Ocrelizumab in der Therapie der multiplen Sklerose


Aktuelle Daten und Stand der Anwendung

Ralf A. Linker, Erlangen

Zellen der B-Zell-Reihe spielen eine zentrale Rolle in der Pathogenese der multiplen Sklerose (MS). Unter anderem aktivieren B-Zellen proinflammatorische T-Zellen und sezernieren proinflammatorische Zytokine während Plasmazellen Myelin-spezifische Auto-Antikörper produzieren können. Diese Erkenntnisse führten in den letzten Jahren zu einer wachsenden Bedeutung B-Zell-depletierender Antikörper bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen, einschließlich der MS. Erste Studien mit Rituximab, einem chimären monoklonalen Antikörper gegen das CD20-Antigen, zeigten eine Wirksamkeit in Investigator-getriebenen US-amerikanischen Studien, was zur weiteren Testung von Ocrelizumab als humanisiertem Anti-CD20-Antikörper in Phase-II- und Phase-III-Studien bei der MS mit Schüben (RMS) und auch der primär chronisch progredienten MS (PPMS) führte. In zwei Phase-III-Studien bei RMS, OPERA I und OPERA II, wurde die Wirksamkeit von Ocrelizumab mit Interferon beta-1a 3-mal/Woche subkutan verglichen. Die Ergebnisse zeigen einen konsistenten Effekt auf die Schubratenreduktion (46 % in OPERA I und 47 % in OPERA II) und eine Abnahme Gadolinium-(Gd-)aufnehmender Läsionen in der Kernspintomographie (94 % in OPERA I und 95 % in OPERA II). Darüber hinaus ist Ocrelizumab das erste Immuntherapeutikum in der Therapie der MS, das auch einen statistisch signifikanten, positiven Effekt auf die Behinderungsprogression bei der PPMS zeigte. Die Phase-III-Studie ORATORIO ergab bei PPMS-Patienten eine signifikante Abnahme der nach 12 Wochen bestätigten Behinderungsprogression (32,9 % versus 39,3 %). Aufgrund der Datenlage wurde Ocrelizumab (Ocrevus®) im März 2017 von der US Food and Drug Administration (FDA) und im November 2017 von der Europäischen Kommission zur Behandlung der MS mit Schüben und der primär chronisch progredienten Verlaufsform zugelassen und steht seit Januar 2018 auch in Deutschland zur Verfügung.
Schlüsselwörter: Anti-CD20-Antikörper, B-Zell-gerichtete Therapie, Ocrelizumab, primär progrediente multiple Sklerose, schubförmige multiple Sklerose
Psychopharmakotherapie 2018;25:234–9.

Basierend auf vielen experimentellen Erkenntnissen wird die multiple Sklerose (MS) traditionell als T-Zell-vermittelte Autoimmunerkrankung angesehen. Über die letzten Jahre mehren sich aber die Hinweise, dass auch Zellen der B-Zell-Reihe eine wichtige Rolle in der Pathophysiologie der MS spielen [4]. Parallel zu diesem verbesserten Verständnis der Erkrankungsentstehung erfolgte die Entwicklung B-Zell-gerichteter Antikörper als neue Behandlungsoption sowohl für schubförmige als auch für chronisch progrediente MS-Verläufe. Einige diese Präparate durchlaufen nun Phase-II/III-Studien bzw. haben diese abgeschlossen. Eine der getesteten Substanzen ist Ocrelizumab, das eine Wirksamkeit auf klinische und auch kernspintomographische (MRT-)Parameter sowohl bei der MS mit Schüben (RMS) als auch der primär chronisch progredienten MS (PP-MS) gezeigt hat. Zwischenzeitlich wurde Ocrelizumab sowohl von der US Food and Drug Administration (FDA) als auch von der Europäischen Kommission zur Therapie der MS zugelassen.

