Verordnung von Neuro-Psychopharmaka


Anmerkungen zum Arzneiverordnungsreport 2018

Jürgen Fritze, Pulheim

Auch der Arzneiverordnungsreport 2018 birgt als Quelle pharmakoepidemiologischer Daten methodische Probleme, sodass sich Analysen auf Wirkstoffebene insbesondere bei den Antidementiva nicht mehr rechtfertigen. Seit Jahren imponiert das Wachstum der Verordnungen von Antidepressiva und Antikonvulsiva. Über die Jahre recht stabil zeigt sich bei der Verordnung von Psychopharmaka eine erhebliche Variabilität zwischen den Bundesländern Die Gründe bleiben unklar und warten auf Detailanalysen der – öffentlich nicht zugänglichen – Rohdaten.
Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Antidementiva, Antiepileptika, Parkinsonmittel, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2019;26:39–41.

In Fortsetzung langjähriger Tradition werden hier die dem Arzneiverordnungsreport (AVR) 2018 [5] zugrunde liegenden Daten des Berichtsjahrs 2017 dazu verwendet, um dem einzelnen Arzt zu ermöglichen, die Rationalität seines Verordnungsverhaltens gegenüber der Gesamtheit zu „benchmarken“. Wie zum AVR 2013 und AVR 2014 detailliert beschrieben [1, 2], verhindern seit 2013 bestehende methodische Probleme des AVR, die im Wesentlichen aus der Beschränkung auf die 3000 am häufigsten verordneten Fertigarzneimittel resultieren, sinnvolle weiterführende pharmakoepidemiologische Auswertungen der Daten zu den Neuro-Psychopharmaka insbesondere auf Ebene der einzelnen Wirkstoffe und der Kosten. Es ist beispielsweise sinnlos, das vermutlich einem Rabattvertrag zu verdankende Wachstum von über 200 % bei den Verordnungen (DDD) eines Fertigarzneimittels des Wirkstoffs Donepezil zu berichten und dabei insgesamt ein Wachstum (DDD) der Cholinesterasehemmer (Tab. 13.1 des AVR 2018) von gewichtet 5,97 % zu suggerieren, während dieses Wachstum tatsächlich (Abb. 13.1 des AVR 2018) bei 1,6 % lag. Analoge Schwächen zeigen sich bei anderen Wirkstoffen. Es ist schade, dass der AVR seine Chancen als Datenbasis weiterhin nicht vollständig nutzt.

Wie seit 2008 werden zusätzlich die regionalen Daten der GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (http://www.gkv-gamsi.de) bezogen auf die regionale Zahl der GKV-Versicherten (KM6-Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit) als Benchmarking der Bundesländer herangezogen.

Verordnungsspektren

Die verordneten Tagesdosen (DDD [defined daily doses]) von Antidepressiva haben erneut – um etwa 1,5 % – zugenommen (Abb. 1) und sind damit seit 1990 fast 9-fach gestiegen, wobei sich eine Sättigung allenfalls andeutet. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – angeführt von Citalopram – dominieren mit 44,8 %, gefolgt von Trizyklika (16,6 %, rückläufig), Venlafaxin (13,5 %) und Mirtazapin (12,6 %). Die Verordnungen von Lithium (Abb. 2) bleiben seit Jahren mit 2017 wieder 21,5 Mio. DDD stabil und erreichen damit kaum 10 % des entsprechend den Krankheitsprävalenzen nominal möglichen Volumens.

Abb. 1. Verordnungen (definierte Tagesdosen [DDD]) von Psychopharmaka zulasten der GKV (Arzneiverordnungsreport 1995–2018)

Abb. 2. Verordnungen (DDD) von Neuro-Psychopharmaka zulasten der GKV (Arzneiverordnungsreport 1995–2018)

Die Verordnungen (DDD) von Antipsychotika (Abb. 1) stiegen zwischen etwa 2005 und 2015 jährlich um 2 bis 5 % vermutlich infolge von Indikationserweiterungen moderner Antipsychotika auf bipolare Störungen und Off-Label-Use. Der Off-Label-Use der Antipsychotika zeigte allerdings große Streuungen von 5 % bei Benperidol bis 92 % bei Fluspirilen, bei den modernen Antipsychotika im Bereich von etwa 40 % [3]. 2016 lag die Zunahme nur bei 0,3 %, 2017 bei 0,6 % gegenüber dem Vorjahr. Die sogenannten atypischen Antipsychotika der 2. Generation machten 60 % aus, darin führend Quetiapin mit inzwischen 18,3 %, gefolgt von Olanzapin (13,6 %) und Risperidon (11,2 %). Auf Clozapin entfielen – über die Jahre weitgehend stabil – nur 4,7 %.

Nach dem Einbruch 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel (hier Ginkgo biloba) durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) sind die verordneten DDD der Antidementiva bis 2015 wieder gestiegen (Abb. 1), 2016 aber nur um 0,9 % gegenüber dem Vorjahr, 2017 gar nicht. Dies steht in Kontrast mit der infolge des demographischen Wandels zu erwartenden steigenden Prävalenz der Demenzen.

Die Entwöhnungsmittel Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen werden weiterhin kaum verordnet (Abb. 2); kaum 5 % der geeigneten Zielgruppe dürften erreicht werden. Naltrexon und Nalmefen werden vom AVR nicht berichtet, weil sie nicht zu den 3000 meistverordneten Wirkstoffen gehören.

