programms eingehend untersucht und nachbeobachtet. Dabei kam es im Vergleich zu einer Placebo-Kontrollgruppe zu Lebendgeburten in ähnlichen Raten. Ferner konnten weder bei Schwangerschaften von Studienteilnehmerinnen noch bei Schwangerschaften von Partnerinnen von Studienteilnehmern Sicherheitssignale festgestellt werden.

Quelle

Prof. Dr. med. Aiden Haghikia, Bochum, 5. MS-Presseclub „MS-Perspektiven – Aktuelle Therapien und ihr Einsatz im Praxisalltag“, Berlin, 22. Juni 2018, veranstaltet von Merck Serono.

Psychopharmakotherapie 2019; 26(01):62-65