In diesem Übersichtsartikel werden die Rolle der B-Zellen in der Pathophysiologie der MS und darauf aufbauende Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus von Ocrelizumab zusammengefasst. Darüber hinaus werden die Daten zur Wirksamkeit und zum Nebenwirkungsprofil aus den kürzlich abgeschlossenen Phase-III-Studien dargestellt und die mögliche Rolle im Behandlungsschema für die MS mit Schüben und auch chronisch progrediente MS-Formen diskutiert.

Die B-Zelle in der MS-Pathophysiologie

B-Zellen können als sogenannte Antigen-präsentierende Zellen fungieren und T-Zellen aktivieren. Gleichzeitig produzieren B-Zellen proinflammatorische Zytokine wie Interleukin 6 (IL-6), und Tumornekrosefaktor, aber auch antiinflammatorische Zytokine wie IL-10, die Immunprozesse regulieren können [14, 21]. Schließlich reifen aus Zellen der B-Zell-Reihe auch Plasmazellen, die Antikörper produzieren.

Aus diesen Erkenntnissen kann gemäß der aktuellen Datenlage der Schluss gezogen werden, dass Zellen der B-Zell-Reihe über verschiedene Mechanismen die MS-Pathogenese beeinflussen können. Tatsächlich spielt die Detektion von isolierten oligoklonalen Banden (OKB) im Liquor als lokales Plasmazell-Produkt bei über 95 % der MS-Patienten eine wichtige diagnostische Rolle und es wurde gezeigt, dass positive isolierte OKB im Liquor das Risiko für einen zweiten Schub nach einem ersten entmarkenden Ereignis erhöhen [13, 24]. Neuropathologische Studien haben nachgewiesen, dass sich Antikörper- bzw. Komplementablagerung als indirekter Hinweis für Antikörperaktivität in MS-Läsionen finden lassen, ebenso wie B-Zell-Subpopulationen [23]. Mit Voranschreiten der Erkrankung in die chronisch progrediente Phase kommt es zu einer Kompartimentalisierung der Entzündungsreaktion im zentralen Nervensystem. In diesem Rahmen wurden meningeale B-Zell-Ansammlungen in Assoziation mit subpialen kortikalen Läsionen als gehäuft bei Patienten mit sekundär chronisch-progredienter MS (SP-MS) beschrieben [15, 20]. Diese Erkenntnisse mögen erklären, warum MS-Therapien, die primär auf die Aktivierung und die Wanderung von T-Zellen wirken, in der chronischen Erkrankungsphase eine viel geringere bzw. keine signifikante Wirksamkeit mehr zeigen. Umgekehrt zeigen viele der bisher zugelassenen Immuntherapeutika für die MS auch eine Wirkung auf B-Zellen. In jedem Fall haben diese Erkenntnisse zu klinischen Studien mit B-Zell-spezifisch wirkenden Substanzen bei der MS geführt, wobei unterschiedliche Strategien durchaus unterschiedliche Ergebnisse erbracht haben [5].

Der chimäre monoklonale Antikörper Rituximab war die erste Anti-CD20-Therapie, die eine Wirksamkeit bei der schubförmigen MS (RRMS) gezeigt hat. Ocrelizumab als humanisierter Anti-CD20-Antikörper erbrachte dann als erste Anti-CD20-Therapie sowohl positive Effekte bei RMS als auch PPMS. Aktuell werden zwei weitere, neue Anti-CD20-Antikörper in Studien getestet: Ofatumumab ist ein komplett humaner Antikörper mit laufenden Phase-III-Studien bei RMS-Patienten im Vergleich zu Teriflunomid (ASCLEPIOS I und II, ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02792218). Ublituximab ist ein neuer, „glycoengineerter“ chimärer Antikörper gegen humanes CD20, der ebenso in einer Phase-III-Studie bei RRMS-Patienten im Vergleich zu Teriflunomid getestet wird (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03277261).

Im Folgenden wird auf Ocrelizumab als neue Behandlungsoption für die MS fokussiert und es werden Daten zum Wirkungsmechanismus, der Wirksamkeit und dem Nebenwirkungsprofil dargestellt.