Bei den Psychostimulanzien – hier mit 80 % Methylphenidat zwar abnehmend, aber dominant – ist seit 2008 ein Sättigungseffekt zu verzeichnen (Abb. 2).

Das Wachstum der Antikonvulsiva (hier auch als Mood-Stabilizer) hat sich 2017 fortgesetzt (Abb. 2); angeführt von Pregabalin (24,4 %), Levetiracetam (21,3 %), Valproinsäure (12,8 %, sinkend), Gabapentin (11 %) und Carbamazepin (8,4 %, sinkend). Pregabalin wurde in den Jahren 2010 und 2011 zu 11 % des In-Label-Use bei generalisierter Angststörung eingesetzt, zu weniger als 10 % bei Epilepsien, ansonsten bei chronischen Schmerzsyndromen [4]. Carbamazepin wurde in den Jahren 2010 und 2011 nur zu 8 % des In-Label-Use bei bipolaren Störungen eingesetzt [4], Valproinsäure zu etwa einem Drittel bei bipolaren Störungen.

Bei den Parkinsonmitteln (Abb. 2) zeigt sich nach jahrelangem Wachstum ein Sättigungseffekt; es führt Levodopa (mit Decarboxylasehemmer; 47 %) gefolgt von Pramipexol (15,9 %), Anticholinergika (9,1 %), Entacapon (7,7 %), Ropinirol (6,8 %), Amantadin (5,6 %), Rotigotin (5,4 %) und Rasagilin (nur noch 2,2 %). Der Rückgang der Verordnung (DDD) von Tranquillanzien (Lorazepam führend mit 40 %, gefolgt von Diazepam mit 23 %) und Hypnotika (76 % Zopiclon und Zolpidem) setzt sich fort (Abb. 1).

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Das Benchmarking der Bundesländer gibt Hinweise, inwieweit der gesetzliche Anspruch der gesetzlich Versicherten auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§ 70 SGB V) eingelöst wird. Obwohl die Datenbasis übereinstimmt, erlauben nur die Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) und nicht der AVR Vergleiche der Bundesländer. Diese berichten aber nur aggregiert über die jeweils 30 umsatzstärksten Indikationsgruppen. Von 2014 auf 2015 wurde von den Indikationsgruppen der „Roten Liste“ auf die amtliche ATC-Klassifikation umgestellt, wodurch ab 2015 nicht ohne weiteres mit den Vorjahren verglichen werden kann.

Das GAmSi berichtet über Psychoanaleptika (N06: Antidepressiva, Psychostimulanzien, Nootropika, Antidementiva) und Psycholeptika (N05: Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika, Sedativa), hier zusammengefasst als Psychopharmaka. Danach gab es wie in den Vorjahren auch im Jahr 2017 ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern) mit den höchsten Verordnungsraten im Saarland (Abb. 3). Die Variabilität zwischen den Bundesländern (Variationskoeffizient [VK] 8,2 % für die Tagesdosen je GKV-Versicherten) liegt seit Jahren in ähnlicher Größenordnung. Dahinter scheint keine generelle Affinität zur Arzneimittelverordnung zu stehen, denn die Verordnung aller Arzneimittel je Versicherten (VK = 13,9 %) zeigt eher ein Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle (Abb. 4), das mit dem Anteil der über 64-Jährigen zusammenzuhängen scheint. Dies gilt ähnlich für die Parkinsonmittel (Abb. 5; VK = 18,4 %). Auch die Variabilität der Antiepileptika (Abb. 6; VK = 14,2 %) ähnelt der Altersverteilung, wobei sich hier ein kausaler Zusammenhang nicht ohne Weiteres aufdrängt.

Abb. 3. Verordnungen von Psychopharmaka (DDD je GKV-Versicherten) 12/2017 [GAmSi]

Abb. 4. Verordnungen aller Pharmaka (DDD je GKV-Versicherten) 2017 [GAmSi]]

Abb. 5. Verordnungen von Antiparkinsonmitteln (DDD je GKV-Versicherten) 2017 [GAmSi]

Abb. 6. Verordnungen von Antiepileptika (DDD je GKV-Versicherten) 12/2017 [GAmSi]

Interessenkonflikterklärung

J. Fritze erhielt in den letzten fünf Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Janssen, Lilly, Lundbeck, Nestlé, Novartis, Pfizer, Roche, Sanvartis, Teva, St. Jude Medical, Sanvartis, Verband der privaten Krankenversicherung e. V.

Literatur

1. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Daten und Kritik zum Arzneiverordnungsreport 2014. Psychopharmakotherapie 2015;22:250–2.

2. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2013. Psychopharmakotherapie 2014;21:153–66.

3. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Neuroleptika und Lithium: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2018;25:58–68.

4. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Antikonvulsiva: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2018;25:177–94.

5. Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2018. Berlin – Heidelberg: Springer-Verlag, 2018.


Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Prescribing patterns of psychotropic and neurotropic drugs in Germany

Methodological concerns question the justification to base pharmacoepidemiological analyses on the Drug Prescription Report 2018 at least for antidementia drugs. The medical rational of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany is unclear and requires in depth analyses of the raw data which are not available to the public.

Key words: psychotropic drugs, antidementive drugs, anticonvulsants, anti-Parkinson drugs, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2019; 26(01):39-41