Wirkungsmechanismus von Ocrelizumab

Beim CD20-Molekül handelt es sich um ein Transmembranprotein mit einer bis heute unvollständig verstandenen Funktion. Es wird auf den meisten Zellen der B-Zell-Linie exprimiert, aber nicht auf Stammzellen, Pro-B-Zellen und auch nicht auf final differenzierten Plasmazellen [22]. Auch eine kleine Subgruppe von T-Zellen exprimiert CD20 auf ihrer Oberfläche [10, 19].

Ocrelizumab ist ein Anti-CD20-Antikörper, der zirkulierende unreife und reife B-Zellen depletiert, aber CD20-negative Plasmazellen ausspart. Hinsichtlich der Effektormechanismen spielen Komplement-abhängige Zytotoxizität und Antikörper-abhängige zelluläre Zytotoxizität eine Rolle [16]. Die B-Zellzahl nach anti-CD20-vermittelter Depletion lässt sich durch die Analyse von CD19 als unabhängigem B-Zell-Antigen messen. In den beiden Phase-III-Studien führte die Therapie mit Ocrelizumab nach den ersten beiden Wochen zu einer kompletten Reduktion der CD19-positiven B-Zellen im Blut [6]. In der durchgeführten Phase-II-Studie bei RRMS betrug die mediane Zeit bis zur Rückkehr der B-Zellen 72 Wochen nach der letzten Ocrelizumab-Infusion [11]. Im Vergleich zu Rituximab vermittelt Ocrelizumab in vitro seinen B-Zell-depletierenden Effekt eher über Antikörper-abhängige, zellulär vermittelte Zytotoxizität und weniger über Komplement-abhängige zytotoxische Effekte [12]. Als komplett humanisiertes Molekül wird von Ocrelizumab erwartet, dass es nach mehrfacher Gabe weniger immunogen wirkt als Rituximab und somit ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweist.

Wirksamkeit von Ocrelizumab bei der MS mit Schüben

Nachdem mehrere kleine Phase-II-Studien bezüglich der Wirksamkeit des Anti-CD20-Antikörpers Rituximab ermutigende Effekte bei RRMS-Patienten erbracht hatten [7, 18], wurden erste Studien mit Ocrelizumab auf den Weg gebracht.

Ocrelizumab wurde zunächst bei RRMS-Patienten in einer Phase-II-Studie getestet [12]. In dieser Placebo-kontrollierten Studie wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von zwei Dosen Ocrelizumab (600 mg und 2000 mg) untersucht. Der primäre Studienendpunkt war die Wirksamkeit von Ocrelizumab gegenüber Placebo auf die Anzahl Gadolinium-(Gd-)aufnehmender T1-Läsionen in MRT-Untersuchungen zu den Wochen 12, 16, 20 und 24. In einem offenen Behandlungsansatz wurde Ocrelizumab auch mit der einmal wöchentlichen Gabe von Interferon beta-1a intramuskulär verglichen. Insgesamt 220 Patienten beendeten die 24-wöchige Kernstudienphase. In beiden Ocrelizumab-Gruppen zeigte sich zu den Zeitpunkten nach 12, 16, 20 und 24 Wochen ein hochsignifikanter Effekt auf die Gesamtzahl Gd-aufnehmender T1-Läsionen gegenüber Placebo (p < 0,0001). Insgesamt betrug die relative Reduktion gegenüber Placebo 89 % in der Ocrelizumab-600-mg-Gruppe und 96 % in der 2000-mg-Gruppe. Als sekundäres Studienziel wurde auch die annualisierte Schubrate über 24 Wochen gegenüber Placebo um 80 % in der Ocrelizumab-600-mg-Gruppe und 73 % in der 2000-mg-Gruppe reduziert.

Die Wirksamkeit von Ocrelizumab bei der RRMS wurde in zwei Phase-III-Studien bestätigt. OPERA I und II sind zwei identisch geplante, multizentrische, randomisierte, doppelblinde Doppel-Dummy-Phase-III-Studien. In OPERA I und II wurden insgesamt 1656 RMS-Patienten eingeschlossen. Die Studienteilnehmer erhielten in einer 1 : 1-Randomisierung entweder 600 mg Ocrelizumab als intravenöse Infusion alle 24 Wochen oder 44 μg Interferon beta-1a als subkutane Injektion dreimal wöchentlich über die Behandlungsdauer von 96 Wochen [6]. Der primäre Studienendpunkt war die annualisierte Schubrate nach 96 Wochen. Diese zeigte eine signifikant größere Reduktion unter Ocrelizumab (OPERA I: –46 %; OPERA II: –47 %) im Vergleich zur Behandlung mit Interferon beta-1a (jeweils p < 0,0001).

Beide Studien erbrachten auch eine signifikante, 40%ige Reduktion der Behinderungsprogression, bestätigt sowohl nach 12 Wochen als auch nach 24 Wochen, sowie in der Analyse der MRT-Daten eine signifikante Reduktion der Anzahl Kontrastmittel-aufnehmender, Gd-positiver T1-Läsionen (OPERA I: –94 %; OPERA II: –95 %) und eine Abnahme der Anzahl der neuen/sich vergrößernden hyperintensen T2-Läsionen (OPERA I: –77 %; OPERA II: –83 %).

Der Prozentsatz der Patienten, die das Therapieziel der Freiheit von Krankheitsaktivität („no evidence of disease activity“, NEDA-3) erreichten, erhöhte sich in OPERA I von 29,2 % in der Interferon-beta-1a-Gruppe auf 47,9 % in der Ocrelizumab-Gruppe und in OPERA II von 25,1 % auf 47,5 %. Allerdings konnten diese positiven Zahlenwerte aufgrund des vordefinierten hierarchischen Analyseplans keine bestätigende Signifikanz mehr erreichen.

In Deutschland ist Oreclizumab zur Therapie der aktiven MS mit Schüben zugelassen, dies schließt neben der klassischen RRMS auch die SP-MS mit überlagernden Schüben ein. Die Substanz wird aktuell überwiegend als Zweitlinientherapie bei Patienten mit Erkrankungsaktivität (klinisch oder MRT) unter Immuntherapie oder initial bei Patienten mit hochaktiven Verläufen eingesetzt.

Wirksamkeit von Ocrelizumab bei der primär chronisch progredienten MS

Die OLYMPUS-Studie untersuchte als erste Phase-II/III-Studie mit Rituximab einen monoklonalen Anti-CD20-Antikörper bei Patienten mit PPMS, verfehlte aber ihren primären Endpunkt [8]. Allerdings zeigte eine Subgruppenanalyse einen Effekt auf die Behinderungsprogression bei jüngeren Patienten mit radiologischen Zeichen für Erkrankungsaktivität bei Studienbeginn.

In der Folge wurde die ORATORIO-Studie konzipiert, eine Phase-III-Studie mit 732 PP-MS-Patienten, die in einer 2 : 1-Randomisierung alle 24 Wochen entweder 600 mg Ocrelizumab oder Placebo für wenigstens 120 Wochen erhielten [17]. Einschlusskriterium war der Nachweis positiver OKB im Liquor. Darüber hinaus zeigten 27 % der Patienten bei Studieneinschluss Gd-aufnehmende Läsionen in der cMRT.

Der Anteil der Patienten mit gesicherter Behinderungsprogression nach 12 Wochen als primärem Studienendpunkt war bei Patienten unter Behandlung mit Ocrelizumab signifikant geringer als unter Placebo (32,9 % versus 39,3 %; relative Risikoreduktion 24 %; p = 0,03). Der Anteil der Patienten mit gesicherter Behinderungsprogression nach 24 Wochen war unter Ocrelizumab in ähnlicher Weise signifikant reduziert (29,6 % versus 35,7 %; relative Risikoreduktion 25 %; p = 0,04).

Hinsichtlich weiterer Endpunkte zeigte sich nach 120 Wochen der Anteil der Patienten mit einer Verschlechterung der 7,6-Meter-Gehstrecke auf Zeit unter Ocrelizumab geringer als unter Placebo (38,9 % versus 55,1 %; relative Risikoreduktion 29,3 %; p = 0,04). Die Analyse der Lebensqualität in der Auswertung des Short Form (SF-36) Health Survey Physical Component Summary ergab allerdings keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen (–0,7 unter Ocrelizumab versus –1,1 unter Placebo; p = 0,60).

In der Auswertung kernspintomographischer Endpunkte zeigte sich das totale T2-Läsionsvolumen unter Ocrelizumab um 3,4 % reduziert, während der Betrag unter Placebo um 7,4 % anstieg (p < 0,001). Die adjustierte mittlere Anzahl neuer oder sich vergrößernder T2-hyperintenser Läsionen von Baseline bis zur Woche 120 war unter Ocrelizumab ebenfalls geringer als unter Placebo (exploratorischer Endpunkt 0,31 versus 3,88; p < 0,001).Darüber hinaus war der prozentuale Hirnvolumenverlust unter Ocrelizumab signifikant geringer ausgeprägt als unter Placebo (–0,9 % versus –1,09 %; p = 0,02).

Durch den höheren Anteil von Patienten mit Kontrastmittel-(KM-)Aufnahme bei Baseline und dem verpflichtenden Nachweis von OKB im Liquor reicherte die ORATORIO-Studie eine aktivere PP-MS-Population an. In diesem Kollektiv war Ocrelizumab in der Gesamtpopulation wirksam und unabhängig von der MRT-Aktivität bei Studieneinschluss. In den Subgruppenanalysen fehlte die statistische Power, um eventuelle Unterschiede zwischen Subgruppen mit vermehrter oder geringerer entzündlicher Aktivität sicher zu erkennen.

In Deutschland besteht eine Zulassung für Ocrelizumab für frühe Phasen einer PP-MS, wobei sich die Definition für eine „frühe Erkrankungsphase“ gemäß Fachinformation an den Einschlusskriterien der Studie orientiert (Alter < 55 Jahre, EDSS < 7,0; Erkrankungsdauer < 15 Jahre). Im Alltag wird es sinnvoll sein, sorgfältig nach Aktivitätszeichen der MS zu fahnden (KM-Aufnahme in rezenter MRT, überlagernde Schübe, rasche EDSS-Verschlechterung), um zusammen mit dem Patienten eine ausgewogene Risiko-Nutzen-Abwägung durchzuführen.

Nebenwirkungsprofil von Ocrelizumab

Die Daten zum Nebenwirkungsprofil entstammen einer gepoolten Sicherheitsanalyse aus den OPERA-I- und -II-Studien (825 Patienten) und der ORATORIO-Studie (486 Patienten). Nachfolgend werden aus dieser Zusammenstellung die relevantesten Nebenwirkungen beschrieben.

Infusionsreaktionen

Infusionsreaktionen waren unter Ocrelizumab häufiger als in den Kontrollgruppen (34 % versus 10 % unter Interferon beta-1 in OPERA I und II; 40 % versus 26 % unter Placebo in ORATORIO). Die meisten Infusionsreaktionen unter Ocrelizumab waren mild oder moderat in der Ausprägung, wurden unter der ersten Infusion berichtet und ließen sich durch Anpassung der Infusionsrate bzw. symptomatischen Therapie gut managen. Nur zwei mit Ocrelizumab behandelte Patienten aus der ORATORIO-Studie brachen die Therapie wegen Infusionsreaktionen ab. Zur Kupierung eventueller Infusionsreaktionen erhielten alle Patienten in den OPERA- und ORATORIO-Studien vorab 100 mg Methylprednisolon intravenös. Darüber hinaus war eine Prophylaxe mit einem Antihistaminikum und einem Antipyretikum empfohlen (in der Praxis z. B. mit 4 mg Clemastin und 1000 mg Paracetamol i. v. möglich). Generell neigen aus der Erfahrung der Anwendung im Alltag ältere (und multimorbide) Patienten eher zu Infusionsreaktionen. Patienten, die mit einem sedierenden Antihistaminikum behandelt werden, sollten über die mangelnde Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr am Infusionstag aufgeklärt werden.

Infekte

Die Inzidenz oberer Atemwegsinfekte (v. a. Nasopharyngitiden) war unter Ocrelizumab erhöht (40 % versus 33 % unter Interferon beta-1a in OPERA I und II; 49 % versus 43 % unter Placebo in ORATORIO). Der Anteil der Patienten, die irgendeinen Infekt berichteten, betrug 59,9 % versus 54,3 % unter Interferon beta-1a in OPERA I, 60,2 % versus 52,5 % unter Interferon beta-1a in OPERA II und 71,4 % versus 69,9 % unter Placebo in ORATORIO. Bemerkenswerterweise war die Gabe von Ocrelizumab nicht mit einer erhöhten Rate schwerer Infekte assoziiert (1,3 % unter Ocrelizumab versus 2,9 % unter Interferon beta-1a in OPERA I und II bzw. 6,2 % versus 5,9 % in ORATORIO). In OPERA I und II betrug der Anteil von Patienten mit Herpesvirus-assoziierten Infekten 5,9 % unter Ocrelizumab und 3,4 % unter Interferon beta-1. In der ORATORIO-Studie waren Herpesvirus-Infekte und oraler Herpes unter Ocrelizumab häufiger als unter Placebo (4,7 % mit Ocrelizumab versus 3,3 % mit Placebo bzw. 2,3 % versus 0,4 %). Alle Fälle waren mild bis moderat in der Ausprägung. In keiner der Studien gab es eine opportunistische Infektion während der Kernstudienphase.

Eine gefürchtete Nebenwirkung vieler effektiver MS-Immuntherapien ist die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), wie insbesondere unter Natalizumab beschrieben. Unter monoklonalen Anti-CD20-Antikörpern wurde bisher eine Assoziation mit der PML für die Anwendung von Rituximab bei rheumatischen und lymphoproliferativen Erkrankungen berichtet [1]. Bei diesen Erkrankungen können allerdings andere Co-Therapien oder auch eine durch die Erkrankung selbst bedingte Immunsuppression zum Risiko für eine PML beitragen. Bisher wurden in der Off-Label-Anwendung von Rituximab bei der MS kein PML-Fall veröffentlicht. Auch in den Zulassungsstudien mit Ocrelizumab wurden keine PML-Fälle berichtet. Zwei Monate nach der Zulassung von Ocrelizumab durch die FDA wurde allerdings ein PML-Fall beschrieben, der die erste Ocrelizumab-Dosis im April 2017 erhielt und einen Monat später mit einer PML diagnostiziert wurde. Der Patient wurde vorab für drei Jahre mit Natalizumab behandelt und war JC-Virus-Antikörper-positiv. Er erhielt die letzte Natalizumab-Infusion im Februar 2017. Während derartige Berichte zu maximaler Vigilanz im Umgang mit neuen Substanzen mahnen, wird der Fall am ehesten als bereits unter Natalizumab entstanden diskutiert (sog. „Carry-over“-PML; [9]). Zwischenzeitlich wurden insgesamt fünf PML-Fälle unter Ocrelizumab berichtet, davon vier nach Vortherapie mit Natalizumab und einer nach Vortherapie mit Fingolimod (Stand Juli 2018). Bei allen Fällen wird aktuell von einer „Carry-over“-Situation ausgegangen. Diese Fälle zeigen die Wichtigkeit einer aktuellen cMRT mit kompetenter Befundung durch einen Experten vor einem Therapiewechsel auf Ocrelizumab, vor allem bei Patienten mit neuen klinischen Beschwerden. Gegebenenfalls ist in dieser Situation auch die niederschwellige Liquoranalyse mit PCR für JCV-DNA vor Behandlungsbeginn mit Ocrelizumab sinnvoll.

Neubildungen

In der Phase-II-Studie und ihrer Verlängerung wurde keine erhöhte Inzidenz für Neoplasien unter Ocrelizumab berichtet [8, 12]. In den Phase-III-Studien besteht allerdings ein Ungleichgewicht für Tumorfälle in den mit Ocrelizumab behandelten Gruppen gegenüber Interferon beta-1a und Placebo. In OPERA I und II entwickelten vier Patienten Neoplasien (0,7 %) gegenüber zwei Patienten unter Interferon beta-1a (0,2 %), davon zwei mit invasiv-duktalem Mammakarzinom, dem häufigsten Brustkrebs der Frau. In der ORATORIO-Studie fanden sich elf Neoplasien unter Ocrelizumab (2,3 %, davon vier mit Mammakarzinom) gegenüber zwei Patienten in der Placebo-Gruppe (0,8 %). Auch wenn dieses Ungleichgewicht keiner statistischen Signifikanz entspricht und noch innerhalb der epidemiologisch zu erwartenden Malignom-Raten und insbesondere auch Brustkrebs-Raten in MS-Registern liegt, erfordern derartige Signale eine vermehrte Wachsamkeit bezüglich eines möglichen Krebsrisikos. Die sichere Einschätzung eines eventuellen Risikos wird die Beobachtung größerer Kohorten über längere Zeiträume erfordern, was die Wichtigkeit großer Immuntherapieregister zum Monitoring neuer Therapien belegt.

Kinderwunsch, Schwangerschaft und Stillzeit

Ocrelizumab ist ein humanisierter monoklonaler IgG1-Antikörper und wird als solcher über die Plazentaschranke transportiert. Tierexperimentelle Studien haben keine teratogenen Wirkungen gezeigt, es wurde jedoch eine Reproduktionstoxizität beobachtet. Zu Studien bei schwangeren Frauen liegen keine ausreichenden Daten vor. Bei Säuglingen, die von Müttern geboren wurden, die andere Anti-CD20-Antikörper während der Schwangerschaft erhalten hatten, wurden eine vorübergehende periphere B-Zell-Verminderung und eine Lymphopenie beschrieben. Ocrelizumab sollte daher während einer Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, der mögliche Nutzen für die Mutter überwiegt gegenüber dem möglichen Risiko für den Fötus. Frauen im gebärfähigen Alter sollten während der Ocrelizumab-Behandlung und bis 12 Monate nach der letzten Ocrelizumab-Infusion eine zuverlässige Empfängnisverhütung anwenden. Bei intrauterin exponierten Neugeborenen, deren B-Zell-Zahlen nicht im Normalbereich liegen, sollte das Aufschieben von Impfungen mit Lebendimpfstoffen bzw. attenuierten Lebendimpfstoffen erwogen werden.

Frauen sollten während der Ocrelizumab Therapie nicht stillen, da das menschliche IgG in die Muttermilch ausgeschieden wird und nicht bekannt ist, wie hoch das Potenzial für eine Verminderung der B-Zellen bei einer oralen Ocrelizumab-Aufnahme durch das Kind ist. In Studien an Tieren wurde die Ausscheidung von Ocrelizumab in die Muttermilch nachgewiesen.

Zusammenfassung und Ausblick

In den letzten Jahren hat sich das therapeutische Arsenal zur Behandlung der MS erfreulich erweitert. Dennoch besteht immer noch Bedarf an effektiven, einfachen und sicheren Behandlungsoptionen. Insbesondere die Behandlung der Erkrankungsprogression bei chronischen Verläufen bleibt eine Herausforderung. Die Daten aus den Zulassungsstudien für Ocrelizumab zeigen eine umfassende Wirksamkeit der Substanz für die RMS und PPMS. Aufgrund der Datenlage wurde Ocrelizumab (Ocrevus®) im März 2017 von der US Food and Drug Administration (FDA) und im November 2017 von der Europäischen Kommission zur Behandlung der MS mit Schüben und der primär chronisch progredienten Verlaufsform zugelassen und steht seit Januar 2018 auch in Deutschland zur Verfügung [2, 3]. Im Alltag wird die Substanz als Erstlinientherapie bei hoch aktiver MS und als Zweitlinientherapie bei Patienten mit aktiver MS unter Immuntherapie eingesetzt. Bei Patienten mit PP-MS ist möglicherweise ein besserer Behandlungseffekt bei frühen Patienten mit entzündlicher Restaktivität zu erwarten, wobei eindeutige Daten hierzu aber fehlen.

Hinsichtlich weiterer Studien laufen momentan noch die Extensionsphasen der für die Zulassung relevanten Phase-III-Studien OPERA I/II und ORATORIO. In weiteren Studien wird Ocrelizumab bei Patienten mit früher RRMS (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03085810) und bei Patienten mit RMS und suboptimalem Ansprechen auf eine adäquat lang angewendete Immuntherapie (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02861014) untersucht. Eine weitere Phase-IIIb-Biomarker-Studie wurde aufgesetzt, um die Wirkungsmechanismen von Ocrelizumab und auch die B-Zell-Biologie bei Patienten mit RMS oder PPMS besser zu verstehen (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02688985). Zwei weitere Studien werden die Wirksamkeit und Sicherheit nach Switch von Rituximab (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT02980042) bzw. Natalizumab (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03157830) auf Ocrelizumab untersuchen.

Zusammengefasst stellen Anti-CD20-Antikörper eine einfache, sehr effektive und moderne Behandlungsstrategie für die MS dar. Weitere Erfahrungen hinsichtlich des Langzeitsicherheitsprofils sind notwendig, um die Bedeutung dieser Therapieform für die MS abschließend beurteilen zu können.

Interessenkonflikterklärung

RAL erhielt Kompensation für Aktivitäten mit Almirall, Bayer, Biogen, Genzyme, Merck, Novartis, Roche, TEVA sowie Forschungsunterstützung von Biogen.

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Priv.-Doz. Dr. Ralf Linker, Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen, E-Mail: ralf.linker@uk-erlangen.de

Ocrelizumab for the treatment of multiple sclerosis

Immune cells of the B cell lineage play a pivotal role in the pathogenesis of multiple sclerosis (MS). Among others, B cells may induce pathogenic T cell responses and produce proinflammatory cytokines while plasma cells may produce myelin specific auto-antibodies. These insights on effects of B cells led to the development of B cell depleting antibodies for a variety of autoimmune diseases including MS. First investigator initiated trials in the United States with rituximab as chimeric monoclonal antibody directed against the CD20 antigen served as proof of principle for efficacy in different forms of MS. This led to phase II and phase III trials with ocrelizumab as humanized anti-CD20 antibody in relapsing forms of MS (RMS) and in primary progressive MS (PPMS). In two clinicals trials in RMS, OPERA I and OPERA II, infusions of ocrelizumab were compared to subcutaneous interferon beta-1a injections three times weekly. Ocrelizumab led to consistent effects on the reduction of relapse rates (46 % in OPERA I and 47 % in OPERA II) and the reduction of Gadolinium-(Gd-)enhancing lesions in cranial magnetic resonance imaging studies (94 % in OPERA I and 95 % in OPERA II). Ocrelizumab is also the first immunotherapy in MS with a statistically significant effect on the progression of disability in PPMS. The phase III trial ORATORIO shoed a significant reduction of disability progression confirmed after 12weeks (32,9 % versus 39,3 %). Based on these data, ocrelizumab received a positive opinion from the US Food and Drug Administration (FDA) in March 2017 and from the European Medicines Agency (EMA) in November 2017. Since January 2018, the compound is available for the treatment of RMS and PPMS in Germany .

Key words: anti-CD20-antibody, B-cell targeted therapy, ocrelizumab, primary progressive multiple sclerosis, relapsing-remitting multiple sclerosis

Psychopharmakotherapie 2018; 25(05):234-239